Uns geht's ums Ganze – der Podcast der grünen Bundestagsfraktion

In dieser Folge sprechen wir mit Lisa Paus und Julia Verlinden über die geplanten Entlastungsmaßnahmen zur Abfederung der hohen Energiepreise, Energieeffizienzmaßnahmen und Energiesicherheit. Die beiden stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden machen klar, es geht jetzt kurzfrstig darum, die Bürger*innen zu unterstützen und langfristig mit erneuerbaren Energien und Energieeffizienz unabhängig von Fossilen zu werden.
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Transkript des Podcasts
Julia Verlinden: Es geht auf der einen Seite natürlich ganz kurzfristig darum, den Menschen dabei zu helfen, dass die Preise steigen und sie damit in finanzielle Schwierigkeiten kommen könnten. Das wollen wir damit verhindern, indem der Staat jetzt hier entlastet und unterstützt. Aber dass wir natürlich mittel- und langfristig alles dafür tun müssen, dass wir diese fossilen Rohstoffe gar nicht mehr in der Menge überhaupt benötigen.
Lisa Paus: Mit diesem Entlastungspaket ist tatsächlich in das Thema Energieeffizienz noch mal richtig Dynamik gekommen. Das wird natürlich jetzt auch breit in der Bevölkerung noch mal zu Diskussionen führen. Ich zum Beispiel wohne ja in einer Wohnung mit Gasetagenheizung in Berlin. Natürlich haben jetzt auch meine Nachbarn wahrgenommen, dass beschlossen wurde, dass künftig für alle Heizungen, wenn sie ausgetauscht werden, ab 2024 gilt: Die müssen mindestens 65 Prozent erneuerbar sein. Dann ist klar, wir können nicht einfach die Heizung austauschen, sondern wir brauchen insgesamt ein neues Heizkonzept. Ich bin Lisa Paus, ich bin die stellvertretende Fraktionsvorsitzende für den Bereich Wirtschaft, Arbeit, Soziales, Haushalt und Finanzen.
Julia Verlinden: Ich bin Julia Verlinden. Ich bin die stellvertretende Fraktionsvorsitzende für alle Ökothemen. Dazu gehören Bauen und Verkehr, Umwelt, Naturschutz, Klima, Energie und natürlich Landwirtschaft.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
Tim Meyer: Ein herzliches Willkommen zu unserem Podcast. Uns geht's ums Ganze. Hallo Lisa.
Lisa Paus: Hallo Tim.
Tim Meyer: Hallo Julia.
Julia Verlinden: Hallo Tim.
Tim Meyer: Mein Name ist Tim Meyer. Ich bin Referent in der Öffentlichkeitsarbeit der grünen Bundestagsfraktion. Am 9. Februar 2022, also noch vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine, habe ich mit euch beiden in diesem Podcast über die steigenden Energiepreise und geplante Entlastungen gesprochen. Der Heizkostenzuschuss und die Abschaffung der EEG Umlage zum 1. Juli 2022 sind seitdem beschlossen bzw. auf den Weg gebracht. In der letzten Woche hat der Koalitionsausschuss der Ampelregierung nun weitere Maßnahmen zur Entlastung der Bürger*innen beschlossen, die kurzfristig und befristet die hohen Energiekosten abfedern sollen. Kurz zum Ablauf des Podcasts: Ich möchte am Anfang gerne über die neu beschlossenen Maßnahmen sprechen, und mit was wir darüber hinaus zu rechnen haben bzw. was von der Ampelregierung und innerhalb der grünen Bundestagsfraktion noch diskutiert wird. Anschließend möchte ich mit euch sprechen über Energiesicherheit, wie die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu beenden ist, und welche langfristigen Maßnahmen für sichere, bezahlbare und umweltfreundliche Energieversorgung die grüne Bundestagsfraktion in Angriff nimmt. Meine erste Frage geht an Lisa Paus. Lisa, durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich die Lage deutlich verschärft. Es ist noch klarer geworden, dass wir unsere Abhängigkeit von Fossilen beenden müssen. Kannst du kurz beschreiben, was in dem letzten Monat passiert ist, warum die Preise immer weiter steigen und was wohl noch in den nächsten Monaten zu erwarten ist?
Lisa Paus: Ja, der brutale Angriffskrieg hat einfach unfassbar viel verändert. Nicht umsonst redet der Bundeskanzler von der Zeitenwende. Angesichts der drastischen Abhängigkeit auch Deutschlands von russischem Öl, Gas und Kohle war klar, dass es hohe Unsicherheit gibt in den Märkten. Entsprechend hatten wir es mit drastischen Preisaufschlägen zu tun. Die große Unsicherheit ist erstmal normal, das ist ja einfach so. Beim Öl hat es zum Beispiel dann auch Hamsterkäufe von Heizöl gegeben. Das hat wiederum dann die Dieselölpreise zusätzlich negativ beeinflusst, also dass er nach oben gegangen ist. Und beim Gas war es ähnlich. Allerdings sind inzwischen die Ölpreise bei den Spotmärkten wieder runtergegangen. An der Zapfsäule ist das aber so nicht angekommen. Und beim Gas ist es sogar so, dass Russland zwischendurch mehr Gas geliefert hat. Und trotzdem sind die Gaspreise oben geblieben. Und deswegen ist es gut und richtig, dass Wirtschaftsminister Habeck jetzt auch mit dem Kartellamt zusammen schaut, inwieweit diese Preise noch marktgerecht sind. Oder inwieweit es da nicht auch einfach um Mitnahmegewinne für die entsprechenden Konzerne geht.
Tim Meyer: Hast du da was hinzuzufügen, Julia?
Julia Verlinden: Ich finde es wichtig, dass Lisa das betont hat, dass nicht automatisch die Weltmarktpreise für fossile Rohstoffe diejenigen sind, die dann auch für die Kundinnen und Kunden hier in Deutschland gelten. Sondern dass da noch sehr viel an Gewinnspanne dazwischen liegt. Und dass wir hier sehr genau hinschauen müssen, dass nicht am Ende diejenigen Kriegsgewinnler sind sozusagen, die jetzt an diesen fossilen Rohstoffen ganz besonders viel verdienen wollen.
Tim Meyer: Schauen wir uns jetzt mal kurz die beschlossenen Maßnahmen an und klären, ob und wann sie noch im Bundestag beraten werden und wie denn der weitere Zeitplan aussieht. Ich liste mal kurz die wichtigsten Punkte auf. Alle steuerpflichtigen Erwerbstätigen bekommen eine Energiepreispauschale von 300 Euro. Es soll einen Familienzuschuss von 100 Euro pro Kind geben. Wer Transferleistungen bezieht, erhält zu der bereits beschlossenen Einmalzahlung von 100 Euro weitere 100 Euro. Wir haben gerade über die Kraftstoffpreise gesprochen. Es soll eine Absenkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe für drei Monate geben. Und das Ticket neun für 90 Tage, also 9 Euro pro Monat ÖPNV fahren für 90 Tage lang. Das zeigt ja, wir haben hier befristete Maßnahmen. Erklärt doch mal bitte, welche Ideen hinter den einzelnen Maßnahmen stehen und wie der weitere Zeitplan aussieht.
Lisa Paus: Zwei Dinge sind wichtig. Wir müssen jetzt entlasten in dieser Krise, wo diese Preise so drastisch angestiegen sind. Und wir müssen das sozial gerecht tun. Das macht das gesamte Entlastungpaket. Und zweitens ist wichtig, dass in diesem Paket auch Energieeffizienzmaßnahmen enthalten sind. Das ist ganz, ganz wichtig, um die Unabhängigkeit von Russland jetzt deutlich zu beschleunigen, neben dem Ausbau der Erneuerbaren und der Diversifizierung der Stellen, wo wir es kaufen. Das sind die beiden wichtigen Maßnahmen. Und beim sozial gerecht muss man noch mal sagen: Die Energiepreispauschale, das geht jetzt kurzfristig. Die 300 Euro werden über die Lohnsteuer vom Arbeitgeber gezahlt. Für alle anderen kommt es dann später über die Einkommenssteuer. Und das ist für uns eben auch der Einstieg ins Klimageld. Das in der Tat braucht etwas Vorlauf. Dazu muss auch erstmal ein Register aufgebaut werden mit der Steuer-ID. Aber auch das ist mit diesem Paket auf den Weg gebracht, so dass wir endlich für das Thema Energiepreise ein adäquates Instrumentarium haben. Das war zwar bereits lose in der Koalitionsvereinbarung vereinbart. Aber nicht alle haben das gleich interpretiert. Deswegen ist das ein Riesenschritt, dass wir das jetzt geschafft haben.
Tim Meyer: Zum Klimageld habe ich gleich noch eine Frage. Aber kurz zu dem Zeitplan. Wie sieht das denn aus? Müssen die Maßnahmen jetzt alle noch mal im Bundestag debattiert bzw. gelesen werden und in ein Gesetz geschrieben werden? Oder wie geht das jetzt weiter?
Lisa Paus: Ja natürlich. Übrigens nicht nur im Bundestag. Gerade zum Beispiel die Energiepreispauschale braucht auch den Bundesrat. Das ganze Thema 9-Euro- Ticket braucht auch den Bundesrat. Deswegen wird es jetzt Verhandlungen geben zwischen der Bundesebene und den Ländern. Und das Ganze muss dann noch gesetzlich verarbeitet werden. Trotzdem arbeiten wir mit Hochdruck daran und wollen eben den Sommer erreichen, so dass es im Sommer dann auch tatsächlich wirksam wird.
Tim Meyer: Julia, dann erkläre doch du bitte noch mal, was das Klimageld ist und was da jetzt gerade vorbereitet wird. Das ist ja eine langfristige Maßnahme.
Julia Verlinden: Richtig. Wir haben uns im Koalitionsvertrag auf ein Klimageld verständigt, das wir perspektivisch im Laufe dieser Legislaturperiode einführen möchten. Weil uns wichtig war, dass hier nochmal deutlich gemacht wird, dass Teile der Einnahmen, die wir durch CO2-Preisabgaben in dem Haushalt haben, schon zum Teil über die Senkung der EEG-Umlage zurückgezahlt werden an die Menschen. Aber dass das, was darüber hinausgeht, über eine Pro-Kopf-Pauschale zurückerstattet wird. Das ist das sogenannte Klimageld. Das heißt, jeder Mensch in Deutschland kriegt dann dieselbe Summe jedes Jahr. Und das wird jetzt vorbereitet dahingehend, dass man sich letzte Woche darauf verständigt hat, dass der Auszahlungsweg über die sogenannte Steuer-ID geht. Jeder Mensch bekommt ja eine Steuer-ID-Nummer in Deutschland, egal ob er oder sie arbeiten geht oder nicht. Auf jeden Fall hat jeder Mensch so eine.
Lisa Paus: Mit der Geburt kommt das.
Julia Verlinden: Ja genau.
Lisa Paus: Das ist quasi der erste Brief, den man bekommt, wenn man ein Kind bekommen hat.
Julia Verlinden: Und deswegen ist das ein geeignetes Instrument, wie wir finden. Oder eine geeignete Maßnahme, hier darüber dann das Klimageld perspektivisch auszuzahlen. Und das muss jetzt entsprechend vorbereitet werden, damit die Maßnahme dann irgendwann auch zum Tragen kommen kann.
Tim Meyer: Seid ihr denn unterm Strich mit den Ergebnissen des Koalitionsausschusses zufrieden? Julia, wie siehst du das?
Julia Verlinden: Ich finde es super wichtig, dass es gelungen ist, diesen Dreiklang auch in das Papier festzuschreiben. Es geht auf der einen Seite natürlich ganz kurzfristig darum, den Menschen zu helfen dabei, dass die Preise steigen und sie damit in finanzielle Schwierigkeiten kommen könnten. Das wollen wir damit verhindern, dass der Staat jetzt hier entlastet und unterstützt. Aber dass wir natürlich mittel-und langfristig alles dafür tun müssen, dass wir diese fossilen Rohstoffe gar nicht mehr in der Menge überhaupt benötigen. Das heißt, dass wir Wohlstand bei uns im Land haben mit erneuerbaren Energien und energieeffizienter Technologie. Dass wir möglichst wenig Energie verbrauchen und die dann möglichst perspektivisch zu 100 Prozent erneuerbar ist. Dass wir dahin kommen, uns unabhängig zu machen von diesen hohen oder auch schwankenden fossilen Rohstoffen. Und vor allen Dingen, um uns unabhängig zu machen auch von russischen fossilen Importen. Dafür haben wir jetzt festgelegt, dass wir auch verschiedene Maßnahmen noch ergänzen. Zusätzlich zu denen, die sowieso in der Pipeline sind. Mit dem sogenannten Osterpaket, das noch aus dem Energie-und Klimaministerium kommt. Aber auch zusätzlich zu all den Dingen, die schon im Koalitionsvertrag letzten Herbst verabredet worden sind. Und das ist ganz wichtig, dass wir hier also auch Geld in die Hand nehmen und politische Rahmenbedingungen schaffen, damit wir möglichst viel Energie sparen können. Denn wenn ich jetzt jemand bin, der weiß, dass wir nur einen begrenzten Bundeshaushalt haben und wir natürlich auch jeden Euro nur einmal ausgeben können, dann ist es natürlich gut, wenn wir möglichst viel Geld investieren dahingehend, dass wir perspektivisch weniger Geld ausgeben müssen. Das heißt also, jeder Euro, der in eine effizientere Heizung, in ein klimaschonendes, also energiesparendes Gebäude investiert wird beispielsweise, oder in eine neue Technologie in einem Unternehmen, das am Ende mit nur noch halb so viel Energieverbrauch auskommt, ist ein sehr, sehr gut investierter Euro. Deswegen haben wir dieses Thema Energieeffizienz hier auch noch mal ganz, ganz stark gemacht.
Tim Meyer: Ich möchte jetzt noch einmal zu den Maßnahmen, die wir jetzt gerade besprochen haben, zurückkommen. Von den Sozialverbänden wurde kritisiert, dass nicht genug Unterstützung bei denen ankommt, die es am nötigsten haben bzw. dass auch die etwas bekommen, die es aufgrund ihres Einkommens eigentlich nicht brauchen. Lisa, was würdest du auf diesen Vorwurf entgegnen?
Lisa Paus: Ich finde, der trifft wirklich nicht zu. Wir haben uns bei diesem Paket noch stärker als beim ersten Paket wirklich darauf konzentriert, dass es ein sozial gerechtes Paket ist. Die Energiepreispauschale, die jetzt kommt, das sind diese 300 Euro. Da ist es ja so, dass gerade die unteren Einkommen am meisten davon profitieren, weil es eben angerechnet wird auf die Einkommenssteuer. Also die mit den hohen Einkommen bekommen eben am meisten abgezogen. Wir haben zusätzliche Beiträge für die Grundsicherungsempfänger. Das ist noch mal aufgestockt worden von 100 auf 200 Euro. Die Heizkostenpauschale bekommt ja auch nicht jeder. Das bekommen Wohngeldempfänger, das bekommen BAföG-Studierende und Azubis. Das ÖPNV Ticket für 9 Euro - okay, das bekommen tatsächlich auch alle. Aber da ist es ja auch einfach wichtig, das niederschwellig möglich zu machen. Aber dieses Paket ist wirklich ganz klar sozial gestaffelt. Und die, die es am meisten brauchen, bekommen am meisten. Klar, es gibt einen kleinen Wermutstropfen, die Absenkung der Energiesteuer. Das sind halt Preise, die man in einer Koalition zahlen muss. Aber das Gesamtpaket entlastet eindeutig die, die es am meisten brauchen, auch am meisten.
Tim Meyer: Du meinst jetzt die Energiesteuer auf Kraftstoffe?
Lisa Paus: Genau.
Tim Meyer: Wir haben schon über das Klimageld gesprochen, das ja langfristig diejenigen belohnen soll, die Energie einsparen. Und was steht darüber hinaus auf der To-Do-Liste?
Julia Verlinden: Genau. Was außerdem noch auf der To-Do-Liste steht, ist, dass wir uns schon im Koalitionsvertrag verabredet haben, dass der CO2-Preis, der ja von der letzten Bundesregierung eingeführt worden ist auf Wärme und Treibstoffe, im Gebäudesektor gerechter verteilt wird. Es ist ja bisher so gewesen, dass seit der letzten Bundesregierung die Mieterinnen und Mieter diesen CO2-Preis alleine zahlen. Obwohl sie ja wenig Möglichkeiten haben, Investitionen zu tätigen, die dazu führen, dass der Energieverbrauch gesenkt wird in dem Gebäude, in dem sie leben. Und da sitzt das Ministerium, beziehungsweise beide Ministerien - das Bau- und das Klimaministerium - gerade zusammen dran, um diesen CO2-Preis gerechter zwischen Mietern und Vermietern zu verteilen. Und das wird auch noch mal ein wichtiger Bestandteil der sozial gerechten Klimapolitik sein. Weil diese Änderung auch in diesem Jahr noch in Kraft treten soll.
Tim Meyer: Hast du noch eine Maßnahme auf deiner To-Do-Liste, Lisa, die du gerne erwähnen möchtest hier?
Lisa Paus: Nein. Ich wollte einfach nur noch mal sagen, dass das Riesenschritte sind, die wir jetzt machen im Bereich der Energieeffizienz. In dem Osterpaket ist ja vor allen Dingen das Thema Beschleunigung des Ausbaus der Erneuerbaren. Da ist ein ganz großer Schwerpunkt drauf. Aber mit diesem Entlastungspaket ist eben tatsächlich in das Thema Energieeffizienz noch mal richtig Dynamik gekommen. Und das wird natürlich jetzt breit auch in der Bevölkerung noch mal zu Diskussionen führen. Also ich zum Beispiel wohne auch in einer Wohnung mit einer Gasetagenheizung in Berlin. So, und natürlich haben jetzt auch meine Nachbarn wahrgenommen, dass beschlossen wurde, dass künftig für alle Heizungen, wenn sie ausgetauscht werden, ab 2024 gilt: Die müssen mindestens 65 Prozent erneuerbar sein. Dann ist klar, wir können nicht einfach die Heizung austauschen, sondern wir brauchen insgesamt ein neues Heizkonzept. Von daher ist das ein Riesenschritt. Das wird auch fürs Handwerk durchaus eine positive Geschichte sein. Da ist sozusagen einiges zu stemmen. Und deswegen ist auch ganz wichtig, dass vereinbart ist, dass es an den Fördertöpfen nicht scheitern darf. Das steht auch noch mal ganz klar drin verankert, dass es keine Förderstopps geben soll. Und jetzt ist es schon so, dass bei dem lange nicht geliebten KfW 55 Programm für den Altbau, also für den Bestand, die Nachfrage jetzt deutlich angestiegen ist. Und das ist erst mal eine gute Nachricht, dass da jetzt tatsächlich etwas passiert. Weil wir tatsächlich jede Kilowattstunde, die wir jetzt einsparen, nicht von Russland kaufen müssen.
Tim Meyer: Da haben wir auch beim letzten Mal noch drüber gesprochen, weil die KfW Förderung ja gerade ausgelaufen war, und die Leute dann sitzen geblieben sind oder keine Förderung mehr in Anspruch nehmen konnten. Und daran wird auch wieder gearbeitet an einem neuen Förderprogramm.
Lisa Paus: Genau. Es gibt jetzt schon welche und sie werden besser ausgestattet. Und wir ziehen eben auch mit Gesetzesänderungen nach, damit eine klare Erwartungssicherheit da ist. Zukünftig Gasheizungen - das macht keinen Sinn. Das macht klimapolitisch keinen Sinn. Jetzt macht es noch zusätzlich auch geostrategisch überhaupt keinen Sinn. Und deswegen müssen wir die Unabhängigkeit jetzt mit Turbo beschleunigen. Leider war es ja so, dass 16 Jahre lang nicht nur die Abhängigkeit nicht gesenkt wurde, sondern ja verschärft worden ist gegenüber Russland. Und deswegen versuchen wir mit allen Maßnahmen, das zu ändern. Wir haben es geschafft, auch durch eine gute, vorausschauende Verhandlungsstrategie, dass womöglich bis zum Ende des Jahres auch möglich ist, sowohl bei Kohle und Öl praktisch ganz auszusteigen. Und auch beim Gas ist es absehbar, dass es möglich ist, unabhängig von Russland zu werden.
Tim Meyer: Da komme ich auch gleich noch mal zu. Aber kurz zu dem Osterpaket, was wir jetzt schon ein paar Mal erwähnt haben. Das ist ja eine von Klima-und Wirtschaftsminister Robert Habeck geplante umfassende EEG Novelle.
Julia Verlinden: Genau.
Tim Meyer: Und da geht es vor allem auch um den Ausbau der erneuerbaren Energien. EEG Novelle, das Erneuerbare Energien Gesetz. Ist da noch etwas drin über die Sachen hinaus, die ihr jetzt gerade schon beschrieben habt? Was könnt ihr da noch erzählen und wie da der Zeitplan ist? Also Osterpaket klingt ja so, als ob das in den nächsten Wochen dann richtig öffentlich wird.
Julia Verlinden: Genau. Also der Plan ist, dass kurz vor Ostern, so ist zumindest mein Stand, die Kabinettsbeschlüsse zu diesen Gesetzesänderungen beschlossen werden sollen. Im Laufe der darauffolgenden Wochen - das wird dann wahrscheinlich der Mai - werden wir im Parlament diese ganzen Gesetzentwürfe bekommen und dazu dann das ganz geordnete parlamentarische Verfahren machen. Sprich, wir werden dann diese vielen Hunderte von Seiten Gesetzesänderungen sowohl in den Ausschüssen beraten als auch in Anhörungen mit Experten. Und wir werden dann vielleicht das eine oder andere noch ändern, wo wir merken, das könnte man vielleicht noch besser machen. Und dann werden wir das wahrscheinlich im Juni alles beschließen im Parlament. Und dann muss der Bundesrat noch mal - ich weiß nicht, ob er zustimmungspflichtig ist bei allen Sachen, aber bei einigen vielleicht. Und dann wird das im Sommer in Kraft treten können. Wo wir noch ein bisschen mitdenken müssen ist, dass sich die EU-Kommission viele von diesen Gesetzen anschauen möchte und genehmigen möchte, weil es immer um diese Frage Beihilfe geht. Die EU prüft, wenn zum Beispiel wie in diesem Fall beim Erneuerbare Energien Gesetz Gelder fließen, die zwar nicht vom Staat bezahlt werden, aber die der Staat verteilt. Die Stromkunden zahlen ja mit der bisherigen EEG Umlage einen Teil des Ausbaus der erneuerbaren Energien und bekommen dafür den Strom. Diese EEG Umlage schaffen wir ja zum Sommer für die Kundinnen und Kunden ab. Dafür zahlt der Staat dann dieses Geld. Und das muss natürlich alles durch die EU Kommission geprüft werden, ob das im Rahmen der Beihilfeleitlinien alles so in Ordnung ist. Und ob das nicht unerlaubte Subventionen sind, die im Rahmen von dem europäischen Binnenmarkt nicht in Ordnung wären. Deswegen hoffen wir, dass wir das alles ganz schnell mit Brüssel geklärt kriegen, damit diese Dinge auch alle ganz schnell in Kraft treten können. Und alle auch wissen, wie die neuen Gesetze dann aussehen. Aber wichtig sind vor allem beim Erneuerbaren Energien Gesetz die Ausbauziele, also wieviel erneuerbare Energien wollen wir zum Beispiel im Jahr 2030 haben, nämlich 85 Prozent Erneuerbare im Stromsektor. Das ist richtig viel, weil wir auch mit einem höheren Stromverbrauch bis dahin rechnen.
Tim Meyer: Wieviel haben wir jetzt gerade?
Julia Verlinden: Wir haben jetzt ungefähr 600 Terawattstunden Strom, die wir in Deutschland verbrauchen. Wir rechnen damit, dass das eher steigt, wenn mehr Menschen mit Autos fahren.
Tim Meyer: Ich meinte, wie viel Prozent wir jetzt haben?
Julia Verlinden: Ja, ungefähr 45 Prozent. Wir haben dann mehr Elektromobilität, mehr Wärmepumpen. Und so weiter. Und deswegen ist es wichtig, in dem Kontext natürlich auch damit zu planen, dass mehr Menschen Stromanwendungen nutzen und wir sehr, sehr viel mehr Windräder und Solaranlagen bauen werden. Und das wird dann im Rahmen des Erneuerbaren Energien Gesetzes auch entsprechend mit einem Pfad hinterlegt, sodass diese Ziele abgesichert sind. Aber auch dafür die Rahmenbedingungen natürlich geschaffen werden müssen. Zum Beispiel haben wir uns vorgenommen, 200 Gigawatt Photovoltaik bis zum Jahr 2030 zu bauen. Da müssen wir noch richtig was zulegen im Vergleich zu den letzten Jahren.
Lisa Paus: Aber erst mal ist der 8. April sozusagen das Zieldatum, dass das alles im Kabinett liegt. Ich bin doch zuversichtlich, dass das mit der EU Kommission gut geht. Anders als in früheren Jahren. Weil inzwischen ist die EU auf das Fit for 55 verpflichtet. Das heißt, insgesamt geht es darum, dass wir die Klimaneutralität erreichen. Von daher bin ich zuversichtlich.
Tim Meyer: Lisa, du hast es gerade schon erwähnt, dass es ja darum geht, die Abhängigkeit von russischem Öl und Kohle und Gas zu beenden. Es wurde jetzt gerade ein Bericht von Robert Habeck vorgelegt. Und du hast es gerade schon gesagt, Öl und Kohle kann möglicherweise in diesem Jahr schon klappen oder klappt in diesem Jahr. Gas wahrscheinlich bis Mitte 2024. Wie bewertest du diese ersten, aber doch sehr schnellen Schritte?
Lisa Paus: Ja, Robert Habeck hat gezeigt: Es ist möglich. Natürlich muss man sagen, das ist nicht für null zu haben. Das werden dann auch nicht exakt die gleichen Einkaufspreise sein, wie wir sie derzeit haben. Und man muss auch sagen müssen bei dem Ganzen, mit ein Auge darauf zu haben, dass auch andere sich umorientieren. Und dass tendenziell damit auch negative Preiseffekte zum Beispiel auf die Länder des Südens damit verbunden sind. Trotzdem ist es wichtig, Putin hier ein klares Stoppschild zu zeigen und unsere Unabhängigkeit so schnell wie möglich herzustellen. Wir sind da klar auf Kurs. Das, was geht, das machen wir. Und wir machen deutlich mehr möglich, als viele andere vielleicht vorher gedacht haben. Ich finde, das ist wirklich ein Thema, wo man sieht, dass eine neue Bundesregierung wirklich einen Unterschied macht. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie die Lage in dem Bereich jetzt wäre, wenn wir noch die alte Bundesregierung hätten.
Julia Verlinden: Oh ja.
Tim Meyer: Es war ja auch immer mal wieder davon die Rede, dass wir jetzt die Heizung runterdrehen, einen Pullover mehr anziehen. Weil wir natürlich Energie nicht einkaufen müssen, wenn wir sie erst gar nicht verbrauchen. Bringt das etwas oder sind andere Wege sinnvoller, wie die Bürger*innen in der akuten Situation mit unterstützen und langfristig die Energiewende mit anschieben können?
Lisa Paus: Pullover und Decken helfen natürlich immer. Ich bin sowieso gerne unter einer Decke. Aber es gibt auch noch andere Maßnahmen. Also zum Beispiel der automatische hydraulische Abgleich von alten Heizungen und alles weitere. Das kann Julia viel besser erklären als ich. Aber es geht jetzt nicht nur darum, einen genauen Verhaltensplan vorzulegen, sondern es ist auch technisch einiges mehr möglich, als derzeit Standard ist.
Tim Meyer: Aber es ist ja, um das noch einzuwerfen, vielleicht auch für manche ein emotionaler Beitrag, den sie gerne leisten wollen.
Lisa Paus: Genau.
Julia Verlinden: Stimmt.
Lisa Paus: Ich kenne mehrere in meinem Umfeld, die das jetzt auch machen. Und das ist wichtig. Auch jeder individuelle Beitrag ist wichtig. Aber in der Breite brauchen wir natürlich eine politische Unterstützung. Das können jetzt die Leute nicht alle einzeln bewerkstelligen. Sondern da braucht es die Nutzung der technischen Möglichkeiten, die einfach da sind, aber die zurzeit eben vielfältig ungenutzt bleiben. Ich glaube, allein durch einen hydraulischen Abgleich kann man wieviel einsparen, Julia? Sag mal was.
Julia Verlinden: 10 bis 20 Prozent je nach Heizung und wie viel Stockwerke da sind.
Lisa Paus: Das ist richtig viel.
Tim Meyer: Hydraulischer Abgleich - kannst du das vielleicht noch mal ganz kurz erklären?
Julia Verlinden: Wenn zum Beispiel eine zentrale Heizung im Keller steht, in einem Mehrfamilienhaus, und da sind dann beispielsweise fünf oder acht Stockwerke. Dann hängt es von der Steuerung dieser Anlagentechnik im Keller ab, wie viel Energie eigentlich verbraucht wird, um es in allen Wohnungen schön warm zu haben. Wenn die Heizung nicht gut eingestellt ist, kann es sein, dass entweder die Wohnung ganz oben nicht genug Wärme bekommt, weil sie einfach von der Entfernung zum Heizkessel weit weg ist und vorher schon ganz viele andere sich ihre Wärme holen. Oder vielleicht auch der Druck nicht gut genug ist, um die Wärme bis ganz nach oben zu transportieren. Das muss man einstellen. Es kann aber auch genau andersherum sein. Dass die Heizung total übertrieben eingestellt ist, weil der Vermieter oder der, der die Heizung damals eingebaut hat, auf jeden Fall vermeiden möchte, dass die ganz oben nicht genug Wärme bekommen. Also dass viel mehr Energie verballert wird, als eigentlich notwendig ist. Wenn man sich quasi die Leitungsstränge zu den verschiedenen Heizkörpern in den verschiedenen Räumen in den verschiedenen Stockwerken anguckt, das genau in einen Computerprogramm eingibt und berechnen lässt. Und dann entsprechend die Durchflussventile, aber auch unten die Steuerung im Keller programmiert und einrichtet. Dann kann man allein durch diese technische Maßnahme relativ viel Energie sparen. Und das spart dann natürlich auch Geld bei denjenigen, die für die Heizkosten ihre Rechnung bekommen. Insofern ist eine sehr gute Sache. Es ist etwas, was bisher auch nicht alle Handwerker*innen können, sondern wozu man eine bestimmte Fortbildung machen kann. Und das wird auch gefördert. Also derjenige, der so einen hydraulischen Abgleich machen möchte, der kann dafür Förderprogramme in Anspruch nehmen. Und das ist eine gute Sache.
Tim Meyer: Sehr gut. Dann habt ihr da draußen hoffentlich jetzt auch mal verstanden, was ein hydraulischer Abgleich ist. Ich möchte einmal noch kurz auf die Kohle zu sprechen kommen. Die wird auch erwähnt in dem Papier des Koalitionsausschusses. Um die Energieversorgung sicherzustellen, ist in den Vereinbarungen die Rede davon, dass eine Stilllegung von Kohlekraftwerken bis auf Weiteres ausgesetzt werden kann, wenn es notwendig wird. Gleichzeitig soll aber am Ziel Kohleausstieg bis 2030 festgehalten werden. Wie schätzt ihr das ein? Schaffen wir das?
Julia Verlinden: Ich glaube, es bleibt uns eigentlich nichts anderes übrig, als dass wir uns unabhängig machen von den fossilen Brennstoffen. Es ist ja im Augenblick so, dass wir ausschließlich Braunkohle in Deutschland selber abbauen. Also diese riesigen Kohlebagger, die entweder in der Lausitz oder im rheinischen Revier noch tiefe Löcher bohren. Und deren Kohle dann auch in den Kraftwerken direkt um die Ecke verbrannt werden. Die sind ja das eine. Aber die Steinkohlekraftwerke, die in Deutschland noch laufen, werden mit Kohle unter anderem aus Russland oder auch aus anderen Ländern dieser Welt beheizt. Und bei diesen Steinkohlekraftwerke steht gar nicht zur Debatte, dass man die jetzt viel länger oder viel intensiver laufen lässt. Sondern dass man sie in die Sicherheitsreserve packt. Das heißt, sie sind noch am Netz, sie könnten noch laufen. Aber dadurch, dass wir natürlich mit steigenden Kohlepreisen auf dem Weltmarkt rechnen und das auch schon sehen, und weil wir weniger russische Steinkohle einkaufen wollen, werden diese Kraftwerke möglicherweise dann unterm Strich doch ein bisschen weniger laufen, als das vielleicht eigentlich geplant war. Aber insbesondere werden sie dann zum Einsatz kommen, wenn sie als Backup benötigt werden. Deswegen werden sie jetzt auch nicht endgültig abgeschaltet, sondern sind noch sozusagen als Sicherheitsreserve dabei. Das kann dann dazu führen, dass ein einzelnes Kraftwerk, wo wir möglicherweise gedacht haben: „Das ist jetzt abgeschaltet und vorbei", dass das noch ein paar Jahre länger in der Reserve ist. Und möglicherweise auch mal ein paar Tage, oder vielleicht auch wenige Wochen im Jahr, läuft. Womit wir bisher nicht geplant haben. Aber wirklich nur als Sicherheitsreserve. Und der endgültige Kohleausstieg, wo dann wirklich alle Kraftwerke vom Netz gehen sollen, den sollten wir auf jeden Fall versuchen, bis 2030 zu vollenden.
Tim Meyer: Und dafür werden ja jetzt, wie wir gerade besprochen haben, auch die Grundsteine gelegt. Eben mit der EEG Novelle und allen anderen Dingen, die ihr gerade gesagt hat.
Julia Verlinden: Ganz genau. Und da ist vielleicht auch noch mal wichtig zu sehen, dass alle dazu natürlich auch ihren Beitrag leisten können. Also wir versuchen natürlich im Erneuerbaren Energien Gesetz jetzt viele Rahmenbedingungen zu verbessern. Aber es ist auch heute schon attraktiv für jemanden, der beispielsweise ein Elektroauto fährt oder eine Wärmepumpe betreibt, eine eigene Photovoltaikanlage aufs Dach zu setzen. Und da würde ich empfehlen, nicht bis zum Sommer zu warten, sondern jetzt sofort seinen Handwerker anzurufen und zu sagen: „Ich hätte gerne eine eigene Solaranlage. Ich möchte mitmachen bei der Unabhängigkeit, die wir von russischen Energieimporten anstreben." Weil ich nämlich auch gehört habe, es kommen gerade viele Leute auf die Idee. Deswegen ist es gut, wenn man nicht zu lange wartet, den Handwerker anzurufen, sondern sich schnell schon mal meldet und sagt: „Ich bin dabei."
Lisa Paus: Julia, hast du eigentlich noch einen Tipp zum Thema Energieberater? Da hat sich insgesamt ja doch auch ein Engpass ergeben. Wie sollte man das am besten machen? Gelbe Seiten oder KfW-Liste?
Julia Verlinden: Genau. Bei der Deutschen Energieagentur gibt es eine Liste, bei der „dena". Das sind die Effizienzberater, die eine besondere Fortbildung oder Qualifikation gemacht haben und sich regelmäßig weiterbilden. Das sind diejenigen, die am besten im Thema sind und die ganzen Förderprogramme kennen. Mit Sicherheit klagen die gerade nicht über Langeweile. Das kann ich mir vorstellen. Aber vielleicht motiviert es ja auch noch mehr Menschen, die einen ähnlichen Beruf haben oder einen Beruf haben, wo man gut drauf aufsatteln kann, diese Fortbildungen zu machen. Und dann entsprechend auch in diese Liste der dena aufgenommen zu werden. Damit diese Energieeffizienzberater noch mehr werden. Und noch mehr Verbraucherinnen und Verbraucher sich von denen beraten lassen können. Im übrigen sind es nicht nur die Gebäude. Im Durchschnitt, sage ich jetzt mal, könnte über ganz Deutschland verteilt 50 Prozent der Wärme in den Wohngebäuden eingespart werden. Und die wollen wir natürlich peu a peu auch heben, diese Potenziale. Aber wir können auch noch ganz viel in der Industrie tun. Es gibt zahlreiche Unternehmen, die in den letzten Jahren sogenannte Energy Audits oder Energy Management Systeme durchgeführt haben. Die haben auch Potenziale erkannt, wo sie Energie sparen können. Sie haben sich aber nicht immer automatisch dafür entschieden, diese Maßnahme auch umzusetzen. Weil das ja erstmal auch eine Investition bedeutet, Geld in die zu Hand nehmen und eine neue Technik einzubauen oder bestimmte Dinge in ihren Verfahrensabläufen zu ändern. Und die erinnern sich jetzt vielleicht an diesen Bericht, der noch in der Schublade liegt und sagen: „Hach, jetzt wäre vielleicht doch mal ein guter Zeitpunkt, diese Dinge noch umzusetzen." Wir tun auf jeden Fall von Seiten der Politik alles, um sie zu motivieren, das zu tun. Weil ich glaube, es gibt keinen besseren Zeitpunkt als jetzt.
Lisa Paus: Ja, da rächt sich auch wieder die alte Bundesregierung. Wenn ich das richtig erinnere, dann war die Einführung von Energie Management Systemen eine Auflage von der Europäischen Kommission, damit man profitieren kann von den Ausnahmen bei der Energie- und Ökosteuer. Wir wollten damals, dass die nicht nur diese Berichte machen, sondern dass sie dann auch verbindlich umgesetzt werden müssen. Die alte Bundesregierung hat das verhindert. Deswegen gibt es eben diese Vorlage. Aber sie musste bisher nicht umgesetzt werden, weil die alte Regierung das den Unternehmen nicht zumuten wollte. Wenn die das gemacht hätten, dann hätten wir das jetzt schon. Aber trotzdem kann man es immer noch machen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt.
Tim Meyer: Wir sprechen schon gerade darüber, was man mal in die Hand nehmen kann. Wo man sich vielleicht auch dran aufrichten kann. Das ist meine letzte Frage an euch, weil es einfach gerade sehr viel gibt, was uns große Sorgen bereitet. Nicht zuletzt der Krieg in der Ukraine mit den vielen Menschen, die ihr Leben verlieren oder aus ihrer Heimat fliehen müssen. Ihr beide seid Teil einer Regierungsfraktion, die unterm Strich aber einen kühlen Kopf bewahren und auf den verschiedensten Themenfeldern nach Lösungen für große Probleme suchen muss. Gab es denn für euch in den letzten Wochen etwas, was ihr unseren Hörer*innen erzählen könnt, an dem ihr euch aufrichten oder aus dem ihr Hoffnung schöpfen konntet? Lisa vielleicht mal zuerst.
Lisa Paus: Ja. Das eine ist, dass ich das auch in meiner Umgebung erlebe, was Leute alles möglich machen. Eine gute Bekannte von mir zum Beispiel hat auf eigene Faust sechs Busse organisiert und damit 270 Menschen aus Kiew gerettet. Eine andere hat sich darum gekümmert, weil sie im Bereich Gebärdendolmetschen arbeitet, dass Menschen, die gehörlos sind, nicht einfach wild verteilt werden auf verschiedenste Unterkünfte. Sondern dass man sich in dem Chaos trotzdem darum kümmert, dass solche Dinge geordnet passieren und dass die Gehörlosen zusammen bleiben. Damit sie auch die entsprechende Betreuung bekommen. Das einfach wieder mitzubekommen, wie viel Hilfe Menschen jetzt mobilisieren, das ist großartig. Und ich hatte es eben schon erwähnt. Ich bin ja zum Glück Mitglied in meiner Partei. Ich bin aber trotzdem wirklich auch noch mal Fan insbesondere von Annalena und Robert aktuell. Und das ist auch einfach toll. Ich habe noch niemanden gehört, der die beiden kritisiert hat. Im Gegenteil, gefragt oder ungefragt bekomme ich permanent nur gute Rückmeldungen. Dass die Grünen da klar stehen bei dem Thema Ukraine. Und dass wir auch daran arbeiten, dass dieser Angriffskrieg so schnell wie möglich beendet wird. Dass wir da klar sind. Dass wir alles mobilisieren. Und das ist natürlich jeden Tag wieder Motivation, hier weiter unseren Job zu machen.
Tim Meyer: Wie ist es bei dir, Julia?
Julia Verlinden: Meine Antwort ist vielleicht gar nicht unbedingt eine politische Antwort. Ich habe vor einigen Wochen tatsächlich einen Podcast gehört. Das war eine Sendung im Deutschlandfunk. Da haben Wissenschaftler noch mal drauf hingewiesen, dass Menschen in Krisensituationen viel sozialer und solidarischer sind, als das oft angenommen wird. Also diejenigen, die das nicht empirisch untersuchen, gehen immer davon aus, dass der Mensch dann egoistisch ist und nur auf sich selbst achtet. Dass er sich quasi in einer Krisensituation durchsetzt oder seinen eigenen Vorteil sucht und dass aber genau das Gegenteil der Fall ist. Ich finde, das sehen wir ja immer wieder dann auch an solchen Beispielen, wie Lisa sie genannt hat. Dass Menschen sich ehrenamtlich massiv einsetzen. Das ist das eine. Und das andere aber auch, dass in solchen Situationen sich gegenseitig geholfen wird. Also gerade da, wo die Not auch am größten ist. Und das hat mir sehr viel Mut gemacht, weil das auch noch mal zeigt, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und dafür sorgen möchte, dass es allen gut geht. Und ich glaube, diese Solidarität, aber auch diese Bereitschaft, jetzt im eigenen Leben möglicherweise Veränderungen mit zu unterstützen, macht mir sehr viel Mut. Auch dahingehend, dass wir jetzt wahrscheinlich auch für viele politische Maßnahmen die Unterstützung in der Gesellschaft haben. Weil alle auch erkennen, das es jetzt ganz besonders Sinn macht. Weil es unerträglich ist zu sehen, wie Kriege auch aufgrund von solchen Situationen wie Abhängigkeiten von fossilen Rohstoffen und so weiter geführt werden. Und ich glaube, das ist etwas, wo unsere Gesellschaft auf jeden Fall einen ganz wichtigen Beitrag leisten kann in Europa. Auf der einen Seite tatsächlich dafür zu sorgen, dass der Krieg in der Ukraine möglichst schnell beendet wird. Und auf der anderen Seite natürlich, dass den Menschen, die hier herkommen, möglichst gut geholfen wird und solche ähnlichen Situationen nie wieder passieren.
Tim Meyer: Liebe Julia, liebe Lisa, ich bedanke mich für das Gespräch.
Julia Verlinden: Sehr gerne.
Lisa Paus: Wir bedanken uns.
Tim Meyer: Den heutigen Podcast zeichnen wir am 28. März auf. Wenn ihr Lob, Kritik oder Fragen loswerden wollt, schreibt uns gerne an podcast@gruene-bundestag.de. Wenn ihr informiert bleiben wollt, was wir im Bundestag noch alles so machen, schaut auf unsere Webseite www.gruene-bundestag.de oder folgt uns in den sozialen Netzwerken auf Instagram, Twitter und Facebook. Vielen Dank fürs Zuhören. Macht es gut und bleibt gesund. Tschüss.
Lisa Paus: Ciao.
Julia Verlinden: Tschüss.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
In dieser Folge blicken wir gemeinsam mit Irene Mihalic hinter die dicken Mauern des Bundestags bzw. des parlamentarischen Betriebs. Denn Irene Mihalic ist als Erste Parlamentarische Geschäftsführerin für die Organisation der parlamentarischen Abläufe innerhalb der grünen Bundestagsfraktion zuständig, koordiniert aber auch den Austausch mit den anderen Bundestagsfraktionen, Ministerien und Bundesländern.
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Transkript des Podcasts
Irene Mihalic: Mir erschließt sich gerade eine neue Welt. Also man ahnt ja nicht, wie viel so auch noch im Hintergrund passiert, wie dieser ganze Betrieb hier organisiert wird, wie eine Fraktion auch, sozusagen, als Maschinenraum - um mal dieses Bild zu beschreiben - wirklich funktioniert und was da alles so passiert im Hintergrund.
Intro/Outro: Uns geht`s ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
Tim Meyer: Ein herzliches Willkommen an Irene Mihalic und an unsere Hörer:innen! Wir begrüßen euch zu einer neuen Folge „Uns geht es ums Ganze". Heute blicken wir gemeinsam mit unserer Gästin hinter die dicken Mauern des Bundestags beziehungsweise des parlamentarischen Betriebs, denn Irene Mihalic ist als erste parlamentarische Geschäftsführerin für die Organisation der parlamentarischen Abläufe innerhalb der grünen Bundestagsfraktion zuständig, koordiniert aber auch den Austausch mit den anderen Bundestagsfraktionen, Ministerien und Bundesländern. Mein Name ist Tim Meyer. Ich bin Referent in der Öffentlichkeitsarbeit der grünen Bundestagsfraktion. Liebe Irene, schön, dass du da bist und dir in dieser Sitzungswoche die Zeit nimmst, mit uns über deine Arbeit zu sprechen. Heute ist Donnerstag, 17. März, gegen 16 Uhr. Gerade läuft noch das Plenum. Was hast du bis kurz vor diesem Gespräch in deiner Aufgabe als erste parlamentarische Geschäftsführerin gemacht? Und kurze Anmerkung: Ich werde jetzt auch mal PGF sagen, sonst klingt das immer alles förmlich.
Irene Mihalic: Ja genau, PGF sagt man auch immer hier, sozusagen als Abkürzung in diesem Betrieb. Ich habe heute Morgen um neun begonnen mit dem Plenumsdienst. Gehört jetzt zu meinen Aufgaben, dass ich als PGF im Plenum sitze und so ein bisschen eben über die Abläufe schaue, mich der Geschäftsordnung vergewissere, sozusagen, dass praktisch alles korrekt läuft und halt eben auch dafür sorge, dass die Abgeordneten auch anwesend sind im Plenum, die sich für die Debatte angemeldet haben. Das habe ich heute Morgen gemacht.
Tim Meyer: Passiert das auch schon im Austausch mit der Bundestagspräsidentin beziehungsweise heute mit der Vizepräsidentin?
Irene Mihalic: Ja, genau, zu meinen Aufgaben gehört es dann, wenn ich diesen Plenumsdienst mache. Das machen aber auch die anderen parlamentarischen Geschäftsführer:innen, die wir ja auch noch in der Fraktion haben. Dann gehört auch zu unseren Aufgaben, zum Beispiel die Rednerinnen und Redner für die Debatte anzumelden, oder wenn zum Beispiel Fragen zur Geschäftsordnung zu klären sind, das kurz bilateral zu besprechen, oder wenn kurzfristig Anträge aufgesetzt werden und dergleichen, das dann eben einzuordnen in den laufenden Betrieb und das gehört dann zu meinen Aufgaben, wenn ich dann im Plenarsaal sitze.
Tim Meyer: Hast du da einen besonderen Platz oder sitzt du einfach in den Reihen der Fraktion?
Irene Mihalic: Es gibt einen Platz der PGF, der ist in der zweiten Reihe. Also vorne sitzen ja immer unsere Fraktionsvorsitzenden. Katharina und Britta sitzen ja vorne in der ersten Reihe und ich sitze praktisch direkt dahinter in der zweiten Reihe auf einem Platz, weil von dort aus hat man erstens kurze Wege vorne zum Präsidium beziehungsweise auch zu den anderen Fraktionen, hat aber auch natürlich einen ganz guten Überblick. Man muss sich ja nur umdrehen und dann sieht man schon, ob die Fraktion gut präsent ist oder nicht, oder ob sich jemand meldet oder was los ist. Deswegen ist vorne der Platz eigentlich ganz gut.
Tim Meyer: Du hast es eben gerade schon angesprochen, die Fraktionsvorsitzenden. Du hältst mit den beiden, Britta Haßelmann und Katharina Dröge, unseren eigenen Laden hier zusammen. Welche Eigenschaft beziehungsweise welcher Stil ist dir denn dabei besonders wichtig in Zusammenarbeit mit den grünen Abgeordneten?
Irene Mihalic: Also mir ist besonders wichtig, dass alle sozusagen Politik machen können im Deutschen Bundestag, also für die grüne Bundestagsfraktion und da wirklich für gute Abläufe zu sorgen, also dass wirklich alle Abgeordneten eben auch ihre Themen setzen können, dass also die Abläufe sowohl mit den Ausschüssen als auch im Plenum wirklich reibungslos funktionieren, dass wir uns auch untereinander verständigen, wer, wie, wo, was macht. Das gehört ja teilweise - nicht zu 100 Prozent - eben mit zu meinen Aufgaben und das ist mir wichtig, dass auch die Wünsche der Abgeordneten dabei auch irgendwie berücksichtigt werden, gerade bei einer so stark angewachsenen Fraktion, wie wir sie ja jetzt sind. Also wir sind ja deutlich mehr als in der letzten Wahlperiode und wir haben auch viele junge Kolleginnen und Kollegen, die ja auch erst mal hereinkommen müssen in diesen ganzen parlamentarischen Betrieb. Da sehe ich es auch als meine Aufgabe an, für die Abgeordneten immer ein offenes Ohr zu haben, also für Fragen zur Verfügung zu stehen, auch mal was zu organisieren, mal auch kurzfristig ansprechbar zu sein. Das ist mir bei meiner Aufgabenwahrnehmung besonders wichtig.
Tim Meyer: Du hast, das finde ich, auch sehr schön in der kommenden Ausgabe unseres Fraktionsmagazins „profil:Grün" beschrieben: „In meiner Funktion und Rolle möchte ich daran mitwirken, dass alle Abgeordneten unserer Fraktion ihr Licht zum Leuchten bringen können, im Dienst der gemeinsamen grünen Sache." Das ist ja das, was du gerade beschrieben hast.
Irene Mihalic: Genau, vor allen Dingen gerade auch bei den neuen Abgeordneten, die das jetzt hier noch nicht so kennen und sich vielleicht auch nicht noch nicht so ganz sicher sind, wie sie was vorbringen können oder wie sie sich vielleicht auch vorbereiten können auf das, was hier so passiert. Also da auch ein bisschen Unterstützung zu leisten, da wo es mir möglich ist, da, wo das auch vielleicht mal gefordert ist, also da bemühe ich mich wirklich, immer ansprechbar zu sein und vielleicht auch den einen oder anderen Hinweis zu geben.
Tim Meyer: Du bist als ehemalige Polizistin eine leidenschaftliche Innenpolitikerin. Wir hatten dich auch hier schon mal im Podcast. Was macht für dich den Reiz aus, jetzt nicht mehr in erster Linie über Themen und politische Maßnahmen zu diskutieren - natürlich machst du das in Vorbereitung von Sitzungswochen sicherlich auch - aber sondern in erster Linie deinen Kolleginnen das Politikmachen zu organisieren?
Irene Mihalic: Ich war jetzt acht Jahre lang Vollmitglied im Innenausschuss, wie du gerade sagtest. Ich bin immer noch eine leidenschaftliche Innenpolitikerin. Ich habe das auf meinem Social-Media-Account mit dem Hashtag „Innenpolitik for Life" auch dokumentiert. Das wird man, glaube ich, nie los, will ich aber auch gar nicht. Und ich mache ja auch immer noch innenpolitische Themen für die Fraktion, als stellvertretendes Mitglied im Innenausschuss. Es ist mir auch wichtig, da auch noch weiter inhaltlich zu arbeiten, aber der Reiz an der neuen Funktion als erste PGF macht für mich einfach aus, dass sich mir jetzt - und das sage ich wirklich so, wie es ist: mir erschließt sich gerade eine neue Welt. Also, als ich die ersten Wochen in diese neue Funktion hineingekommen bin, da ahnt man ja nicht, wie viel so auch noch im Hintergrund passiert, wie dieser ganze Betrieb hier organisiert wird, wie eine Fraktion auch, sozusagen, als Maschinenraum, um mal dieses Bild zu beschreiben, wirklich funktioniert und was da alles so passiert im Hintergrund.
Tim Meyer: Also für eine erfahrene Abgeordnete wie dich ist da noch ganz viel im Unbekannten, ja?
Irene Mihalic: Absolut. Britta hat ja vor mir diese Funktion als erste PGF ausgefüllt, bevor sie dann Fraktionsvorsitzende wurde und ich ihr dann nachgefolgt bin in ihrer früheren Funktion. Ich muss sagen, also es hat ja irgendwie niemand mitbekommen, was sie alles so macht und welche Fäden sie zieht und so weiter und das ist jetzt meine Aufgabe.
Tim Meyer: Kannst du vielleicht mal ein konkretes Beispiel sagen, was so ein Aha-Moment war. "Ach, das gibt es hier." Oder so?
Irene Mihalic: Ja, das ist einfach so diese Fülle von Aufgaben, die auf einen zukommt, also diese ganzen Kommissionen, zum Beispiel, die es im Bundestag noch gibt. Es gibt ja den Ältestenrat. Da hatte ich übrigens heute eine Sitzung. Der Ältestenrat, der sozusagen gemeinsam auch mit dem Präsidium hier die Abläufe organisiert und das auch diskutiert, was hier im Bundestag organisatorisch vor allen Dingen passiert, hat auch noch mehrere Kommissionen, die sich dann mit verschiedenen Bereichen noch mal eng beschäftigen: mit der Rechtsstellung von Abgeordneten, zum Beispiel, oder auch mit den inneren Abläufen, auch mit der Organisation, wie das hier auch ist, mit dem Besucherdienst, zum Beispiel. Also es sind wirklich ganz, ganz vielfältige Aufgaben und Bereiche, in die man sonst wirklich so keinen Einblick bekommt. Das ist wirklich interessant, einfach um wirklich hier zu sehen, wie das alles im Hintergrund arbeitet, wie das organisiert wird, um dann am Ende das, was alle im Fernsehen sehen können - den Bundestag, den Plenarsaal, die Debatten, die da geführt werden - zu ermöglichen, also diesen Unterbau einfach mal ganz lebenspraktisch zu erfahren. Das ist so diese neue Welt, die sich mir gerade erschließt, und ich bin immer noch dabei, sie mir zu erschließen, obwohl ich jetzt schon ein paar Wochen im Amt bin.
Tim Meyer: Wie lange machst du es jetzt?
Irene Mihalic: Drei Monate etwa, aber ich lerne jeden Tag etwas Neues dazu. Also ich würde noch nicht behaupten, dass ich schon alles gesehen habe. Also es kommt immer noch mal wieder was Neues dazu und es ist wirklich sehr interessant. Auch der Austausch mit den anderen Fraktionen, das ist das, was für mich jetzt auch so ein bisschen den Reiz ausmacht: Jetzt nicht nur meine Fachpolitik zu machen, so, wie ich das bisher gemacht habe, sondern auch tatsächlich ein bisschen generalistischer mich auch in andere Themen noch mal ein bisschen hereinzudenken, um zu gucken: Was ist da jetzt gerade nötig? Mit wem muss man mal sprechen, um zum Beispiel A, B, C oder D durchzukriegen und so? Das ist einfach interessant und es ist eine neue Herausforderung für mich.
Tim Meyer: Gehen wir da jetzt mal ein bisschen ins Detail. Ein Schwerpunkt deiner Arbeit ist es ja, den Ablauf von Sitzungswochen mit den anderen Fraktionen und der Bundestagspräsidentin zu planen, welche Themen wann diskutiert werden in der Woche und wie lange die Debatten dauern sollen. Was ist denn die Herausforderung bei dieser Aufgabe, wenn ihr da alle zusammensitzt? Oder vielleicht kannst du es mal ganz kurz beschreiben, uns da hereinholen: Wie sieht das denn aus? Wie sitzt ihr da zusammen?
Irene Mihalic: Also da muss ich erst einmal sagen, dass auch viel von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in dieser Frage geleistet wird. Also unsere Fraktion hat ja auch eine PGF-Abteilung, wo viele kluge Leute arbeiten, die wirklich dann auch noch mal ganz detailliert sich mit diesen Dingen befassen. Das heißt, es wird auch erst mal viel auf der Ebene der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zwischen den Fraktionen schon mal grob besprochen. Wie könnte die nächste Tagesordnung aussehen? Welche Anträge liegen vor? Wie wird was aufgesetzt? Gibt es aktuelle Stunden, zum Beispiel zu diesem oder jenem Thema? Also das heißt, da wird schon viel vorbesprochen und die politische Abnahme, die erfolgt dann durch die ersten parlamentarischen Geschäftsführer der jeweiligen Fraktion. Das heißt, wir treffen uns immer dienstags vor den Fraktionssitzungen und besprechen die Tagesordnungen, gehen die kommende Sitzungswoche miteinander durch, also das, was auf Mitarbeiterebene schon mal vorbesprochen wurde, klären strittige Punkte. Also, wenn man zum Beispiel mit bestimmten Abläufen nicht einverstanden ist, verständigt man sich dann eben hier und da, und im besten Fall erreicht man dann ein Einvernehmen über die Tagesordnung, dann kann man die auch so vereinbaren. Wenn es kein Einvernehmen gibt, dann wird halt eben zu Beginn des Plenums über die Tagesordnung abgestimmt und dann wird das eben mit Mehrheit beschlossen, was in der kommenden Woche passiert. Das ist so im Wesentlichen der Ablauf.
Tim Meyer: Aber da ihr dann als erste parlamentarische Geschäftsführer:innen zusammenkommt, passiert es sicherlich da und nicht auf der Mitarbeiterebene, wenn es inhaltlich Streit gibt.
Irene Mihalic: Ja, nur der inhaltliche Streit, der findet ja dann auch meistens eher in der Sache statt, also dann wirklich in der Sachauseinandersetzung, wenn es um bestimmte Themen geht. Also jede Fraktion hat ja das Recht, ihre eigenen Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Es gibt so einen Verteilschlüssel, welchen Debattenplatz welche Fraktion bekommt.
Tim Meyer: Wir können das ja ganz konkret machen: Diese Woche sind zum Beispiel Impfpflicht, Heizkostenzuschuss und inklusive Arbeitswelt auf der Tagesordnung. Wie sind die denn jetzt zum Beispiel da mal darauf gekommen?
Irene Mihalic: Ja, also bei der Impfpflicht haben wir eine Besonderheit: Das ist ein Tagesordnungspunkt, der praktisch nicht von den Fraktionen aufgesetzt wurde, sondern da haben wir Gruppenanträge. Also da haben sich dann fraktionsübergreifend Abgeordnete zusammengetan, um bestimmte Initiativen zum Thema Impfpflicht aufzusetzen. Wir haben uns dann aber trotzdem als Fraktionen verständigt, dass wir die Debatte zum Thema Impfpflicht eben jetzt am Donnerstagmorgen machen wollen und dafür diesen Tagesordnungsplatz vorgesehen haben. Die anderen Tagesordnungspunkte, da hängt es immer ganz davon ab, wer die aufsetzt. Also, wenn die Opposition zum Beispiel einen Antrag aufsetzen möchte, dann hat sie dafür auf der Tagesordnung bestimmte Debattenplätze, die sie da in Anspruch nehmen kann, und da kann sie auch aufsetzen, was sie will.
Tim Meyer: Die sind schon vorab festgelegt, generell?
Irene Mihalic: Ja, die sind vorab festgelegt. Es wird immer versucht, da ein ausgewogenes Verhältnis hinzubekommen, dass alle auch mal eine gute Zeit erwischen. Also ich meine, das Plenum, das geht, glaube ich, heute bis nachts um halb eins. Da würde es zum Beispiel nicht funktionieren, dass die Regierungskoalition, ich sage mal, morgens um neun bis elf in der Kernzeit ihre Debatten macht und die Opposition muss dann irgendwann in den Abendstunden drankommen oder so. Das wäre natürlich total ungerecht, deswegen versucht man da so ein ausgewogenes Verhältnis hinzubekommen, dass jede Fraktion auch mal eine Kernzeit bekommt, zum Beispiel, und auch alle Fraktionen sich dann praktisch gleichmäßig auf diesen Tag verteilen. Die Tagesordnungspunkte oder die Tagesordnungsplätze, die man hat, die kann man im Prinzip befüllen, wie man das möchte.
Tim Meyer: Das heißt, da wird auf Mitarbeiterebene oder dann da, wenn ihr zusammenkommt, gesagt, wir wollen dann das machen, das ist unser Debattenplatz und das melden wir an?
Irene Mihalic: Genau. Zum Beispiel jetzt für den morgigen Freitag, da hatte die Fraktion Die Linke zum Beispiel für ihren Debattenplatz ursprünglich vorgesehen, über Parteispenden sprechen zu wollen. Jetzt möchte sie nicht mehr über Parteispenden sprechen, sondern über das Rentensystem. Das heißt, das haben die dann eigenständig getauscht. Das können die so machen, weil es ihr Debattenplatz ist. So haben wir dann die Tagesordnung miteinander vereinbart und das passiert dann auch so.
Tim Meyer: Das geht noch kurzfristig oder nur an diesem Dienstag, wenn ihr euch trefft?
Irene Mihalic: So ganz kurzfristig geht es nicht. Also es wird ja zu Beginn des Plenums, also am Mittwoch, über die Tagesordnung abgestimmt. Man kann dann natürlich noch im laufenden Betrieb einen Antrag zur Geschäftsordnung stellen, um die Tagesordnung noch einmal zu ändern oder eine Erweiterung zu wünschen oder Punkte abzusetzen. Dann braucht man allerdings eine Zweidrittelmehrheit im Plenum, um das nachträglich noch tun zu können.
Tim Meyer: Du hast jetzt gerade schon angesprochen, wie die Debattenplätze verteilt sind, dass es natürlich ungerecht ist, wenn man die Opposition irgendwie in die Abendstunden verschiebt. Du bist jetzt noch nicht so lange PGF und hast eigentlich Opposition als PGF nicht erlebt aktiv, aber wo ist denn da vielleicht der Unterschied zwischen Regierungsfraktion und Opposition in der Arbeit als PGF?
Irene Mihalic: Also der wesentliche Unterschied, so wie ich ihn jetzt auch feststelle, ist, dass man als Regierungs-PGF jede Runde dreimal macht, um es mal so auszudrücken. Ich meine, in der Opposition muss man mit sich und mit der Fraktion und mit den Wünschen der eigenen Fraktion im Reinen sein und sozusagen die Interessen der eigenen Fraktion gegenüber den anderen vertreten. Das ist die vordringliche Aufgabe. In der Regierung, wenn man Regierungsfraktion ist, muss man nicht nur die Interessen der eigenen Fraktion vertreten. Ich vertrete jetzt nicht nur die Interessen der Grünen, sondern auch die Interessen der Ampel. Um das tun zu können, muss ich mich natürlich mit meinen Ampel-Pendants - also von der FDP und von der SPD - verständigen, wie das geschehen kann und mich sozusagen erst einmal innerhalb der Ampel durchsetzen und dann natürlich dann die Ampel-Interessen gegebenenfalls gegenüber der Opposition vertreten. Das erfordert natürlich einen sehr, sehr hohen Abstimmungsbedarf. Also das kann ich dann nicht mehr mit mir selbst ausmachen, sondern dann muss ich mich halt erst mal auf Ampel-Ebene mit den anderen PGFs verständigen und dann gehen wir als Ampel sozusagen in die große Runde und klären das da noch mit der Opposition. Man spricht wahrscheinlich mehr und hat mehr Sitzungen und mehr Gremienarbeit damit.
Tim Meyer: Das heißt, zwangsläufig musste sich die Zusammenarbeit mit SPD und FDP auch ändern, weil man jetzt vor kurzem noch politische Konkurrenten war. Da habt ihr gut zueinander gefunden? Brauchte es da auch persönliche Gespräche? Oder wie hat man das so eingenordet?
Irene Mihalic: Das hängt natürlich immer viel von den handelnden Personen ab. Ich muss sagen, dass ich persönlich ein gutes Verhältnis zu der ersten PGF der SPD und zum ersten PGF der FDP habe. Also wir verstehen uns menschlich, auf so einer menschlichen Ebene, einfach sehr, sehr gut. Das erleichtert vieles, weil man dann auch wirklich mal schnell eine SMS schicken kann oder mal kurz anrufen kann: Du, hör mal, wir haben hier das Problem. Wie siehst du das? Können wir das irgendwie miteinander lösen? Das geht natürlich auf so einer Ebene viel besser, als wenn wir uns jetzt irgendwie, ich sage mal, komisch angucken würden oder so oder irgendwie uns nicht riechen könnten. Also das wäre, glaube ich, keine gute Ausgangsbasis für eine gemeinsame Zusammenarbeit. Von daher bin ich ganz froh, dass ich es gut getroffen habe mit meinen Kolleginnen und Kollegen und wir da eine gute Gesprächsbasis haben.
Tim Meyer: Wenn du aus dieser Runde am Dienstag herausgehst, wann kannst du sagen, dass das eine erfolgreiche Sitzung war? Wann hast du das gut gemacht? Was muss da passiert sein? Wann hast du erfolgreich gearbeitet da?
Irene Mihalic: Also in der Runde habe ich erfolgreich gearbeitet, wenn ich sozusagen die Wünsche meiner Fraktion erfüllen konnte. Also das ist nun mal der erste Punkt, aber die eigentliche Arbeit ... Man ist ja praktisch im laufenden Betrieb in der ganzen Sitzungswoche eigentlich immer so ein bisschen, ich will jetzt nicht sagen, in Alarmstimmung, aber man ist immer so ein bisschen aufmerksam, nur weil man eine Tagesordnung miteinander vereinbart hat, heißt es ja nicht, dass alles genau so läuft, wie man das plant oder wie man sich das wünscht. Ich habe immer so eine erhöhte Aufmerksamkeit und erst wenn ich, ich sage mal, Freitagabend im Zug sitze nach Hause ...
Tim Meyer: Aber das musst du noch mal konkret sagen: Was macht dir Sorgen? Oder wo geht diese erhöhte Aufmerksamkeit hin?
Irene Mihalic: Das mit dem Plenum ist natürlich immer alles sehr, sehr dynamisch. Ich meine, das ist ja auch der Sinn dessen. Wenn wir Parlamentarismus leben und das Prinzip von von Debatte, von Rede, von Gegenrede und wenn wir das wirklich ernst nehmen, dann lässt sich natürlich auch so ein Plenarablauf nicht bis in die letzte Falte planen. Es kann immer mal irgendetwas Unvorhergesehenes passieren, wenn es zum Beispiel mal ein unvorhergesehene Debattenablauf ist oder irgendwie sowas ist oder eine Abstimmung oder so, also zum Beispiel auch die Frage von namentlichen Abstimmungen, wo dann ja auch wirklich alle Abgeordneten da sein müssen oder auch bestimmte inhaltliche Fragen. Wenn wir jetzt als Koalition einen Gesetzentwurf aufgesetzt haben oder so, dann brauchen wir dafür ja eine Mehrheit. Deswegen ist man immer so ein bisschen alarmiert und hofft, dass alles gut geht und kann eigentlich erst am Ende der Woche sagen, ja, ich habe jetzt erfolgreich gearbeitet, wenn da nichts schiefgegangen ist.
Tim Meyer: Und dass die Fraktion wahrscheinlich auch diszipliniert ist und bei den Abstimmungen eben da ist.
Irene Mihalic: Genau, ja, richtig.
Tim Meyer: Ich würde jetzt gerne einmal ganz konkret an einem aktuellen Beispiel durchgehen, wie denn eigentlich der Weg von einem Problem zu Ideen für eine Lösung ist und dann schließlich am Ende ein Gesetz dasteht. Das würde ich gerne am Heizkostenzuschuss machen, der jetzt in zweiter und dritter Beratung im Parlament ist. Geringverdiener und Bezieher:innen von Wohngeld sollen diesen Zuschuss im Juni bekommen. Der wurde jetzt ja gerade noch mal verdoppelt. Also von vorne: Die Energiepreise steigen. Jemand hat die Idee, wir müssen jetzt die Menschen entlasten. In diesem Fall war das Robert Habeck im Klimaschutz- und Wirtschaftsministerium. Dann kommt der Gesetzesvorschlag also aus den Reihen der Regierung zur ersten Lesung ins Plenum. Richtig?
Irene Mihalic: Genau, richtig.
Tim Meyer: Was passiert dann als nächstes?
Irene Mihalic: Als nächstes wird dann dieser Gesetzentwurf in den zuständigen Fachausschuss überwiesen zur weiteren Beratung.
Tim Meyer: Zur weiteren Beratung, das heißt, da tauscht man dann Meinungen aus. Da will ich gleich noch mal was anmerken beziehungsweise wir machen das ruhig jetzt. Das wollte ich eigentlich später fragen, aber in einem Podcast, den ich kürzlich mit Anna Christmann und anderen gemacht habe, der heißt - „Brauchen wir mehr evidenzbasierte Politik?" - hat sie über die Arbeit in den Ausschüssen gesagt, dass sie die als wenig offen erlebt, sondern dass da jeder so sein Statement vorträgt, wie es auch ähnlich im Plenum ist. Empfindest du das auch so?
Irene Mihalic: Das hängt wahrscheinlich ganz vom Ausschuss ab. Also ich kenne ja jetzt aus eigener Anschauung vor allen Dingen den Innenausschuss und da erlebe ich das ehrlich gesagt nicht so. Also da wird schon ordentlich gestritten.
Tim Meyer: Gestritten und dann auch so ...
Irene Mihalic: Gepflegt gestritten, möchte ich sagen, genau.
Tim Meyer: Aber insofern auch konstruktiv, dass das dann auch Eingang findet in Gesetzesvorschläge, also dass man wirklich daran arbeitet zusammen? Oder ist das gar nicht das Ziel des Ausschusses?
Irene Mihalic: Ja, das hängt immer so ein bisschen davon ab. Also die eigentliche Ausschussbefassung, da ist es in der Tat natürlich so, dass alle Fraktionen ihre jeweilige Position vertreten, aber da wird natürlich auch schon mal um das eine oder andere Detail gerungen. Das ist gar nicht die Frage, weil es kommt immer so ein bisschen auf das Thema an, ob jetzt etwas stark polarisierend ist, oder ob zum Beispiel alle Fraktionen - also auch Regierung und Opposition - vielleicht sogar ein ähnlich gelagertes Interesse haben und man da irgendwie die Möglichkeit sieht, sich einander anzunähern, dann verlaufen die Debatten natürlich auch anders. Aber zu einer Ausschussberatung gehört ja zum Beispiel auch dazu, dass man öffentliche Anhörungen macht. Eine öffentliche Anhörung verläuft so, dass sich der Ausschuss Expertinnen und Experten einlädt, also externe Leute, Wissenschaftler*innen häufig oder andere Sachverständige, die halt eben zum Gegenstand des Antrags noch mal eine Stellungnahme abgeben und wirklich noch mal sagen, wie sie das bewerten, was zum Beispiel an diesem Gesetzentwurf gut oder schlecht ist, was man vielleicht noch verbessern müsste. Im Idealfall - es läuft nicht immer so - läuft es dann so, dass sich die Fraktionen aus dieser Expertenanhörung zum Beispiel etwas mitnehmen und sagen: Das waren für uns noch mal gute Hinweise, wir verändern das Gesetz noch mal, bevor wir es final abstimmen. In dem Fall, muss ich sagen, hat dann Gesetzgebung auch gut funktioniert, wenn man sich zum Beispiel dann auch so ein Rat mal annimmt und dann überlegt: Wo kann man da noch etwas verbessern? Das gehört zur Ausschussarbeit eben auch dazu.
Tim Meyer: Du hast gerade schon gesagt, dann wird er im Ausschuss abgestimmt und kommt dann wieder ins Plenum.
Irene Mihalic: Genau, wenn die Ausschussberatungen abgeschlossen ist, also wenn die Anhörung stattgefunden haben, wenn der Ausschuss selbst auch noch mal über das Ergebnis der Anhörung beraten hat, dann kann man zum Beispiel im Ausschuss noch mal einen Änderungsantrag stellen, zum Beispiel zu dem Gesetz.
Tim Meyer: Ist das da dann jetzt auch mit der Verdoppelung des Heizkostenzuschusses passiert?
Irene Mihalic: Ja richtig, genau. Also der Heizkostenzuschuss ist ja mit einer bestimmten Summe - mit 135 Euro - in die erste Lesung gegangen, ist dann in den Ausschuss überwiesen worden und dann gab es ja dann die politische Diskussion darüber, ob man die Bürgerinnen und Bürger nicht noch weiter entlasten muss. Dann sind halt eben Änderungsanträge gestellt worden. Wir haben uns ja dann überlegt: Wäre es nicht gut, den Heizkostenzuschuss zu verdoppeln, also auf 270 Euro anzuheben? Diese Verdoppelung kam dann, ich sage mal, gesetzestechnisch dadurch zustande, dass in den zuständigen Ausschüssen eben Änderungsanträge zum Gesetzentwurf gestellt wurden, die dann die Erhöhung um das Doppelte vorgesehen haben.
Tim Meyer: Das heißt, er kommt jetzt auch schon mit diesen 270 Euro zur zweiten und dritten Lesung ins Parlament?
Irene Mihalic: Ganz genau, mit der Änderung im Ausschuss - das heißt dann immer technisch, dem Gesetz wird dann in der Ausschussfassung zugestimmt, also nicht in der ursprünglichen Fassung, sondern in der Ausschussfassung - kommt dann eben dieses Gesetz oder dieser Gesetzentwurf in die zweite und dritte Beratung ins Plenum und da wird er dann final abgestimmt.
Tim Meyer: Warum gibt es eigentlich diese zweite und dritte, also du sagst jetzt, Beratung? Man kann auch, glaube ich, Lesung sagen.
Irene Mihalic: Ja, das ist das Gleiche.
Tim Meyer: Warum gibt es das eigentlich, wenn die oft parallel oder gleichzeitig stattfinden?
Irene Mihalic: Ja, das versteht man immer nicht. Also ein Gesetzentwurf wird zur zweiten Beratung aufgerufen, dann reden noch mal alle und dann wird abgestimmt und dann wird gesagt, jetzt dritte Beratung und dann wird aber gar nicht mehr debattiert oder nicht mehr gelesen, sondern dann stehen alle auf und stimmen das final ab. Genau, aber das hat deswegen seinen Sinn, weil rein theoretisch können zur zweiten Beratung auch noch Änderungsanträge eingebracht werden. Also, wenn ein Änderungsantrag nicht im Ausschuss, zum Beispiel, abgestimmt werden konnte oder man sich auch vielleicht nach der Ausschussberatung überlegt, irgendwie müsste man da doch noch was ändern, dann könnte man eben theoretisch zur zweiten Lesung im Plenum noch einen Änderungsantrag stellen und der müsste dann eben abgestimmt werden, bevor dann die Schlussabstimmung in der dritten Lesung erfolgt.
Tim Meyer: Das passiert auch?
Irene Mihalic: Ja, ich kann mich jetzt persönlich nicht erinnern, das schon mal so miterlebt zu haben, aber klar, das passiert natürlich. Jetzt beim Heizkostenzuschuss nicht, hoffe ich nicht, weiß ich nicht. Können wir ja noch nicht wissen. Aber klar, das kommt hier und da auf jeden Fall mal vor.
Tim Meyer: Ist er dann beschlossen, der Gesetzesvorschlag, geht es bei den meisten Gesetzen ja in den Bundesrat.
Irene Mihalic: Ja, genau.
Tim Meyer: Der guckt sich das dann auch noch mal an und stimmt ab?
Irene Mihalic: Es hängt immer davon ab, ob ein Gesetz zustimmungspflichtig ist oder nicht. Also nicht alle Gesetze, die im Deutschen Bundestag verabschiedet werden, sind auch zustimmungspflichtig. Wenn sie es sind, dann muss auch der Bundesrat darüber abstimmen und erst dann kommt das Gesetz praktisch zustande. Bei nicht zustimmungspflichtigen Gesetzen kann der Bundesrat aber noch einen Widerspruch einlegen, aber wenn er das nicht tut, dann läuft das Gesetz halt durch und ist es auch so beschlossen. Dann wird es ja unterschrieben vom Bundespräsidenten. Dann kommt es ins Bundesgesetzblatt. Wenn das Gesetz dann im Bundesgesetzblatt abgedruckt ist, wenn es da steht, dann kann es auch in Kraft treten.
Tim Meyer: Genau, das muss jetzt ja relativ zügig bei dem Heizkostenzuschuss passieren, damit er im Juni ausgezahlt werden kann.
Irene Mihalic: Genau, richtig.
Tim Meyer: Geht das? Das fühlt sich jetzt relativ ... Was heißt, fühlt sich so an? Hört sich relativ schnell an. Ist das jetzt was Besonderes, weil wir eben gerade besondere Zeiten haben? Oder kann eigentlich Gesetzgebung so schnell gehen?
Irene Mihalic: Gesetzgebung kann sogar noch schneller gehen. Das sehen wir zum Beispiel auch an einem Beispiel, was wir diese Woche im Parlament haben, nämlich auch beim Infektionsschutzgesetz. Also da ist Gesetzgebung richtig schnell gegangen. Da haben wir in dieser Woche die erste Lesung gehabt zum Infektionsschutzgesetz. Haben dann mit Sondersitzungen gearbeitet in der Ausschussberatung und bringen das Gesetz noch in dieser Woche in die zweite und dritte Lesung. Dann gibt es eine Sondersitzung des Bundesrates, um darüber zu befinden. Also es ist nicht zustimmungspflichtig, aber dem Bundesrat muss ja die Gelegenheit gegeben werden, gegebenenfalls noch einen Widerspruch einzulegen. Dann wird das Gesetz noch am gleichen Tag unterzeichnet und landet im Bundesgesetzblatt. Das heißt, da geht es wirklich richtig schnell, damit das Gesetz eben auch rechtzeitig am 19. März in Kraft treten kann.
Tim Meyer: Weil das Alte da ausläuft.
Irene Mihalic: Weil das Alte da ausläuft, genau.
Tim Meyer: Ich möchte jetzt einmal noch zu einem parlamentarischen Austausch kommen. Wir haben das ja gerade schon am Beispiel von den Ausschüssen gesagt. Wir als grüne Bundestagsfraktion sind damit angetreten, dass wir den Parlamentarismus neu beleben wollen, das haben wir jetzt immer wieder kommuniziert, und auch konstruktiv mit der demokratischen Opposition zusammenarbeiten wollen. Am Beispiel Ausschuss haben wir das jetzt gerade mal ein bisschen besprochen. Aber heißt das, CDU, CSU und Linksfraktion werden sich jetzt häufiger mit guten Ideen bei uns durchsetzen können? Oder wie stellst du dir das vor?
Irene Mihalic: Also meine Vorstellung ist, dass wir Vorschläge der Opposition konstruktiv aufnehmen. Wenn die auch mal einen guten Vorschlag machen - und das unterstelle ich denen, dass die das können, dass die auch mal eine gute Idee haben - dass wir das dann nicht einfach so abbügeln, sondern dass wir uns wirklich dann auch konkret damit auseinandersetzen. Das kann natürlich dadurch geschehen, dass man sagt, die haben einen vernünftigen Antrag gestellt, jetzt stimmen wir mal zu, aber das muss natürlich dann auch mit der Ampel insgesamt geschehen. Also was ich mir nicht vorstellen kann ist, dass die Grünen jetzt alleine sagen, wir stimmen jetzt einem Oppositionsantrag zu, weil das macht man in einer Koalition nicht. In einer Koalition gilt immer, dass man gemeinsam abstimmt. Das heißt, entweder stimmen wir gemeinsam zu oder wir lehnen es gemeinsam ab. Aber was realistischer wäre, nach meiner Auffassung, ist, dass, wenn aus der Opposition ein kluger Vorschlag kommt, dass man sich den zu eigen macht. Also dass man überlegt, das ist eine gute Idee, sollen wir nicht selbst auch eine Initiative auf den Weg bringen, die vielleicht das Gleiche vorsieht oder was Ähnliches vorsieht. Dann kann man ja auch auf die Opposition zugehen und fragen, ob man da nicht eine gemeinsame Initiative daraus macht. Also wir sind ja nicht daran gehindert, auch als Ampel, zum Beispiel mal einen Antrag gemeinsam mit der CDU/CSU zu machen oder auch mit der Linksfraktion. Also wo das nicht vorstellbar ist, ist sicherlich mit der AfD. Also da wird es keine Zusammenarbeit geben, in keiner Weise, aber mit den anderen beiden demokratischen Fraktionen kann ich mir das durchaus vorstellen.
Tim Meyer: Was glaubst du, was könnte das für ein Signal sein, wenn man einfach noch konstruktiver auch mit der Opposition zusammenarbeitet?
Irene Mihalic: Ja, es könnte dem Parlamentarismus auf jeden Fall noch mal eine neue Stärke verleihen, finde ich, weil dann ist es eben nicht mehr so ritualisiert. In der Vergangenheit als die Große Koalition noch regiert hat und wir in der Opposition waren, haben wir uns jetzt nicht im Wesentlichen beklagt, dass wir uns da mit unseren grünen Ideen nicht durchsetzen konnten. Ich meine, das konnte man auch nicht erwarten. Wir sind in der Opposition und wenn man Dinge voranbringen will, dann muss man regieren. So einfach ist das. Aber was man erwarten konnte, und das ist das, was wir uns zumindest jetzt auch vorgenommen haben, ist, dass man unsere Initiativen ernst nimmt und dass man in einen ernsthaften Austausch darüber tritt, was eigentlich die beste Lösung in einer Sache ist und was die beste Idee für unser Land ist. Ich finde, das kann man auch als Oppositionsfraktion zurecht erwarten, dass die Koalition einen da ernst nimmt. Das verleiht natürlich dann auch dem Parlament eine ganz eigene Stärke, weil wir dann eben nicht, in Anführungszeichen, nur dafür da sind, die Vorschläge aus der Regierung abzunicken oder dafür eine Mehrheit zu beschaffen, sondern wir können dann auch als Parlament aus uns selbst heraus Dinge voranbringen und also auch Dinge verbessern zum Wohle unseres Landes. Das sollte ja auch der Anspruch sein.
Tim Meyer: Du hast es gerade schon gesagt, mit der demokratischen Opposition Zusammenarbeit auf jeden Fall, aber nicht mit der AfD. Aber trotzdem möchte ich über die AfD mal sprechen. Wie nimmst du die denn in den Runden mit den anderen PGFs wahr? Wie treten die da auf?
Irene Mihalic: Das ist ganz interessant. Ich weiß gar nicht, ob ich das jetzt hier so offen erzählen soll. Wir erleben die AfD ja im Parlament als sehr, sehr scharf, um nicht zu sagen unterirdisch in der Arbeit oder in der Art und Weise, wie sie debattiert. Also das ist oft sehr, sehr schlimm, was da auch an Hass und Hetze geäußert wird. Das ist alles ganz furchtbar und auch zum Teil wirklich sehr, sehr schwer auszuhalten. Ich sage mal, wenn die Kamera aus ist, dann erlebt man sie leider häufig auch in einer ähnlichen Art und Weise, aber sie sind dann häufig wirklich ganz klein - so muss man es einfach sagen - und fügen sich dann häufig auch sozusagen den Dingen, die hier so passieren. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass sie einfach gemerkt haben, dass sie nicht immer querbürsten können, dass sie sich selbst damit auch keinen Gefallen tun, weiß ich nicht. Aber so nehme ich sie eben häufig wahr, also als ziemlich lautlos und so. Irgendwie sind sie manchmal auch relativ gelangweilt. Aber es gibt immer so Punkte, wenn es dann doch irgendwie einen Anlass gibt oder eine Situation, wo sie dann doch wieder irgendwie das Gefühl haben, dass sie diese Situation für ihre Hetze missbrauchen können, dann tun sie das auch in internen Runden und das macht die Zusammenarbeit halt eben sehr, sehr unangenehm.
Tim Meyer: Hast du denn das Gefühl, dass die AfD in diesen vier Jahren im Parlament das Parlament auch verändert hat? Also du hast jetzt gesagt, was wir jetzt verändern wollen, dass wir einfach besser miteinander, auch mit den Oppositionsfraktionen reden. Aber hat die AfD es mit ihrer lauten Art irgendwie geschafft, das Parlament zu verändern oder sind die demokratischen Fraktionen stark genug dagegen gewesen?
Irene Mihalic: Also ich würde sagen, dass wir als demokratische Fraktionen wirklich stark genug sind, um dagegenzuhalten, um das nicht mit uns machen zu lassen, aber jetzt gar nicht so sehr mit uns, sondern das, worum es der AfD ja geht, ist ja, das Parlament lächerlich zu machen, ist ja sozusagen alles, was irgendwie parlamentarisch ist, demokratisch ist, diesen Gepflogenheiten entspricht, abzulehnen und wirklich auch ins Lächerliche zu ziehen und irgendwie auch auf die Art und Weise zu delegitimieren. Wir haben als Demokratinnen und Demokraten im Parlament immer dagegen gehalten und ich würde sagen, bisher auch immer erfolgreich dagegen gehalten.
Tim Meyer: Sie haben das sehr häufig bei Abstimmungen gemacht, dass sie den Bundestag gezeigt haben und gesagt haben, es ist niemand da.
Irene Mihalic: Ja, zum Beispiel, das haben die am Anfang versucht, indem sie sozusagen immer komplett geschlossen als Gesamtfraktion, egal zu welchem Tagesordnungspunkt dagewesen sind, bis sie gemerkt haben, dass das in einem Arbeitsparlament, was der Deutsche Bundestag ja ist - die Arbeit findet überwiegend in den Ausschüssen statt - einfach gar nicht so funktioniert. Als sie dann nach einiger Zeit hier wirklich im parlamentarischen Alltag angekommen sind, da hat man das schon sehr deutlich gemerkt, dass das ein untauglicher Versuch war und dass sie das dann am Ende doch wahrscheinlich eher so gemacht haben, wie wir das alle gemacht haben. Aber der Punkt ist einfach der, dass man die AfD nicht als eine ganz normale Fraktion hier im Deutschen Bundestag betrachten kann, weil das ist sie nicht. Sondern das ist eine rechtsextremistische Fraktion, die die Demokratie ablehnt, die den Parlamentarismus ablehnt und der alles zuwider ist, was mit Rechtsstaatlichkeit und mit parlamentarischen Gepflogenheiten irgendwie zu tun hat. Das strahlen die natürlich auch aus und das ist auch die Art und Weise, wie sie hier versuchen, eben auch das Parlament wirklich verächtlich zu machen. Da ist es eben unsere Aufgabe, da auch wirklich immer dagegenzuhalten, die Demokratie, also die demokratischen Prinzipien wirklich hochzuhalten und das eben nicht mit uns machen zu lassen. Ich würde sagen, dass uns das, seitdem die AfD im Deutschen Bundestag ist, als demokratischen Fraktionen insgesamt auch gut gelungen ist.
Tim Meyer: Ist es denn von Vorteil, dass es jetzt mit der CDU-CSU-Fraktion einfach eine größere Oppositionsfraktion gibt als in der letzten Legislatur, und dass die AfD vielleicht nicht mehr die längsten Oppositionsdebattenplätze bekommt?
Irene Mihalic: Ja, das hat auch noch mal etwas verändert, muss man sagen. Also mit der CDU/CSU, die ja jetzt Oppositionsfraktion ist, gibt es natürlich eine große Fraktion in der Opposition, eine, die aber auch weiß, wie das ist, wenn man regiert. Also ich habe eher den Eindruck, dass das die Union gerade noch so ein bisschen das Problem hat, ihre Oppositionsrolle so richtig zu finden. Das müssen die halt auch noch lernen. Die haben jetzt 16 Jahre regiert, jetzt müssen die mal lernen, wie Opposition geht, aber da bin ich ganz zuversichtlich, dass sie das irgendwann auch mal richtig hinkriegen. Nein, aber Scherz beiseite, das, was ich eigentlich damit sagen wollte, war, dass es natürlich in der Auseinandersetzung Koalition-Opposition ja doch für uns natürlich angenehmer ist, mit der Union zu streiten und da die Kontroverse zu suchen als das mit der AfD tun zu müssen, denen es ja gar nicht ja wirklich darum geht, um die beste Position für unser Land zu ringen, sondern die einfach nur das Ganze hier degradieren wollen.
Tim Meyer: Ich meinte aber auch, dass die AfD jetzt einfach weniger Raum bekommt. Ist das merklich?
Irene Mihalic: Ja, das merkt man natürlich schon. Die haben sich ja auch verkleinert. Also sie haben ja bei der letzten Bundestagswahl nicht mehr so gut abgeschnitten wie bei der Wahl davor. Das heißt, es sind jetzt weniger Abgeordnete. Dadurch haben sie auch weniger Redezeit im Parlament. Also die Redezeitverteilung bemisst sich ja auch nach dem Stärkeverhältnis der jeweiligen Fraktion. Das merkt man natürlich schon, dass die jetzt einfach weniger Minuten in den Debatten haben und deswegen weniger Hass und Hetze loswerden können.
Tim Meyer: Kommen wir zum Abschluss noch mal zu etwas Schönem: Die grüne Bundestagsfraktion ist ja jetzt auch Regierungsfraktion, haben wir schon mehrfach darüber gesprochen, und das heißt jetzt, dass endlich ganz viele Ideen aus der Mitte unserer Bundestagsfraktion als Gesetze das Leben der Menschen beeinflussen werden. Aber du bist sicherlich mit noch mehr Abstimmung beschäftigt mit den grünen Ministerien. Was steht denn für dich unter dem Strich dieser neuen Verantwortung, Regierungsfraktion sein?
Irene Mihalic: Regierungsfraktion sein, das bedeutet natürlich das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, also wirklich auch jetzt hier Realität werden zu lassen. Also das ist im Prinzip die Aufgabe, vor der wir stehen. Das ist natürlich auch, wenn es einfach klingt, weil man hat ja alles schon in einem Vertrag festgehalten, nicht einfach, weil das Leben einfach sich nicht in eine Vertragsform gießen lässt. Also wir erleben es jetzt, die Pandemie geht weiter. Also das ist auch nicht die einzige Herausforderung. Wir haben jetzt den Krieg in der Ukraine, etwas was wir noch nicht wissen konnten, als wir den Koalitionsvertrag unterzeichnet haben. Wer weiß, welche Herausforderungen das demnächst noch auf uns warten. Es lässt sich einfach nicht vorhersehen, was unsere Arbeit hier noch alles beeinflussen wird. Unter diesen Bedingungen dann trotzdem das politisch umzusetzen, was man sich vorgenommen hat, das ist im Prinzip die Herausforderung, vor der wir stehen.
Tim Meyer: Für dich persönlich, was heißt das für dich in den nächsten Monaten?
Irene Mihalic: Für mich persönlich heißt das in den nächsten Monaten sicherlich eine ganze Menge Arbeit, aber das gilt ja nicht nur für mich, das gilt ja für die gesamte Fraktion, und dass es nicht langweilig wird.
Tim Meyer: Liebe Irene, vielen Dank für das Gespräch.
Irene Mihalic: Sehr gern!
Tim Meyer: Wie bereits erwähnt, zeichnen wir den heutigen Podcast am 17.3. auf. Wenn Ihr Lob, Kritik oder Fragen loswerden wollt, schreibt uns gerne an „podcast@gruene-bundestag.de". Wenn ihr informiert bleiben wollt, was wir im Bundestag noch alles so machen, schaut auf unsere Webseite „www.gruene-bundestag.de" oder folgt uns in den sozialen Netzwerken auf Instagram, Twitter und Facebook. Vielen Dank für das Zuhören, macht es gut und bleibt gesund. Tschüss.
Irene Mihalic: Tschüss.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
Anlässlich des Internationalen Frauentags diskutieren die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann und Ulle Schauws, Sprecherin für Familie, Senior*innen, Frauen, Jugend und Queer, über Vorhaben, Maßnahmen und Ziele der grünen Frauenpolitik. Es geht unter anderem um Feminismus, Equal Pay, Gewalt gegen Frauen, Gleichberechtigung in der Corona-Krise und den Paragrafen 219a. Es gibt noch viel zu tun. Durch das Gespräch führt Boussa Thiam.
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Transkript des Podcasts
Ulle Schauws: Wie ungerecht es an vielen Punkten in der Welt für Frauen und für Mädchen zugeht, lässt überhaupt keinen anderen Schluss zu, als zu denken, diese Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen und alles dafür zu tun. Das hat mich zur Feministin werden lassen. Und solange diese Ungerechtigkeit nicht beseitigt ist, ist es sehr nachvollziehbar und für mich auch unabdingbar, Feministin zu sein und zu bleiben.
Britta Haßelmann: Die Frage, sich nicht abzufinden mit Benachteiligung, für gleiche Rechte einzutreten, die Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen ins Zentrum zu stellen, das habe ich als junge Frau selbst für mich ganz klar in den Mittelpunkt gestellt und fand es einfach politisch auch zentral.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
Boussa Thiam: Und damit Hallo und herzlich willkommen zu unserem 'Podcast': Uns geht's ums Ganze. Unter der Überschrift "Einmal Feministin, immer Feministin" zum Internationalen Frauentag, freut es mich, dass wir einen so starken und tollen Satz ins Zentrum unseres Gesprächs rücken. Ich darf mich an dieser Stelle kurz vorstellen: Mein Name ist Boussa Thiam, ich bin Moderatorin und Journalistin, arbeite für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Und freue mich sehr, heute zum Weltfrauentag mit zwei sehr engagierten Frauen über Feminismus, 'Empowerment' und das, was die beiden in der Ampelkoalition alles leisten, um für Parität zu sorgen, ins Gespräch zu gehen. Ein Hinweis an dieser Stelle: Wir zeichnen diese Folge auch per Video auf - Hallo. Das geht also auch online anzuschauen, ganz einfach anklicken unter www.gruene-bundestag.de/Frauentag. Eigentlich hätte hier heute auch Bundesfamilienministerin Anne Spiegel sitzen sollen, aber sie ist leider ein Covid erkrankt - Gute Besserung an dieser Stelle. Umso schöner, dass unsere Vorrednerin Britta Haßelmann, Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, eingesprungen ist. Hallo und herzlich willkommen.
Britta Haßelmann: Hallo, ich grüße euch alle.
Boussa Thiam: Sowie Ulle Schauws, frauenpolitische Sprecherin. Herzlich willkommen.
Ulle Schauws: Hallo auch von meiner Seite.
Boussa Thiam: Dann lasst uns doch als Erstes auf den Satz schauen: Einmal Feministin, immer Feministin. Den hat ja Anne Spiegel geprägt, die leider heute krankheitsbedingt nicht hier ist. Aber Ulle, Britta, was bedeutet euch dieser Satz? Fangen wir einmal mit dir an, Ulle.
Ulle Schauws: Also ich glaube, Feministin zu sein bedeutet vor allen Dingen, sich über die Frage des Feminismus Gedanken zu machen. Und festzustellen, wie ungerecht es an vielen Punkten in der Welt für Frauen und für Mädchen zugeht, lässt überhaupt keinen anderen Schluss zu, als zu denken, diese Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen und alles dafür zu tun. Das hat mich zur Feministin werden lassen. Und solange diese Ungerechtigkeit nicht beseitigt ist, ist es sehr nachvollziehbar und für mich auch unabdingbar, Feministin zu sein und zu bleiben.
Boussa Thiam: Wie siehst du das, Britta?
Britta Haßelmann: Einmal Feministin, immer Feministin - das trägt mich eigentlich durch mein ganzes Erwachsenenleben und das ist ja jetzt schon eine Weile alt. Also ich bin im Dezember 60 geworden. Und ich kann nur sagen, für mich hat das biografisch eine hohe Relevanz. Weil die Frage, sich nicht abzufinden mit Benachteiligung, für gleiche Rechte einzutreten, die Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen ins Zentrum zu stellen, das habe ich als junge Frau selbst für mich ganz klar in den Mittelpunkt gestellt und fand es einfach politisch auch zentral. Und deshalb ist der Satz von Anne so richtig, so wahr und so gut.
Boussa Thiam: Also ich höre heraus, es geht viel um Ungerechtigkeit. Und es ist wahrscheinlich auch bedingt durch das Leben, das man führt, dass man sich auch weiterentwickelt. Aber vielleicht auch für die jüngere Generation: Was macht einen denn zur Feministin? Was würdet ihr sagen, Ulle?
Ulle Schauws: Also ich glaube, dass es an vielen Punkten im Leben vielen Frauen erst einmal gar nicht so bewusst wird, wo eigentlich die Benachteiligung ist. Aber zum Beispiel jede Frau, jedes Mädchen hat mit Sicherheit so etwas wie Sexismus oder Anfeindungen oder vielleicht auch nur Sticheleien erlebt, einfach aufgrund der Tatsache weiblich zu sein. Oder der Körper wird bewertet oder es wird Mädchen und Frauen einfach weniger zugetraut oder zugestanden. Und das erleben Frauen - ob sie jung sind oder ob sie älter oder alt sind - in allen Lebensphasen. Und ich glaube, diese Erfahrung teilen alle Frauen und auch noch einmal sicherlich unterschiedlich, je nachdem, wo man lebt, wie man lebt. Und es gibt eben Frauen, die auch noch mehr Benachteiligung erleben, weil sie vielleicht auch noch andere Benachteiligungen in ihrem Leben mit sich bringen. Und dann haben wir einfach auch Mehrfachdiskriminierungen, wovon Frauen auch ganz besonders betroffen sind. Und mit dieser Lebenserfahrung haben Frauen grundsätzlich einfach einen längeren Weg, um anzukommen, auch an einem Selbstbewusstsein. Einfach auch die Stimme zu erheben und Macht und Anspruch auf Mitgestaltung und auf den Machtanspruch zu erheben, sich Raum zu nehmen in der Gesellschaft. Ob es jetzt in der Straßenbahn, im Bus oder ob es auf einer großen Bühne ist oder vielleicht auch in einer Regierung. Dieses Selbstverständnis ist Frauen und Mädchen einfach nicht so gegeben und wird gesellschaftlich auch nach wie vor nicht so gefördert. Und das ist der Grund, warum wir von Bündnis 90/Die Grünen eine feministische Partei sind - das ist die Basis unserer Partei. Und dafür machen wir heute noch Politik.
Boussa Thiam: Und du hast doch gerade schon über intersektionalen Feminismus gesprochen, da gehen wir an späterer Stelle noch näher darauf ein. Britta, würdest du da etwas ergänzen wollen oder findest du, an dieser Stelle kann man auch tatsächlich schon eine Zäsur setzen?
Britta Haßelmann: Ja, in unserem Grundgesetz - was uns allen ja sehr wichtig ist - da ist der Artikel 3. Und dieser Artikel 3, der garantiert Frauen und Männern die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in dieser Gesellschaft. Und das ist etwas, das steht in unserem Grundgesetz, ist aber in vielen Lebensbereichen bis heute nicht Realität - obwohl Frauen mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind. Und das ist natürlich etwas, da müssen wir politisch etwas verändern, damit Frauen den gleichen Zugang zu Macht, zu Verantwortung, zu Zeit und zu Geld haben. Und das ist bis heute nicht so. Und deshalb dürfen wir uns damit nicht abfinden, sondern müssen sagen, der Artikel 3 ist die Ausgangsbasis. Und darauf müssen wir jetzt aber in vielen gesellschaftlichen Bereichen Veränderungen erwirken.
Boussa Thiam: Also es ist eigentlich ganz einfach: Es geht um Gleichstellung. Aber was meint ihr, warum polarisiert der Begriff denn immer wieder? Ich habe schon das Gefühl, dass es sowohl bei Frauen als auch Männern verschiedene Strömungen gibt, die sagen: „Ja, ich bin ja schon für Gleichberechtigung, aber ich bin doch kein Feminist." Oder: „Nein, Feministin, der Begriff ist mir zu krass." Also was meint ihr, warum gibt es da immer noch Menschen die zögern, wenn es um das Thema Feminismus geht oder sich auch dazu zu bekennen? Ulle.
Ulle Schauws: Also es geht natürlich bei der Gleichberechtigung darum, gleiche Rechte zu haben. Und da, wo eine Seite weniger vom Kuchen hat, da hat die andere Seite mehr. Und wenn wir um einen Ausgleich ringen, dann geht es auch darum, dass eine Seite Macht abgeben muss. Um es einmal so krass auszudrücken: Es geht um einen Machtkampf. Es geht um ein Machtgefälle und es geht um einen Machtkampf letztendlich - und das ist nicht angenehm. Deswegen heißt es ja übrigens auch Frauenkampftag - und es hat etwas mit Kämpfen zu tun. Und es geht darum, dass man aushalten können muss, denn wenn man um etwas kämpft, dann gibt es auch natürlich Ärger auf der anderen Seite. Das kennen wir ja. Das Patriarchat ist ja das Beschreiben von: Männer haben die Vormachtstellung - und genau das wollen wir ja nicht mehr. Und deswegen glaube ich, ist es vielen nicht angenehm, in diesen Kampf, in diese Auseinandersetzung zu gehen. Aber ohne geht es eben nicht - von nichts kommt nichts. Und ich glaube einfach, dass es auch ein Teil von feministischem Kampf ist, unbequem sein zu können und das aushalten zu können. Und an dieser Stelle ist deswegen die Solidarität zwischen Frauen sehr, sehr wichtig, weil Solidarität stärkt uns dann auch gemeinsam. Und es gibt übrigens auch nicht wenige Männer, die den Feminismus wichtig finden, die sich auch diesem Kampf anschließen. Und da geht es also nicht um Kampf zwischen Männern und Frauen, sondern gegen eine patriarchale, gegen eine Vormachtstellung von Männern. Und das kann man gemeinsam erkämpfen.
Boussa Thiam: Wenn wir über das Kämpfen sprechen und auch Solidarität. Britta, du hast dich auch kürzlich klar solidarisiert nach dieser unfassbar transfeindlichen AfD-Rede im Bundestag. Ich fand, es klang so, als hättest du wirklich aus tiefstem Herzen gesprochen und einfach noch einmal festgemacht, was du von solchen unsagbaren Sätzen hältst. Ich möchte das jetzt nicht reproduzieren, aber was sind die Grundwerte des Feminismus, vielleicht auch noch einmal an dieser Stelle?
Britta Haßelmann: Ja, es ging um unsere Kollegin und Freundin Tessa Ganserer. Und es hatte jemand in niederträchtiger Art und Weise homophob, menschenverachtend über Tessa gesprochen - und das Selbstbestimmungsrecht von einer Frau, meiner Kollegin, in Frage gestellt. Und das ist etwas, das darf nicht unwidersprochen im Parlament, im Deutschen Bundestag stehen bleiben. Und deshalb habe ich persönlich ein ganz großes Bedürfnis gehabt. Und ich war so froh, dass mit mir alle Demokratinnen und Demokraten dieses Hauses, des Parlamentes auch der Auffassung waren, dass das eine klare Zurückweisung erfordert. Und ja, das war mir ein Bedürfnis, das auszusprechen und zu sagen: Stopp! Widerspruch, Zurückweisung und Entlarvung dieser niederträchtigen, homophoben Art und Weise mit Menschen umzugehen. Weil, das hat ja Methode bei der AfD, Verachtung von Menschen und die Herabsetzung von Menschen - gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Damit versuchen die immer wieder zu arbeiten. Und wenn sich dann so viele solidarisch erklären und das zum Ausdruck bringen im Parlament, dann ist es ein ganz wichtiges Signal. Egal, ob man der CDU-Fraktion angehört oder der Grünen-Fraktion oder der FDP oder der Linken oder der SPD. Und das ist an dem Tag passiert.
Boussa Thiam: Wir sprechen ja auch heute über genau die verschiedenen Aspekte des Feminismus. Da spielt natürlich auch der Queerfeminismus eine Rolle. Ulle, was hat sich da deiner Meinung nach in den letzten Jahren verändert? Aber wo muss vielleicht auch noch weiter gekämpft werden?
Ulle Schauws: Ich mag vielleicht anfangen mit dem, was Britta gerade noch einmal gesagt hat. Auch die Situation, die wir im Plenum erlebt haben zu der vereinbarten Debatte zum Frauentag. Das war ja eine verabredete Debatte zwischen den Fraktionen. Und die ist so unendlich widerlich genutzt worden vonseiten der AfD, um Tessa Ganserer anzugreifen. Und ich wollte nur noch einmal sagen: Erstens hast du uns allen sehr, sehr aus der Seele und aus dem Herzen gesprochen, Britta. Und ich fand diese Klarheit, diese Zurückweisung von so einer übergriffigen, widerlichen Angriffsrede sehr wichtig. Und ich habe sehr viele Reaktionen bekommen nach diesem Plenartag, nach dieser Auseinandersetzung auch von vielen Frauen, von vielen Feministinnen. Die vielleicht auch das mit dem Selbstbestimmunggesetz noch nicht sicher verstanden haben oder sich gefragt haben: Worum geht es hier eigentlich? Und das war so der Anlass auch Tessa Ganserer anzugreifen - was unsäglich war. Aber ich habe so viele aus einer tiefen Überzeugung gehört, die gesagt haben: „Wenn das der Grund ist, wenn das die AfD so nutzt, dieses Selbstbestimmungsgesetz, Menschen wie Tessa und andere zu diskreditieren. Dann habe ich eine sehr, sehr klare Meinung auch zum Selbstbestimmungsgesetz und habe mich auseinandergesetzt damit. Und jetzt weiß ich, worum es da geht." Und das wollte ich noch einmal sagen, weil ich es sehr, sehr wichtig fand und weil es wirklich etwas verändert hat. Was zum Queerfeminismus als wichtiger Punkt natürlich auf jeden Fall noch genannt werden muss, ist natürlich nicht nur das Selbstbestimmungsgesetz, sondern grundsätzlich der Kampf gegen das Patriarchat, was ich eben so gesagt habe, das betrifft eben auch alle marginalisierten Gruppen. Und ich sage jetzt zum Beispiel das Abstimmungsrecht. Also zum Beispiel Zwei-Mütter-Familien oder zwei nicht heterosexuelle Menschen oder heterosexuelle Paarkonstellationen, die Kinder bekommen, die gleichzustellen. Also Kindern von Anfang an, von Geburt an zwei rechtliche Eltern an die Seite zu stellen. Das ist das, was wir nach der Ehe für alle noch dringend brauchen. Was wir im Queerfeminismus grundsätzlich anstreben ist, dass Selbstbestimmungsrecht aller Menschen zu stärken. Und es ist egal, ob es Frauen sind, ob es Transfrauen sind, ob es Frauen mit Behinderungen sind, ob es Frauen mit internationaler Familiengeschichte, 'People of Colour' sind. Es ist ganz grundsätzlich so, dass die Selbstbestimmung von Menschen in jeder Form auch bei allen Fragen der Reproduktion gestärkt wird.
Boussa Thiam: Ich meine, es ist klar, es herrscht Konsens bei uns. Es ist eine wahnsinnig tolle Arbeit, die ihr da leistet, es ist auch ein riesen Engagement, was ich einfach da heraus höre. Aber was ich mich in diesen Debatten immer wieder frage: Es gibt ja durchaus trotzdem auch feministische Aktivistinnen, zum Beispiel die TERFs, die da sehr radikal sind in ihrer Haltung, trotz allem. Warum gibt es da immer wieder Ängste, zum Beispiel vor Transfrauen? Warum gibt es Befürchtungen? Warum schließt man da trotzdem immer wieder Gruppen aus? Ulle, kannst du das vielleicht noch einmal ein bisschen näher erklären?
Ulle Schauws: Also ich glaube, es ist eine Vorstellung, die ... Ich habe jetzt in den letzten Monaten, Jahren sehr viel Diskussionen dazu auch erlebt und viele Fragen auch erlebt, die sich viel damit auseinandersetzen, ganz oft eher so mit biologistischen Fragen. Also die Frage von: Es gibt eigentlich nur zwei Geschlechter und wieso wird das auf einmal verändert? Ich glaube, dass da viel Angst ist, auch vor Veränderung. Ich glaube allerdings auch - und das ist auch mein Begriff von Feminismus und der ist es auch immer gewesen - Feminismus ist nicht biologistisch. Ich glaube, dass die Frage von: Wie viele Geschlechter gibt es? Oder was gibt es auch zwischen den Polen, zwischen männlich und weiblich an Geschlechtern oder Geschlechtsidentitäten? Das ist nicht festgelegt und damit hat sich Feminismus immer schon beschäftigt - so ist das tatsächlich. Und die Angst, dass sich vielleicht auf einmal eine Weltvorstellung verändert oder eine Sicht auf die Strukturen von Geschlechtern, das, glaube ich, macht manchmal Unbehagen und Angst. Und dann wird es jetzt, finde ich, vonseiten derjenigen, die das Selbstbestimmungsgesetz ablehnen, sehr oft so definiert zu sagen, man kann sich nicht einfach sein Geschlecht selber aussuchen. Weil das würde ja bedeuten, wenn jetzt ein Mann sagt: „Ich bin kein Mann, sondern ich bin eine Frau.", dass dann eine Bedrohung, zum Beispiel in Frauenschutzräumen, passieren könnte. Diese Annahme ist an sich, glaube ich, der falsche Anfang, weil ich einfach sagen muss, dass jemand sein Geschlecht erstens selber bestimmen können muss. Da kann sich keiner einmischen, da kann sich auch kein Staat einmischen. Aber dass es niemals so sein kann - aus meiner Sicht -, dass jemand sagt: „Ich möchte meine Geschlechtsidentität oder mein Geschlecht ändern, aber um es zu missbrauchen, um Gewalt auszuüben gegen Frauen." Diese Annahme ist, glaube ich, grundfalsche. Und deswegen ist es auch falsch zu denken, jemand ändert sein Geschlecht und geht in Frauenschutzräume und bedroht Frauen. Das ist eine Diskussion, über die wir jetzt sehr viel Abwehrkämpfe führen müssen, auch mit feministischen Zeitungen wie Emma, die also auch Transfrauen diskreditieren in einer Art und Weise, wo ich sagen muss, das lehne ich zutiefst ab. Und der Angriff bezieht sich einfach auf eine falsche Annahme. Das ist meine Erklärung.
Boussa Thiam: Dann würde ich vielleicht gerne einmal in Richtung Koalitionsvertrag gehen wollen. Denn du hast auch gerade schon die Selbstbestimmung angesprochen. Da geht es ja auch um die Abschaffung des Paragrafen 219a und den hast du, Ulle, konkret mitverhandelt. Was ist euch da jetzt gelungen? Und wo gibt es aber immer noch Spielraum, wo muss man Dinge weiter vorantreiben?
Britta Haßelmann: Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass wir das erreicht haben. Denn seit Jahren beobachten wir und sehen wir wirklich leidend zu, dass Frauen und Ärztinnen und Ärzte kriminalisiert werden, dadurch, dass es den 219a gibt. Und jede engagierte Ärztin in einer Beratungsstelle, in einer Praxis ist diesem Druck ausgesetzt, dass sie nicht einmal darüber sachlich informieren kann, dass sie Frauen in Notsituationen unterstützt und bei Schwangerschaftsabbruchabsicht berät. Und das ist einfach ein unglaublicher Zustand. Vom Selbstbestimmungsrecht her gedacht sowieso, aber auch was die Gesundheitsorge angeht und was die Kriminalisierung von betroffenen Frauen und Ärztinnen und Ärzten angeht. Und wir kämpfen seit Jahren aus voller Überzeugung dafür, dass dieser Paragraf endlich herausgestrichen wird aus dem Strafgesetzbuch. Und alle Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit haben, Frauen in einer Notsituation Information und Aufklärung geben zu können. Und für mich war es so, als ich gesehen habe, in dieser Konstellation Grüne, FDP, SPD, da kriegen wir diesen wichtigen Schritt hin, im Interesse der Selbstbestimmung von Frauen und der Entkriminalisierung, war das für mich ein ganz wichtiges Zeichen. Und ich bin froh, dass das jetzt auch einer der ersten Gesetzentwürfe sein wird, die wir gemeinsam in den Deutschen Bundestag einbringen. Da wird nicht wieder drei Jahre beraten und die Frauen müssen warten, sondern das wird jetzt eins der ersten Versprechen, das wir gegeben haben, das auch eingelöst wird.
Boussa Thiam: Das ist schon einmal positiv, das kann man markieren, finde ich. Das ist etwas sehr Wichtiges, Wertvolles und Schönes. Ein anderer Schwerpunkt ist der Schutz vor Gewalt, der gehört auch zu eurem, zu ihrem Koalitionsvertrag. Dazu gehören die Istanbul-Konventionen. Wo sind da jetzt die Weichen gestellt?
Ulle Schauws: Ich muss noch einmal ganz kurz zurück auf den Paragraf 219a. Und das, glaube ich, ist insofern so ein wichtiger Schritt, den wir jetzt geschafft haben, wie Britta das gerade gesagt hat. Weil an dieser Diskussion, die wir in den letzten Jahren darüber geführt haben, ist ganz interessant, was passiert. Nämlich dass ganz, ganz viele in unserer Gesellschaft - vor allen Dingen Frauen, aber nicht nur Frauen - sich wieder zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren klar gemacht haben, was für eine restriktive Gesetzgebung wir insgesamt haben. Britta hat gerade den 219a erklärt, aber darin war die Empörung ja besonders groß. Wir haben ja darüber hinaus auch geschafft, dass wir tatsächlich auch eine Kommission jetzt einrichten werden - das wird auch sehr zeitnah auf den Weg gebracht -, wo wir auch über eine Regelung des Paragraf 218, der jetzt im Strafgesetzbuch immer noch steht, reden werden. Und wir wollen schaffen zu gucken, ob es eine Regelung außerhalb des Strafgesetzbuches und auch eine Entstigmatisierung und Entkriminalisierung in diesem Bereich geben kann. Das wird auch ein wichtiger und großer Erfolg. Und ich glaube, dass die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein in der Bevölkerung über die restriktive Gesetzgebung sehr, sehr wichtig ist und weitergehen muss. Wir haben aber in der Tat auch den ganzen Bereich des Gewaltschutzes thematisiert und auch ein Ziel, was wir Grüne schon sehr lange verfolgen, nämlich endlich wirklich auch die Umsetzung der Istanbul-Konvention - und zwar vorbehaltlos. Vorbehaltlos, das Wort ist insofern wichtig, dass eben jede Frau, wenn sie aufgrund von Gewalt geschützt werden muss, aber eben kein Aufenthaltsrecht hat, dass sie dieses Aufenthaltsrecht auch bei einer Gewaltbeziehung und einer Trennung bekommen muss. Damit sie nicht aufgrund der Trennung dann aus Deutschland ausgewiesen werden kann. Wir wollen, dass es endlich eine bundeseinheitliche Finanzierungsgrundlage für die Verbesserung von Gewaltschutz - insbesondere Ausbau von Frauenhäusern - bundesweit geben wird. Also die Beteiligung der Länder und der Kommunen - die wichtige und wichtigste Unterstützung endlich auch durch den Bund gewährleisten. Das wird eine große Aufgabe sein. Das haben wir sehr intensiv in den Verhandlungen diskutiert und haben es in den Koalitionsvertrag geschrieben. Und wir werden jetzt mit den Frauenverbänden, mit der Frauenhauskoordinierung und autonomen Frauenhäusern, dem Bundesverband der Frauenberatungsstellen und -notrufen und anderen Fachfrauen von dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und anderen großen Organisationen, der AWO und anderen, hier versuchen - und mit den Ländern - eine Regelung zu finden, wo wir endlich eine bessere Finanzierung des Gewaltschutzes auf die Beine stellen.
Britta Haßelmann: Das ist ein ganz wichtiger Schritt, den Ulle da gerade anspricht, weil viele der Frauen, die von Gewalt bedroht sind, erleben das natürlich hautnah: Wo kann ich hin? Wo gibt es denn Frauenschutzräume in der Stadt, in der Region in der ich lebe? Und Frauen, die in diesen Hilfestrukturen arbeiten, in der Kommunalpolitik aktiv sind, vor Ort sind, die wissen, was das bedeutet, dass wir da so ein Unterangebot haben. Dass wir zu wenig Schutzräume, zu wenig Plätze in Frauenhäusern, in Fluchthäusern haben. Und deshalb ist auch das ein ganz wichtiger Schritt, damit die Frau, die vielleicht in Paderborn im Frauenhaus arbeitet, nicht erst die NRW-Landkarte angucken muss, wo in Nordrhein-Westfalen vielleicht noch ein Platz frei ist für die Frau, die jetzt gerade Hilfe braucht. Und das ist ein ganz wichtiger Schritt. Und wir beraten da wirklich seit Jahren daran herum, an einer Lösung zwischen Bund und Ländern. Und die Leidtragenden sind eben die Frauen und die Hilfestrukturen vor Ort. Und deshalb bin ich froh, dass wir das verankern konnten im Koalitionsvertrag.
Ulle Schauws: Und vielleicht noch eine Ergänzung, weil ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt für alle, die sich auch auskennen, wie Britta das gerade auch beschreibt. Die wissen, es gibt in Deutschland nach wie vor nicht für alle Frauen Möglichkeiten, auch in einen Frauenschutzraum oder in ein Frauenhaus zu kommen. Es gibt Frauen, die fallen im Hilfesystem durch das Raster. Ob das Studentinnen sind, ob das Frauen mit Fluchterfahrung sind, ob es Frauen ohne Aufenthaltsstatus sind, die es auch gibt. Und alles das puffern... Oft sagen auch die Frauen in den Frauenhäusern: „Wir können keine Frau abweisen, wenn sie solche dringenden Schutzbedarfe hat.", und versuchen es hinzubekommen. Aber es geht alles ganz oft auf die Knochen von Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser und die puffern im Prinzip den Gewaltschutz, den der Staat nicht gewährleistet. Und das wollen wir hier endlich nachbessern.
Boussa Thiam: Ich hoffe, unseren Zuschauer*innen und auch Zuhörer*innen geht es genauso wie mir. Ich kriege immer wieder tatsächlich Gänsehaut bei all dem, was ich hier zu hören bekomme von euch. Und auch, was wir hier markieren und was ihr an Arbeit leistet. Es sind sehr viele ernste, wichtige Themen, die wir hier ansprechen, die aber durch eure Politik vorangebracht werden. Ein wichtiger Aspekt ist natürlich auch das Thema 'Equal Pay Day'. Wir zeichnen das heute auf, das kann ich an dieser Stelle, glaube ich, einmal erwähnen. Es ist ein symbolischer Tag. Das heißt, angenommen, Frauen verdienen gleich so viel wie Männer, dann hätten sie bis Anfang März umsonst gearbeitet. Jetzt können wir uns alle überlegen: „Gut, dann machen wir 2023 bis März gar nichts. Einmal sehen, was dann passiert." Aber das Thema Gleichstellung - Stichwort Entgeltgleichheit - das ist ja auch bei euch ein wichtiges Thema. Inwiefern hat es da eine Entwicklung gegeben? Inwiefern ist euch da mehr Transparenz gelungen? Britta.
Britta Haßelmann: Ihr müsst euch einfach vorstellen, seit über 60 Jahren gibt es das Entgeltgleichheitsgebot. Und trotzdem ist es so, dass Frauen für gleichwertige Arbeit weniger Geld verdienen. Und dafür gibt es gar keinen Grund, außer dass man Frauen benachteiligen will. Für gleichwertige Arbeit, muss es gleichen Lohn geben. Das sogenannte 'Gender Pay Gap' beträgt 18 Prozent - das müssen wir uns einmal vorstellen. Und deshalb gibt es jetzt ja seit ein paar Jahren das Entgeltgleichheitgesetz. Aber da müssten wir nachlegen, da gibt es einfach zu viele Ausnahmen. Wir müssten die Wirksamkeit evaluieren. Und wir haben den ganz starken Eindruck - wir Bündnis 90/Grüne-Frauen -, dass wir da noch nachlegen müssen, weil wir glauben, dass wir im Bereich der Angebote von Arbeitsplätzen und der Entlohnung nicht alle erreichen, durch das jetzt konstruierte Gesetz. Das wird jetzt eine Aufgabe sein, die liegt vor uns. Und auch da hat Ulle natürlich hart mit verhandelt. Von daher kann sie bestimmt auch noch eine Einschätzung dazu geben.
Ulle Schauws: Ja gerne. Ich finde, das ist ein Thema, was uns... Man kann es eigentlich fast schon nicht mehr hören, du hast es gerade auf den Punkt gebracht, Britta. Eigentlich gibt es überhaupt keinen Grund und keinen Anlass, wirklich zu sagen: Woran liegt das eigentlich, dass wir immer noch eine ungleiche Bezahlung haben? Und übrigens der 'Gender Pension Gap', also der Gap, die Lücke bei der Rente ist nicht nur 18 Prozent - also hochgerechnet -, sondern die ist bei 53 Prozent. Ich meine, das muss man sich einfach klar machen, dass wir einen Unterschied zwischen Männern und Frauen haben, der bei der Rente noch einmal dreimal stärker durchschlägt. Und es liegt schlicht und ergreifend daran - das wissen wir auch: In Deutschland sind wir wirklich hinten dran. Bei vielen anderen Ländern ist es nicht so eklatant wie bei uns in Deutschland. Man denkt immer wir sind fortschrittlich - nein, sind wir nicht. Wir sind jetzt hoffentlich die Fortschrittsampel. Da wollen wir jedenfalls am Ende schon einmal etwas verbessern können. Aber gerade bei der Entgelttransparenz oder Entgeltgleichheit wollen wir vorankommen. Vor allen Dingen auch - das haben wir auch im Koalitionsvertrag verabredet - bei den Klagen, wenn Frauen zum Beispiel gegen ihre Lohnungleichheit dann klagen wollen. Das müssen sie bisher immer selber und sehr individuell dann tun. Wer macht das schon? Das ist ja eine total hohe Hürde. Da wollen wir - jetzt mit Unterstützung auch durch Gewerkschaften, durch Verbände - die Möglichkeit geben, dass Frauen bei einer Klage unterstützt werden. Das Entgelttransparenzgesetz wollen wir fortschreiben. Und wir wollen natürlich insbesondere auch dafür sorgen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zwischen Männern und Frauen wirklich deutlich besser aufgeteilt wird. Frauen mehr und Männer auch weniger arbeiten und die Care-Arbeit gleicher aufgeteilt wird - weil das ist am Ende wirklich der Haken, an dem es an vielen Punkten hängt. Und 'last but not least' müssen wir natürlich auch für die Steuergerechtigkeit sorgen. Da konnten wir uns ärgerlicherweise bei der Steuergerechtigkeit, beim Ehegattensplitting nicht durchsetzen. Das wäre schön gewesen, wir hätten hier den nächsten Schritt geschafft. Aber da werden wir nicht locker lassen, auch an dieser Schraube weiter zu drehen, bis das Ehegattensplitting endlich abgeschafft ist.
Boussa Thiam: Ja, immerhin. Kleine Anekdote an dieser Stelle: Es gibt vom DFB für die deutsche Frauen-Nationalmannschaft kein Kaffeeservice mehr, so wie das, glaube ich, 1989 noch der Fall war. Aber weil wir jetzt gerade auch über Chancengleichheit und Geschlechterrollen gesprochen haben, müssen wir natürlich auch noch einmal auf die aktuelle Situation zu sprechen kommen - auch bedingt durch die Pandemie. Laut einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts haben nämlich, wenn es um das Thema Familie und Kinderbetreuung geht, zu 71 Prozent die Mütter die Rolle übernommen und sich mit Care-Arbeit - und natürlich was alles damit zusammenhängt - beschäftigt. Das heißt, man sieht wieder eine riesen Diskrepanz. Ich frage mich, werfen Krisen auch wieder das Thema Gleichberechtigung zurück? Was gilt es da zu tun?
Britta Haßelmann: Ja, du hast vollkommen recht. Gerade in der Corona-Pandemie haben wir das genauso erlebt. Das eigentlich gesellschaftliche Zustände, die man verändern will, sich vielleicht doch wieder wie durch ein Brennglas potenzieren. Und wir hatten gerade im Hinblick auf die Frage, wer fängt das eigentlich alles ab in so einer Krisensituation - Care-Arbeit, 'Homeoffice', gleichzeitig Kinderbetreuung, weil die Kitas und die Schulen vielleicht in der ersten Welle geschlossen wurden und dann die Kinder zu Hause über die 'Laptops' digital irgendwie ja Schule gemacht haben. Ich mag das Wort 'Homeschooling' gar nicht, weil es wird der Lebenssituation von Familien da gar nicht gerecht. Und auch die andere Care-Arbeit in Bezug auf Pflege, unterstützende Familienarbeit - ganz vieles ist bei Frauen geblieben. Und das haben wir sehr intensiv diskutiert, auch ihr, Ulle, im Frauenausschuss des Deutschen Bundestages. Jetzt auch untermauert durch ein paar Studien, dass einmal klar wird, das ist nicht einfach irgendetwas, was man so als Eindruck hat. Sondern real waren Frauen wirklich diejenigen - Frauen, Kinder und Jugendliche -, die durch ganz viele Entscheidungen, die in der Corona-Pandemie getroffen wurden - aus Gesundheitsschutzgründen, aus Infektiosschutzgründen - hart getroffen waren.
Ulle Schauws: Ich glaube, das Schwierigste ist eigentlich - Boussa, du hast es gerade eben so ja auch gefragt - der Automatismus. Also ohne dass irgendjemand gefragt hat: „Wie kriegen wir die Krise jetzt geregelt?". Der Automatismus oder dieses Selbstverständnis, dass Frauen das schon machen und übernehmen - also die Care-Arbeit übernehmen und bei sich selbst dann reduzieren, ob es die Erwerbsarbeit ist oder ob es viele selbstständige Frauen sind, die ihre Selbstständigkeit aufgegeben haben, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen. Die haben alle sehr, sehr stark auch Einbrüche in ihrer Karriere erlebt. Und das ist etwas, was Jutta Almendinger sehr stark auch ausgedrückt und gesagt hat, dass das Frauen möglicherweise um Jahrzehnte zurückwerfen wird. Wir haben die Auswirkungen noch nicht überschaut, wir sind ja noch nicht durch die Pandemie durch. Aber wir haben jetzt ja auch eine Bundesstiftung Gleichstellung und andere auch wissenschaftliche Expertise, die sich genau damit auseinandersetzen werden: Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Karriere und auf die Einkünfte letztendlich von Frauen, auf ihren mentalen Zustand? Und das ist, glaube ich, wichtig. Und deswegen haben wir zum Beispiel auch in diesem Koalitionsvertrag als einen Punkt - den wir auch zu Beginn der Pandemie gefordert haben - einen Gleichstellungscheck, den wir jetzt machen werden. Das wird Anne Spiegel als Frauenministerin jetzt in Angriff nehmen. Einen Gleichstellungscheck, so dass wir sagen, alle Gesetze, die wir auf den Weg bringen, müssen die Auswirkungen auf die Geschlechter in den Blick nehmen, damit uns das so nicht wieder passiert. Damit wir also keine Pandemie oder andere Krisen haben, die zulasten einer Seite gehen. Das ist die Fortsetzung dessen, was wir als Feministinnen nicht mehr wollen und uns nicht mehr leisten können.
Boussa Thiam: Genau. Und an dieser Stelle, wenn wir wieder sozusagen den Blick in Richtung Meilenstein und Gleichstellung richten, da finde ich auch sehr wichtig, da habt ihr in der Europäischen Union tatsächlich auch für etwas sehr Wichtiges gesorgt. Denn die Bundesregierung hat nach zehn Jahren ihre Blockadehaltung aufgegeben und die Führungspositionenrichtlinie beschlossen. Was heißt das genau und was wird dadurch in Gang gebracht?
Britta Haßelmann: Ich bin sehr froh darüber. Und wer von euch und Ihnen, die uns zuhören, bei 'Social Media' unterwegs ist, hat vielleicht im Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz, bei der sehr intensiv über Verteidigung, über Sicherheit, über die aktuelle Situation - das war noch vor Ausbruch des Angriffskriegs von Putin auf die Ukraine - diskutiert wurde, gesehen, dass dort auf dieser Konferenz - bei der ich selbst war - noch nie so viele Frauen waren.
Boussa Thiam: Bis auf den 'Lunch'.
Britta Haßelmann: Bis auf den 'Lunch' - deshalb war meine Einleitung so - bis auf den 'CEO-Lunch'. Außenministerin Baerbock, Außenministerinnen vieler anderer Länder, die Vizepräsidentin der USA, die Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen, die Verteidigungsministerin. Es waren so viele Frauen dort, die über Sicherheits- und Friedensordnung dieser Welt diskutierten. Aber beim 'CEO-Lunch' mit der Wirtschaft saßen 30 Männer in einem Mittagessen und berieten die Lage der Nation. Und als ich das gesehen habe im Netz, habe ich gedacht, wie wichtig es ist, dass wir beim Thema Führungsfunktion von Frauen, Frauenquoten, klare Maßstäbe und Linien gesetzlich vorgeben. In Politik, in Wirtschaft und in gesellschaftlich wichtigen Funktionen - dazu gehören auch Kultur und Medien, der Journalismus, alle wissen, wovon wir reden. Es ist einfach so notwendig. Und dass jetzt diese Richtlinie gezeichnet wurde, nachdem sie so viele Jahre blockiert war, ist ein wichtiger Anknüpfungspunkt für unsere nationale Politik auch hier in Deutschland.
Ulle Schauws: Ganz kurz, weil dieser Richtlinienvorschlag mit dem Ziel, den Frauenanteil in den Leitungsorganen börsennotierter Gesellschaften in der EU substanziell zu erhöhen - das ist ja das, was die Richtlinie aussagt. Das Verrückte ist, dass das auf Deutschland eigentlich überhaupt keinen großen Einfluss mehr hat. Weil wir diese Maßnahmen, die hier vorgeschlagen werden oder die hier beschlossen werden - diese Rahmenbedingungen haben wir in Deutschland schon. Das heißt, es ist total absurd, dass Deutschland dieser Richtlinie nicht zugestimmt hat und das Zünglein an der Waage war. Ich gebe zu, in den letzten acht Jahren in der Oppisition - Britta, du weißt es - haben wir das immer massiv kritisiert. Und jetzt sind wir an dieser Stelle zum ersten Mal mit der Ampelkoalition in der Lage, das zu ändern. Und das war so ein erster kleiner Erfolg. Aber es hat für ganz viele europäische Länder und für die Situation von Frauen in anderen Ländern und den börsennotierten Unternehmen einen großen Unterschied. Und das freut uns natürlich sehr.
Boussa Thiam: Und weil wir gerade auch schon ganz kurz das Thema Ukraine gestreift haben, würde ich gerne hier auch natürlich drüber sprechen wollen mit euch. Denn ich habe da auch wieder eine Studie gefunden und zwar ist die von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Die ist zwei Jahre alt, aber die besagt, dass jene Prozesse zu über 60 Prozent besser verlaufen, wenn Frauen daran beteiligt sind. Also meine Frage: Wenn es um Führungspositionen geht, was macht eine weibliche Krisendiplomatie eventuell anders? Was kann sie alles schaffen?
Britta Haßelmann: Ja, ich glaube, das ist so ein Punkt, weshalb wir uns so stark gemacht haben in den Koalitionsverhandlungen. Und dann jetzt auch im Bündnis mit FDP, SPD und uns, Bündnis 90/Die Grünen, eine feministische Außenpolitik vereinbart haben. Wir wollen das mit Leben füllen und wir wollen da einen klaren Akzent setzen. Wir wissen, dass Frauen in Krisenprozessen stabile und verlässliche Partnerinnen sind. Dass Frauen die Fähigkeit besitzen, Konfliktprävention, Verhandlungen und das Zusammenführen verschiedener divergierender Interessen und Ausgleich zu erreichen. Und aus vielen, vielen Erfahrungen in der Welt, in Krisen- und Konfliktsituationen wissen wir, wie wichtig die Nichtregierungsorganisationen, die zivilen Projekte waren, in denen Frauen beteiligt waren, in denen Frauen Prozesse initiiert und gemanagt haben. Und deshalb ist es so wichtig, über solche Fragen zu sprechen und ihnen eine Priorität einzuräumen. Und wenn wir jetzt den Blick in die Ukraine wenden - ich weiß nicht, wie es euch und Ihnen geht -: Es ist ja so, wir als Politiker*innen müssen einen kühlen Kopf bewahren und handeln, wir müssen Entscheidungen treffen. Wie ein hartes Sanktionspaket gegen Putin und sein Regime oder wie Waffenlieferungen für die Ukraine, damit sich dieses Land selbst verteidigen kann. Aber manchmal, wenn ich die Bilder sehe und sehe, wie Frauen unter dieser Zerstörung, dieser Gewalt leiden - Frauen, Kinder, Mädchen, Jugendliche -, dann ist mir zum Weinen.
Boussa Thiam: Ja, man hat es auch gerade gehört, mir ist auch bei dem Thema die Stimme sofort weggebrochen. Denn ich glaube, der Krieg in der Ukraine, der geht uns allen gerade unglaublich nah. Auch wenn man als Politiker*in einen kühlen Kopf bewahren muss, auch wenn man als Journalist*in dazu verpflichtet ist, natürlich das Ganze einzuordnen und sachlich zu bleiben - man ist ja auch ein Mensch. Und vor allem sehen wir auch gerade die Bilder der vielen Frauen, vornehmlich die mit ihren Kindern flüchten aus der Ukraine. Was meint ihr, was bedeutet das jetzt vor allem auch für die, die hier in Deutschland ankommen? Wie wird das vielleicht auch frauenpolitisch die Situation verändern, beeinflussen?
Ulle Schauws: Ja, ich glaube, es ist - auch für uns hier in Deutschland - auch zum Ersten Mal aus einem fast unmittelbaren Nachbarland - die Ukraine ist sehr nah. Dass es da natürlich eine hohe Bereitschaft und große Solidarität jetzt gibt einerseits und andererseits die Situation so ist, dass wir gerade über 90 Prozent Frauen und Kinder haben, die flüchten. Also es ist auch eine neue Situation, in der jetzt ganz viele Dinge organisiert werden müssen - aus meiner Sicht -, die mit genau diesem Blick ... Also mit der Sensibilität dafür, wer kommt. Da kommen Frauen und Kinder - und was brauchen die Frauen und Kinder? Da haben wir jetzt in der Ampelkoalition ja auch viele, viele sehr intensive, schnelle Entscheidungen zu treffen, hierfür auch bundesweit eine gute Versorgung und auch eine gute Aufnahme vorzubereiten. Da sind sehr, sehr viele Kommunen, die sich schon auf den Weg gemacht haben und dabei sind, das vorzubereiten. Aber aus einem frauenpolitischen Blickwinkel ist es wichtig, einfach so zu sehen, was ist hier besonders notwendig, die Traumatisierung von Frauen und Kindern im Blick zu haben, wirklich auch für einen Schutzraum zu sorgen. Weil es bei Traumata einfach wichtig ist, Gewaltfreiheit einfach von vornherein so vorzuhalten, dass an dieser Stelle Schutz ist - der jetzt notwendig ist für die meisten -, dass hier keine Übergriffe passieren. Ich sage jetzt einmal, wir kriegen die ersten Meldungen, dass es auch vielleicht Organisationen gibt, die sich dafür interessieren, auch Wohnraum zu vermitteln. Aber da stellen wir fest, es gibt nicht nur gute Absichten. Man muss sehr, sehr genau darauf achten, dass wir hier auch wirklich einen sehr verantwortlichen Umgang, vor allen Dingen den Frauen und Kindern hier auf die Beine stellen. Ich will trotzdem auch noch einmal sagen: Grundsätzlich - auch im Bezug auf die feministische Außenpolitik - ist es natürlich jetzt bei der Aufnahme das, was ich gerade gesagt habe, wichtig. Aber ich glaube, die Verhandlungen - auch Diplomatie - auf der internationalen Ebene, wie Annalena Baerbock das auch gerade - wie ich finde - auf sehr empathische Art und Weise tut und viele andere Frauen - wie Britta das gerade gesagt hat - auf der Sicherheitskonferenz, die auch auf Krisen noch einmal anders schauen ... Das, glaube ich, ist ein Thema, was wir seit Jahrzehnten immer und immer wieder thematisieren. Die UN-Konvention 1325, die immer sagt: In Krisen und bei Lösungen gegen Kriege oder Kriegsende, müssen Frauen bei diesen Krisenbewältigungs- und Lösungsansätzen beteiligt sein, weil sie anders auf die Lösungen schauen. Weil sie auch sehr deutlich den Unterschied für Lösungen aus Kriegserfahrungen ziehen. Also dass Frauen oft eben nicht nur Betroffene sind von Kriegen im Sinne von, sie werden genauso ausgebombt, sie müssen fliehen, sondern Frauen sind oft sogar die direkten Opfer von Kriegsgewalt. Das heißt, Gewalt auf dem Körper von Frauen ist ein Teil von Kriegsstrategie, Vergewaltigung ist eine Kriegsstrategie. Und das sind andere Betroffenheitsgrade von Frauen. Und das ist eine Herangehensweise bei feministischer Außenpolitik, die genau diese Sichtweise mit sich trägt und nicht ausblendet. Wie das oft sonst in vielen, vielen sehr männlich geprägten Kriegsstrategien einfach nicht der Fall ist.
Boussa Thiam: Britta, möchtest du da noch etwas ergänzen, vervollständigen?
Britta Haßelmann: Es treibt uns einfach alle sehr um, jeden Tag aufs Neue. Und es geht uns allen wahrscheinlich so, auch denjenigen, die uns hier gerade zuhören: Das sind Bilder und Eindrücke, die lassen uns einfach nicht los. Und viele von uns haben sich nicht vorstellen können, dass es zu einem so brutalen Angriffskrieg von Putin auf die Ukraine kommt. Mit all dem Leid, all der Zerstörung, den Kriegsverbrechen und diesem eklatanten Bruch des Völkerrechts. Und wenn wir diese Bilder sehen und dieses Leid und die Zerstörung - die Zerstörung von Kultur, von Städten, von Lebensräumen und von Familien. Dann ist es natürlich unsere humanitäre Verpflichtung und Verantwortung, jetzt Menschen, die hierher fliehen, in viele andere europäische Länder fliehen - das sind in erster Linie Frauen und Kinder -, dass wir denen Unterstützung bieten. Und das heißt soziale Unterstützung. Wohnen, materielle Sicherung, aber eben auch Gesundheitsvorsorge und Traumataberatung, das werden viele, viele von denen brauchen bei dem Erlebten. Und ich bin ganz sicher, das wird uns noch sehr, sehr lange beschäftigen, weil wir wissen nicht, wo dieser Wahnsinn hinführt. Wir sehen auch in Russland selbst eine solche Gewalt und Repression gegen Menschen, die dort gegen Putin und sein Regime auftreten und sagen: „Wir wollen, dass dieser Krieg beendet wird und wir bringen unsere Solidarität mit der Ukraine zum Ausdruck." - Verhaftung, Strafgesetze, all das sind die Folgen. Und das Leid ist groß und es ist für uns alle, glaube ich, eine sehr belastende Situation, damit umzugehen.
Ulle Schauws: Und dabei nicht zu vergessen, dass es insbesondere mit Blick auf Frauen weltweit - wie Afghanistan, wie Jemen, wie in den afrikanischen Ländern, Übergriffen von Boko Haram, Entführungen von Mädchen -, viele Situationen und viele Länder gibt, wo Frauen das erleben, was uns aber dann aus dem Blickfeld gerät. Und deswegen kann ich nur sagen, ich bin nächste Woche bei der UN-Frauenkonferenz in New York, da wird genau dieser Blick getan auf die Krisengebiete dieser Welt. Wo es sehr, sehr viele Frauen und Mädchen sind, die in unser Bewusstsein kommen müssen, wo wir auch global darauf schauen müssen. Aber in allererster Linie ist die Solidarität mit allen Frauen wichtig. Und jetzt werden wir hier in Deutschland sehr konkret mit der Flucht von Frauen aus der Ukraine solidarisch dafür alles tun, auch in dieser Ampelkoalition hier die bestmöglichen Unterstützungen anzubieten.
Boussa Thiam: Es fällt mir gerade schwer, vielleicht noch eine Richtung zu finden, wie wir abschließend noch einmal uns vielleicht einem positiven Aspekt widmen können. Aber ich versuche es dennoch, denn wir haben gerade über Solidarität gesprochen, über die vielen NGOs, über die ganze Unterstützung. Und auch die Hilfe von vielen Zivilist*innen, die einfach mit dabei sind und unterstützen. Deshalb auch noch einmal mit Blick auf den Internationalen Frauentag oder Frauenkampftag. Welche Frauen sind für euch ein Vorbild? Habt ihr feministische Frauen, wo ihr sagt: Die treiben mich an oder die haben mich geprägt?
Ulle Schauws: Ich habe mit Sicherheit keine konkrete Person, wo ich sagen kann, die hat mich geprägt. Wer mich geprägt hat - sage ich immer wieder, die Frage habe ich schon oft bekommen, ist in dem Sinne keine Feministin, aber im Geist einfach die Dinge anders zu machen und anders zu sehen - ist mit Sicherheit Pippi Langstrumpf. Gegen den Mainstream zu bürsten und nachzudenken ist das, was an vielen Punkten, finde ich, den Feminismus ausmacht. Eben die Dinge zu hinterfragen und auch ungewöhnliche Dinge und Wege einzuschlagen, das glaube ich, macht es aus. Und ich würde aber auch sagen ganz aktuell in den letzten Jahren hat mich eine Person sehr beeindruckt. Das ist Jacinda Ardern, die Chefin aus Neuseeland, die es tatsächlich schafft - und ich finde, dass Annalena Baerbock das schon oft sehr, sehr vergleichbar, auch jetzt in den letzten Wochen, seit sie Außenministerin ist, auch schafft - einen anderen Sound, einen anderen Blickwinkel einzunehmen. Aber ihn nicht nur einzunehmen, sondern eben auch auszusprechen und auch umzusetzen. Also wirklich die Sprache und die Herangehensweise als Politikerin auf der Weltbühne, andere Standards und andere Denkstrukturen in den Vordergrund zu stellen, obwohl es jetzt sehr technisch klingt. Aber wir wissen alle, was gemeint ist. Und das glaube ich - das sagen sehr, sehr viele Frauen -, das sind die neuen Vorbilder, die wir brauchen. Denn wenn wir sehen, wo die Despoten dieser Welt herkommen, dann fällt mir da keine einzige Frau ein. Dann ist es männlich und dann sind wir wieder beim Ausgang, nämlich, dass das Ende des Patriarchats wirklich ... Es wird Zeit, dass wir es einleiten. Und es sind die Frauen, die mir Hoffnung machen, von daher sind es für mich schon diejenigen, wo ich sage, sie sollten Vorbilder sein - vor allen Dingen für die jüngere Generation.
Britta Haßelmann: Toll, Ulle. Wir haben gar nicht darüber gesprochen, wen du oder ich vielleicht auswählen. Wir kannten die Frage von Boussa gar nicht. Bei mir ist es Ruth Bader Ginsburg, sicher eine von vielen sehr beeindruckenden Frauen. Ich finde viele Frauen sehr beeindruckend, aber an sie denke ich ganz oft, weil sie wie keine andere, glaube ich - zumindest öffentlich sichtbar -, so eingetreten ist für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Und viele der Fragen, die wir gerade erörtert haben, für die sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Basis - Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Und da war sie immer eine der wirklichen Hüterinnen und der Kämpferinnen - auch insbesondere für Frauenrechte. Und deshalb finde ich, ist sie wirklich ein großes Vorbild für mich.
Boussa Thiam: Um es zusammenzufassen: Dass Frauen die gleichen Rechte und Kompetenzen zugesprochen bekommen müssen, steht, glaube ich, außer Frage, dass es immer noch nicht so ist, es eine Schieflage. Aber es gibt Veränderungen, zum Beispiel mit der ersten weiblichen Außenministerin hier in Deutschland. Es gibt - so fühle ich es - den Aufbruch und vor allem das Bewusstsein, über Missstände zu sprechen und sie auch politisch in Koalitionsverträge hineinzuschreiben und zu verankern. Und deshalb bin ich trotz der ganzen prekären Lage, in der wir uns aktuell befinden, zuversichtlich, dass wir weiterhin einen Schritt nach vorne machen, dass es weiter in Richtung Matriarchat geht. Herzlichen Dank für eure Arbeit und euer Engagement. Vielen Dank an Britta Haßelmann, Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Und auch vielen herzlichen Dank an Ulle Schauws, frauenpolitische Sprecherin von den Grünen.
Britta Haßelmann: Und vielen Dank dir, Boussa.
Ulle Schauws: Danke Boussa.
Boussa Thiam: Mehr Informationen zum Thema gibt es natürlich auch auf der Website gruene-bundestag.de sowie auf allen Social-Media-Kanälen der Grünen. Den Podcast - ich sage es noch einmal an dieser Stelle - haben wir am 07.03.2022 aufgezeichnet. Sollte es Fragen geben, Anregungen, Kritik, ich sage einmal ganz viel interessantes Feedback, dann könnt ihr, können Sie uns natürlich Ihr Anliegen schreiben an podcast@gruene-bundestag.de. Herzlichen Dank, macht es gut.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
Wir sprechen mit unseren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Julia Verlinden und Lisa Paus über den notwendigen Turbo-Ausbau der erneuerbaren Energien. Denn Wind und Sonne sind der Schlüssel für sichere, saubere und auch günstige Energieversorgung. Und wir reden darüber, welche Maßnahmen jetzt notwendig sind, um die Verbraucher*innen kurzfristig zu entlasten.
Ihr könnt den Podcast auch bei Spotify, Apple Podcast, Google Podcast oder Deezer anhören und abonnieren oder diese Feeds nutzen:
Transkript des Podcasts
Julia Verlinden: Klar ist, je höher der Anteil der Erneuerbaren ist, desto stabiler und vorhersehbarer werden die Preise für Energie in der Zukunft auch sein.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
Julia Verlinden: Hallo, ich bin Julia Verlinden. Ich bin 43 Jahre alt und habe Umweltwissenschaften studiert, im Fach Politikwissenschaft promoviert und bin jetzt seit Dezember stellvertretende Fraktionsvorsitzende für die Themen Verkehr, Bauen, Umwelt, Landwirtschaft, Energie, Klima und Tourismus.
Lisa Paus: Ja, mein Name ist Lisa Paus und ich bin 53 Jahre alt. Ich bin von Haus aus Diplom-Volkswirtin und in der Fraktion bin ich jetzt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende für den Fachbereich eins. Das sind die Themen Haushalt, Finanzen, Wirtschaft, Arbeit und Soziales.
Tim Meyer: Ein herzliches Willkommen an die Gästinnen und unsere Hörer:innen. Wir begrüßen euch zu einer neuen Folge "Uns geht's ums Ganze". Heute sprechen wir über die hohen Energie- und Heizkostenpreise. Was das für die Verbraucher:innen und für die Industrie bedeutet und wie wir als grüne Bundestagsfraktion da gegensteuern wollen. Mein Name ist Tim Meyer und ich bin Referent in der Öffentlichkeitsarbeit der grünen Bundestagsfraktion. Gas und andere fossile Brennstoffe, und dadurch auch der Strom, haben sich für die Haushalte im Laufe des Jahres um knapp 5 Prozent verteuert. An der Zapfsäule sind die Preise sogar um 23 Prozent gestiegen. All das hat mit dazu geführt, dass wir im letzten Jahr eine Inflationsrate von 3,1 Prozent hatten. Lisa, warum sind die Energie- und Heizkosten eigentlich so hoch?
Lisa Paus: Das hat schon auch was mit den Nachholeffekten von Corona zu tun. Wir hatten eben einen starken Lockdown und da sind die Energiepreise drastisch gefallen, auf nahe null. Inzwischen sind sie eben deutlich wieder gestiegen, weil die Wirtschaft weltweit wieder unterwegs ist und die Kapazitäten, als natürlich wenig verkauft wurde, auch runtergefahren worden sind. Jetzt es aber etwas braucht, um die Kapazitäten wieder hochzufahren. Deswegen haben wir Ölpreise, die statt bei 10, 15, 20 oder 30 Dollar pro Barrel, jetzt wieder bei 90 liegen. Es schwankt sehr stark. Das kennen wir eigentlich alles aus früheren Geschichten rund um das Öl. Das haben wir eben jetzt wieder und diesmal ist es sozusagen eine Folge von Corona. Wir haben aber auch insgesamt damit zu tun, dass die Lieferketten noch nicht richtig funktionieren. Jeder, der irgendwas bestellt, hat derzeit damit zu tun. Alle Handwerker, mit denen man spricht, sagen einem, dass entweder Holz oder dieses oder jenes knapp ist. Es knirscht eben an ganz vielen Stellen und das wirkt sich dann eben auch auf die Preise aus. Weil wir auf der anderen Seite ja viele Menschen haben, die haben in der Pandemie wenig ausgegeben und können jetzt eben ausgeben. Auf der anderen Seite haben wir noch deutliche Knappheiten und das beides zusammen macht diese Inflation aus.
Tim Meyer: Frage an Julia: Stimmt es denn auch, dass die Maßnahmen für die Energiewende, wie etwa der CO2 Preis, der jetzt gestartet ist oder letztes Jahr ja schon gestartet ist, von 25 Euro pro Tonne, die Energiepreise antreiben?
Julia Verlinden: Also dass die CO2 Bepreisung jetzt dafür verantwortlich ist, dass solche krassen Ausschläge auf den Energiemärkten entstehen, ist nicht so. Es ist im Gegenteil so, dass die größten Verteuerungen, die wir gerade wahrnehmen, eigentlich gar nicht mit dem CO2 Preis zu tun haben, den die Vorgänger-Bundesregierung noch eingeführt hatte. Inzwischen sind es, seit Januar, zwar schon 30 Euro pro Tonne CO2, allerdings macht das wirklich nur einen ganz, ganz kleinen Teil aus. Das, was wir merken, ist das, was Lisa eben beschrieben hat. Dass die Nachfrage nach fossilen Energieträgern massiv gestiegen ist, dass weniger gefördert wird, dass diejenigen, die auch fossile Energieträger auf den Weltmärkten verkaufen, sich natürlich auch freuen über hohe Preise, weil sie dann höhere Einnahmen haben. Und es ist so, dass natürlich das sehr viel auch mit Spekulation zu tun hat. Wir merken, dass die fossilen Energiepreise nicht vorhersehbar sind, dass sie stark schwanken und dass wir sie nicht gut einplanen können. Dass es deswegen umso besser ist, wenn wir uns unabhängig davon machen, weil die fossilen Energiepreise im Zweifel immer unvorhersehbar sind, immer schwankend sind und perspektivisch auch steigen werden. Weil natürlich auch die Nachfrage eine Auswirkung darauf hat, wie die Preise zustande kommen. Ich glaube, dass es wichtig ist zu sagen, dass die Klimaschutzmaßnahmen uns eigentlich dabei helfen, die Preise eher stabil zu halten. Denn es geht ja darum, dass wir, wenn wir auf die Erneuerbaren setzen, sehr verlässliche Preise haben. Wir wissen ganz genau heute, wenn ein neuer Windpark gebaut wird oder ein neuer Solarpark, für wie viel Cent pro Kilowattstunde hier der Strom produziert werden kann. Denn die Sonne schickt keine Rechnung. Es geht halt nur um die Investitionskosten am Anfang. Deswegen ist es klug, wenn wir viel, viel mehr in die Erneuerbaren investieren und damit auch weniger, mit diesen hohen fossilen Preisen konfrontiert sein werden.
Tim Meyer: Genau, du erklärst es gerade schon. Die Kosten für fossile Energieträger sind massiv gestiegen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir die erneuerbaren Energien ausbauen, um für stabile Preise zu sorgen. Deshalb auch die Frage nach der EEG-Umlage, die zur Förderung des Ausbaus der Erneuerbaren gedacht ist. Diese soll jetzt zum 1. Januar 2023 für die Verbraucher:innen abgeschafft werden. Lisa, wird das Auswirkungen auf die Energiepreise haben und für Entlastung sorgen?
Lisa Paus: Das ist jedenfalls der Plan, sonst wird es sicherlich nicht so viel Sinn machen. Zwar würde ich darauf hinweisen, auch in diesem Jahr profitieren wir schon davon. In diesem Jahr ist die EEG-Umlage schon halb so hoch, wie noch im vergangenen Jahr und deswegen haben wir auch diesmal schon geringere Preise. Bei dem ganzen Thema ist aber total wichtig, mit darauf hinzuweisen, dass es auch bei den Verbraucher:innen ankommt. Das ist im Moment nicht umfänglich der Fall, sondern ganz viel bleibt bei den Energiekonzernen noch hängen. Deswegen ist bei uns jetzt auch ganz zentral wichtig, bei der Abschaffung der EEG-Umlage, dass von diesen Senkungen dann tatsächlich auch die Verbraucher:innen profitieren. Davon profitiert übrigens auch die Wirtschaft. Die zahlt auch EEG-Umlage und profitiert eben auch von deren Abschaffung. Das ist also nicht nur etwas, was an die privaten Haushalte geht, sondern davon profitiert auch die Wirtschaft. Von daher ist es eine breite Entlastung. Es ist auch insgesamt richtig, weil wir wollen ja, dass nicht mehr unspezifisch Energie teuer ist, sondern dass die fossile Energie teurer wird. Das ist auch wichtig für die Wirtschaft und für die Gesellschaft, dass wir eine Planbarkeit haben, dass wir ernst machen mit der Klimaschutzstrategie. Dafür brauchen wir auch eine klare Perspektive, dass fossile Energieträger teurer werden, dass aber nicht Energie insgesamt teurer wird, sondern dass sie in Erneuerbaren eben entsprechend ihrem Preisvorteil günstiger werden. Das ist ja jetzt schon so. Wind und Sonne sind derzeit die günstigsten Energieformen. Das spiegelt sich aber noch nicht eins zu eins beim Verbraucher und bei den Verbraucherinnen wider. Da müssen wir eben immer stärker hinkommen, dass das dann auch tatsächlich so ist.
Tim Meyer: Genau. Wichtiges Stichwort "Was kommt bei den Verbraucher:innen an?" Für Geringverdiener und Bezieher:innen von Wohngeld wurde jetzt von der Regierung ein Heizkostenzuschuss auf den Weg gebracht, der im Juni ausgezahlt werden soll, wenn die Heizkostenabrechnung mit deutlich höheren Nachzahlungen als bisher ins Haus flattert. Das ist aber nur eine kurzfristige Lösung und als einmalige Unterstützung geplant. Welche Pläne gibt es denn, um langfristig bei steigenden Kosten zu unterstützen? Klar, ihr habt jetzt gerade erklärt, dass es darum geht, ja auch die Energiekosten zu senken, aber das wird ja wahrscheinlich nicht so schnell gehen. Vielleicht die Frage an Lisa. Wie können wir denn langfristig die Verbraucher:innen da unterstützen?
Lisa Paus: Langfristig hilft nur durch entsprechende Investitionen in den Umbau. Das war ja auch unser Kern, nicht nur im Wahlkampf, sondern auch in der Verankerung des Koalitionsvertrages. Dass wir gesagt haben: "Die nächsten zehn Jahre, das muss das Jahrzehnt der Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung sein." Wir haben eben derzeit die klimaneutrale Infrastruktur noch nicht und die klimaneutrale Wirtschaft nicht. Nur dann, wenn wir das tatsächlich jetzt einleiten, mit großen Schritten, kommen wir dahin, unabhängig zu sein von diesen stark schwankenden und immer teurer werdenden fossilen Energiepreisen. Das ist das, was wir jetzt schaffen müssen. Deswegen planen wir ja umfangreiche Investitionen, sowohl in den Gebäudebestand, als auch was das Thema Mobilität angeht etc. Das sind alles Themenbereiche, für die Julia jetzt nun wiederum zuständig ist. Kurzfristig machen wir aber auch was, Heizkostenzuschuss hast du schon gesagt. Die EEG-Umlage würde ja vor allen Dingen dann auch wieder auf den Strom wirken. Der Strom ist auch etwas teurer geworden, aber ist momentan nicht das Hauptthema, sondern es ist eben eher tatsächlich das Thema Tanken und das ist das Thema Heizen. Deswegen ist der Heizkostenzuschuss da sehr zielgerichtet. Es ist so, dass eben Familien mit Kindern stärker davon betroffen sind, als beispielsweise Alleinstehende. Deswegen setzen wir uns auch dafür ein, dass ein Kinderzuschlag, eben auch kurzfristig kommt, um auch ganz konkret Familien mit Kindern zu entlasten. Ich persönlich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass wir beim Thema Regelsatz noch mal anpassen, weil beispielsweise Stromkosten eben nicht vom Regelsatz abgedeckt sind. Da ist es nun wiederum andersherum. Bei Hartz IV werden die Heizkosten übernommen, aber die Stromkosten eben nicht. Und je nachdem, welchen Vertrag man gerade hat oder in welcher Situation man ist, kann das wirklich richtig drastisch sein. Wir wollen nicht, dass eine nächste Abschaltwelle von Strom kommt und deswegen müssen wir dringend nachsteuern.
Tim Meyer: Willst du noch was hinzufügen, Julia?
Julia Verlinden: Ja, gerne. Ich wollte das noch mal unterstreichen, was Lisa gesagt hat. Wir wissen jetzt, die fossilen Preise sind sehr schwankend, sie sind tendenziell teuer und sie belasten die Menschen in ihren Wohnkosten. Deswegen ist das, was wir als Grüne auch wirklich schon seit vielen, vielen, vielen Jahren sagen, nämlich wie wichtig die Wärmewende ist. Wie wichtig das ist, dass wir die Potenziale heben, die es im Gebäudesektor gibt. Es gibt Studien, die gehen davon aus, man könnte ungefähr die Hälfte des Energieverbrauchs von allen Gebäuden in Deutschland mit technischen Maßnahmen reduzieren. Das heißt, wir könnten denselben Komfort, dieselbe Wärme in den Häusern haben, aber mit viel, viel weniger Energieeinsatz. Das ist also noch ein großes Projekt, was vor uns liegt, was extrem wichtig ist, auch für den Klimaschutz. Deswegen haben wir ja auch dazu im Koalitionsvertrag verschiedene Dinge festgehalten, nämlich beispielsweise, dass perspektivisch nur noch erneuerbare Heizungen eingebaut werden. Dass die Energieeffizienz-Standards von Gebäuden sehr viel ambitionierter werden müssen und all diese Dinge müssen wir jetzt beherzt angehen. Es ist richtig, es wird nicht von heut auf morgen jedes Gebäude gedämmt werden, nicht jede Heizung ausgetauscht. Aber je länger wir damit warten, umso schlimmer ist es ja für die Menschen. Deswegen ist es so wichtig, dass hier jetzt auch die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür gesetzt werden, damit diejenigen, die in Wohnungen leben, die noch nicht so einen hohen Energieeffizienz-Standard haben, sehr bald dann davon profitieren können, dass wir diese Projekte umgesetzt haben.
Tim Meyer: Dann sollten wir vielleicht auch kurz die KfW-Förderung ansprechen. Für den Bau von Energiesparhäusern beziehungsweise die energetische Sanierung. "In einer Regierung mit den Grünen werden jetzt plötzlich Energiesparhäuser nicht mehr gefördert" war so ein bisschen der Aufschrei. Warum ist denn die KfW-Förderung für den Bau von Energiesparhäusern jetzt so plötzlich ausgelaufen und wird es eine neue Förderung geben?
Julia Verlinden: Also das ist eigentlich eher das... Das war ein bisschen eine falsche Überschrift, muss ich sagen. Letztlich ist es so gewesen, dass ein bestimmtes Förderprogramm, was die Vorgängerregierung aufgesetzt hatte und für das sie schon das Ende für Ende Januar angekündigt hatte, heillos überzeichnet war. Das viele Tausende, Zigtausende von Anträgen mehr eingegangen sind, als eigentlich mit dem Haushalt gedeckt waren. Das heißt, eigentlich war das Geld gar nicht da. Die Anträge waren aber da. Es gab einen großen Run darauf und das waren keine Energiesparhäuser, sondern das sind Gebäude gewesen, die heutzutage den ganz normalen technischen Stand entsprechen. Aber all diejenigen, die ein Haus gebaut haben, haben gesagt "Na ja, wenn es Förderung gibt, dann beantrage ich die natürlich auch." Was wirklich klimafreundlich ist, ist eigentlich ein viel besserer Standard. Deswegen hat sich die Regierung darauf verständigt, dass in Zukunft nur noch echte Klimaschutzhäuser gefördert werden. Dafür wird das neue Programm sehr zeitnah auch aufgelegt und bekannt gemacht. Die andere Frage nämlich "Wie schaffen wir ausreichend bezahlbaren Wohnraum?" ist ja auch eine Frage, die baupolitisch entschieden werden muss. Die auch flankiert werden muss, auch aus anderen Haushalten. Dafür können wir jetzt nicht ausschließlich den Klimafonds nutzen. Hier ist jetzt die Bauministerin dran, ein entsprechendes Programm zur Unterstützung von sozialem Wohnungsbau aufzulegen und das wird dann ein zusätzliches Programm dafür sein. Aber das Wichtigste bleibt nach wie vor, ausreichend Geld zu haben für die Förderung von der Sanierung von bestehenden Gebäuden. Weil das ist besonders intensiv, was Planung, Personaleinsatz und auch Kosten betrifft. Bringt aber extrem viel, auch für den Klimaschutz, insbesondere den Menschen, die heute schon drin wohnen. Wir haben eben darüber gesprochen und damit die möglichst Warmmietenneutral in ihren Häusern leben bleiben können und da nicht zu hohe Belastungen erfahren. Deswegen ist es gerade dort so wichtig, finanzielle Förderung in die Bestandssanierung zu stecken.
Lisa Paus: Ja, wenn ich das noch mal kurz ergänzen darf. Die Wahrheit war ja, es hat ja schon ein Datum. Das einzige was jetzt passiert ist, es ist eine Woche vorgezogen worden und es ist eine Woche vorgezogen worden, weil es eben dramatisch überbucht war. Dieses Programm war eben keine Klimaschutzförderung und da bin ich dann auch mal ordnungspolitisch unterwegs. Wir haben das ja jetzt mit Härtefällen-Bestandsschutz noch mal angepasst. Aber die Wahrheit ist ja, es war eine Eigenheimzulage 2.0, es war eine völlige Überförderung. Alle, die das Programm genutzt haben, haben das bestätigt. Man hat nur gesagt, sie haben jetzt damit gerechnet und haben jetzt ein finanzielles Loch. Aber wenn wir etwas machen, wo Klimaschutzmaßnahme drüber steht, dann sollte bitte auch Klimaschutzmaßnahme drin sein. Das wird jetzt mit der neuen Regierung zügig umgesetzt werden.
Tim Meyer: Ich möchte noch mal einen Schritt zurück machen. Wir haben es vorhin schon angesprochen. Es geht ja auch um die energieintensive Industrie. Also es ist ja nicht nur problematisch, die Energiepreise für Menschen mit geringem Einkommen oder letztendlich ja auch für alle, sondern eben auch für die Industrie. Lisa, welche Pläne hat denn die grüne Bundestagsfraktion hier zu unterstützen?
Lisa Paus: Robert Habeck hat ja eine Klimabilanz vorgelegt und hat deutlich gemacht, wie groß die Herausforderungen eigentlich sind. Auch ich, die mich ja schon länger damit beschäftigt - ich bin ja Grüne und kenne auch unser Programm -, war doch auch noch mal zusätzlich geflasht, was für ein Tempo wir da jetzt vorlegen müssen. Ausbau der Erneuerbaren verdreifachen, mit all den Fragen, die da dranhängen, planungsrechtlich und so weiter, aber natürlich auch finanziell. Beispielsweise werden wir diese sogenannten "Contracts for Difference" einrichten, für die besonders energieintensive Industrie, wie Stahl und so. Die eben dann die Differenz zwischen ihren derzeitigen Energiekosten und denen, die sie zahlen müssten, wenn sie jetzt voll umsteigen auf grünen Wasserstoff beispielsweise, übernehmen. Dass diese Differenz eben tatsächlich für einen Übergangszeitraum übernommen wird und dann später zurückgezahlt wird, so dass wir gemeinsam diese Transformation schaffen können. Ähnliche Instrumente haben wir eben auch für die anderen Sektoren, damit wir es gemeinsam schaffen. Wir werden das Ordnungsrecht ändern, aber wir werden natürlich auch finanzielle Unterstützung da leisten, wo es notwendig ist. Wenn wir schnell sind, dann haben wir zum einen die Unabhängigkeit von den fossilen Energieträgern, zum zweiten sind wir vorne dran, was das Thema Klimaschutz angeht. Und wenn wir es gut machen, dann stärkt das sogar auch noch unsere Exportwirtschaft, weil wir dann auch zeigen, dass wir es können und das dann auch exportieren können.
Tim Meyer: Stichwort "Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern". Da müssen wir ein Thema auch ansprechen, das ist Russland. Erdgas nimmt im deutschen Energiemix einen Anteil von über 25 Prozent ein. Also im Energiemix, nicht im Strommix. Gleichzeitig gibt es bei Gas eben diese Abhängigkeit von Russland. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?
Julia Verlinden: Klar, die Unabhängigkeit von fossilen Importen, die erreichen wir durch die Energiewende und durch ein beherztes Voranschreiten. Wir nutzen sehr viel von dem Erdgas, was wir im Augenblick importieren, für die Beheizung von Gebäuden. Es sind natürlich nicht nur Wohnhäuser, sondern auch Schulen, Turnhallen, Bürogebäude usw. Aber all diese Heizungen, die dort in den Kellern stehen, die haben ein Update verdient. Deswegen ist es so wichtig, dass wir jetzt bei der Wärmewende vorankommen, um hier eben auch unabhängiger zu werden von dem, was die Preise eigentlich auf dem Weltmarkt kosten und von wo wir sie möglicherweise einkaufen oder einkaufen müssen, weil wir vielleicht jetzt auch nicht so viele Alternativen haben. Wir sind ja auch so aufgestellt, dass wir beispielsweise auch Erdgas aus Norwegen beziehen in Europa. Die Niederländer fördern auch noch Erdgas. Die haben allerdings auch das Ende der Erdgasförderung schon eingeläutet. Vollkommen zu Recht, weil Erdgas ja ein fossiler Brennstoff ist und wir aus Klima-Gesichtspunkten natürlich auch da den Ausstieg vorbereiten müssen. Zum anderen, weil es auch bei der Förderung von Erdgas auch immer wieder ökologische Schäden gab, wie Erdbeben, Schäden an Gebäuden und all diese Dinge. Das erlebe ich in Niedersachsen ja auch, wo ich seit vielen Jahren lebe, dass die Debatte um das Erdgas da auch sehr intensiv geführt wird. Ich glaube, es ist total wichtig, dass wir hier auch unsere Unabhängigkeit dadurch natürlich beweisen, indem wir noch mal auch öffentlich deutlich machen, wie schnell wir jetzt beim Thema Energieeffizienz und Ausbau der Erneuerbaren vorangehen. Denn selbstverständlich gibt es auch noch Energieeffizienz und Ressourcen-Einsparpotenziale in der Industrie. Dazu gibt es auch verschiedene Förderprogramme auf der einen Seite, aber auch Möglichkeiten, dass über Beratungsleistungen für die eigenen Unternehmen, auch diese Potenziale zu identifizieren. Ein ganz klassisches Beispiel ist, dass viele Kommunen, die ein Wärmenetz betreiben, oft gar nicht wissen, welche Abwärmepotenziale ein Gewerbebetrieb oder Industriebetrieb nebenan hat. Diese Abwärme könnte man ganz wunderbar in dieses Wärmenetz einspeisen und dadurch quasi die Energie recyceln oder zweitverwerten, die in dem Unternehmen sowieso entstanden ist und damit dann noch mal zusätzlich auch Gebäude wärmen. Also insofern ist es gut, wenn wir sehr übergreifend diese Transformationsthemen auch betrachten und nicht immer so sektoral, hier ist die Industrie und da ist die Wärme und so weiter. Das sind ganz wichtige Dinge. Ich glaube, dass es auch klug ist, selbstverständlich auch hier europäisch zu denken und auch natürlich strategisch zu überlegen, wie kriegen wir das hin, dass auch die vorhandenen Gasspeicher im Sommer gefüllt werden, damit wir sie im Winter dann auch zur Verfügung haben und uns da dann auch ein bisschen Puffer zur Verfügung steht. Natürlich dann auch gucken, wie wir europäisch auf diese Herausforderung, dieser großen Abhängigkeit - nach wie vor - von den fossilen Brennstoffen, reagieren wollen und wie wir da gut zusammenarbeiten. Ein Stichwort noch. Das Gas der Zukunft ist eine deutlich niedrigere Menge, die wir für die Versorgung in Deutschland brauchen und vor allen Dingen ist sie grün. Das heißt, wir werden auch in Zukunft vor allen Dingen auf Wasserstoff setzen, aber auch auf andere grüne Gase. Beispielsweise ist das Bio-Methan oder Bio-Gas ja auch heute schon Teil unseres Energiemix.
Lisa Paus: Genau. Aber die Wahrheit ist, momentan sind wir eben abhängig und das macht noch mal deutlich, welchen Weg wir da eigentlich zu gehen haben. Insgesamt ist seit Corona das Thema kritische Infrastruktur doch stärker in den öffentlichen Fokus geraten. Da ging es jetzt eher allgemein darum, inwieweit hat man dann eigene Ressourcen? Stichwort Masken, Impfstoffe etc. Leider haben wir jetzt eben eine neue, erweiterte Dimension, wie wir sie schon lange nicht mehr hatten. Wir hatten ja seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dann eben auch des Kalten Krieges eine andere Situation. Wir haben das Thema kritische Infrastruktur tatsächlich jetzt noch mal neu zu denken, auch im Sinne von geopolitisch. Deswegen finde ich es gut, dass wir auch, vor allen Dingen, jetzt im Rahmen der Europäischen Union in diesem Zusammenhang denken und das Thema kritische Infrastruktur auch einen hohen Stellenwert innerhalb der Europäischen Union hat. Es ist ja im Zuge der Corona Krise geschaffen worden, der Next Generation Fund. Mit diesem Next Generation Fund sind auch eine Reihe von europäischen Infrastrukturprojekten bereits angestoßen worden und ich denke, es wäre sehr wichtig, wenn wir genau diesen Weg weitergehen und nicht nur gemeinsame europäische Projekte vereinbaren, sondern sie auch über gemeinsame europäische Finanzierung dann auch möglich machen.
Tim Meyer: Ihr sprecht jetzt schon Europa an, dann muss ich jetzt einmal die Taxonomie ansprechen, die auch in den letzten Wochen ein großes Thema war. Denn die EU-Kommission bleibt dabei, sie will Investitionen in Atomkraft und Erdgas unter bestimmten Auflagen als nachhaltig einstufen. Könnt ihr einmal ganz kurz noch mal erklären, was das eigentlich genau bedeutet, diese Taxonomie?
Lisa Paus: Ja, also erstmal ist die Taxonomie eine reine Kapitalmarkt Angelegenheit gewesen. Deswegen ist auch der Finanzausschuss im Deutschen Bundestag und das Finanzministerium dafür federführend. Weil es ging darum, dass es eben bisher im Kapitalmarkt keinerlei gesetzliche Regelungen dafür gibt, was ein nachhaltiges Anlageprodukt ist. Wir erinnern uns alle noch miteinander, wie Renate Künast seinerzeit das Bio-Siegel auf europäischer Ebene eingeführt hat. Vorher gab es auch schon natürlich ökologische Nahrungsmittel. Da haben eben verschiedene Anbieter, wie Demeter oder andere eben gesagt, wie sie das produzieren. Aber es war eben in die Selbstverpflichtung der Produzenten gelegt, was sie da machen, ob sie das einhalten und inwieweit das jetzt wirklich ökologisch oder auch Greenwashing ist. Seinerzeit hat eben Renate Künast als Landwirtschafts- und Verbraucherschutzministerin dann durchgesetzt, dass es ein europäisches Siegel gibt, eben das Bio-Siegel, das eben zumindest bestimmte gesetzliche Standards festlegt, die auf jeden Fall erfüllt werden müssen, damit ein Bioprodukt, Bioprodukt genannt werden darf. Deswegen haben wir jetzt entsprechende gute Kennzeichnungen. Das heißt nicht, dass wir in den Supermärkten und so weiter nur Bioprodukte haben, wie wir alle miteinander wissen. Da gibt es noch haufenweise konventionell produzierte Nahrungsmittel. Aber der Verbraucher und die Verbraucherinnen können sich darauf verlassen, dass eben da, wo Bio-Siegel draufsteht, auch Bio-Siegel drin ist. Das Gleiche wird jetzt eben für den Kapitalmarkt eingeführt. Dass sich eben auch Anleger darauf verlassen können, dass gewisse Standards eingehalten werden bei einem Anlageprodukt. Wenn das im Prospekt drinsteht, dann wird das auch eingehalten. Das muss man natürlich auch festlegen. Was ist ein nachhaltiges Produkt? Das hat die Taxonomie gemacht. Die Experten haben sich viel Mühe gegeben und haben ein wirklich gut wissenschaftlich basiertes Konzept auf die Beine gestellt für die Taxonomie und dann ist es leider in die politischen Mühlen geraten. Dann hat Frankreich festgestellt, dass Atom ja gar nicht drinsteht und dass das nicht gut ist für Frankreich. Dann haben andere festgestellt, dass da Gas ja gar nicht drin ist und dass sie das vielleicht schlecht aussehen lässt. Dann gab es natürlich auch noch Lobbyisten, die festgestellt haben, wenn das jetzt alles durchleuchtet wird bei ihnen, dass das dann auch nicht so gut aussieht, dass sie dann gar nicht so grün sind, wie sie ursprünglich mal vorhatten zu tun. Aus all diesem ist dann eben das entstanden, was uns den Neujahrsmorgen versaut hat - um es mal klar zu sagen -, nämlich dass die EU-Kommission gesagt hat "Hey, übrigens, wir haben nach dem ersten Delegierten Rechtsakt einen zweiten gemacht und indem haben wir festgelegt, dass Atom und Gas nach gewissen Kriterien dann doch auch als nachhaltig einzustufen sind." Wir lehnen das ab.
Tim Meyer: Und ist das denn noch zu verhindern?
Lisa Paus: Es gibt eine theoretische Möglichkeit. Erstmal ist es so, es ist keine Richtlinie, die in Deutschland auch angepasst umgesetzt werden müsste. Es ist eben ein Delegierter Rechtsakt und da ist es so, dass die EU-Kommission direkte Kompetenz hat, das zu machen. Es ist sozusagen direkt wirksam. Es gibt ein Konsultationsverfahren. Im Europäischen Rat sieht es leider momentan nicht gut aus. Im Europäischen Parlament sieht das etwas besser aus, aber jetzt auch noch nicht so, dass man sagen könnte "Das klappt auf jeden Fall", sondern eher im Gegenteil. Es gibt auch die Überlegungen, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, dagegen zu klagen, weil das Thema Atom in der Europäischen Union auch eine besondere Verankerung und Bedeutung hat. Auch das prüfen wir derzeit intensiv. Auch Österreich prüft das, so dass man zumindest vielleicht beim Atom noch etwas machen kann. Es ist jedenfalls sehr schwer. Es kann sein, dass das nicht geändert werden kann.
Julia Verlinden: Ich glaube auch, dass es schwierig ist, wenn jetzt Gelder in Technologien fließen, die das Gegenteil von nachhaltig sind. Gerade bei der Atomkraft ist es ja so, dass die Risiken nicht vor Landesgrenzen Halt machen. Deswegen ist diese Debatte, die wir europäisch gerade führen oder beziehungsweise, wo ich manchmal höre, dass Menschen sagen "Na ja, letztlich ist es ja egal. Jedes EU-Land entscheidet für sich, welche Energiepolitik sie machen." Nein. Zum einen ist es so, dass Klimaschutz natürlich international vorangebracht werden muss und dafür braucht es massive Investitionen in die Erneuerbaren und in Energieeffizienz. Zum anderen ist es auch so, dass auch atomare Risiken uns in ganz Europa betreffen würden. Deswegen glaube ich, dass es sinnvoll ist, dass wir Grüne auch weiter uns dafür einsetzen, einen europäischen Atomausstieg als Ziel zu verfolgen. Die Atommüll-Problematik ist die eine, wofür wir in den allermeisten Ländern noch keine befriedigende Antwort darauf haben, wo der eigentlich eine Million Jahre lang gelagert werden soll. Die andere Frage ist nämlich, dass Atomkraftwerke aufgrund ihres hohen Risikos nicht versicherbar sind und wer dann eigentlich die Kosten trägt im Fall eines nuklearen Unfalls. Das ist die nächste Herausforderung. All das spricht dafür, auf saubere Technologien wie Sonne und Wind zu setzen und eben nicht weiter die Verlängerung von Reaktoren, die schon sehr, sehr alt sind und deren Laufzeit sozusagen. Die direkt an unseren Grenzen stehen, auf der anderen Seite des Rheins beispielsweise. Da sich auch beherzt zu engagieren, dass diese Technologie auch in ganz Europa zeitnah ein Ende findet, weil das nicht verantwortbar ist.
Tim Meyer: Kommen wir noch mal zu den Bürgerinnen und Bürgern, zu den Menschen. Was die eigentlich auch tun können, um sich an der Energiewende zu beteiligen oder wie auch Gebäude genutzt werden sollten. Denn im Koalitionsvertrag steht, dass alle geeigneten Dachflächen zukünftig für Solarenergie genutzt werden sollen. Bei gewerblichen Neubauten soll es verpflichtend sein, bei privaten Neubauten soll es die Regel werden. Wie schätzt ihr das Potenzial denn ein, das umzusetzen?
Julia Verlinden: Also das ist extrem wichtig, dass wir jedes Dach, was uns in Deutschland zur Verfügung steht, für die Gewinnung von sauberem Strom nutzen. Selbst das wird auch am Ende nicht reichen, um die komplette Energieversorgung ökologisch zu machen. Wir brauchen natürlich auch die Windenergie. Aber der Vorteil von der Solarenergie ist ja tatsächlich, dass es relativ einfach umzusetzen ist und wenn sich Menschen zusammentun, auch ein wunderbares Bürgerenergie-Projekt ist. Ich kenne sehr viele Energiegenossenschaften, wo Menschen zwei oder drei tolle Sachen miteinander verbinden. Das eine ist gemeinsam wirtschaften, das zweite ist die Energiewende voranbringen und das dritte ist, dass sie dezentral wirtschaften und die Potenziale nutzen, dass eben der Strom dort erzeugt wird, wo er auch verbraucht wird. Ich bin so ein großer Fan von der Bürgerenergie, weil sie halt so dicht an dem Alltag der Menschen ist und die Möglichkeiten, entweder auf dem eigenen Dach oder gemeinsam auf einem Schuldach als Genossenschaft, oder gemeinsam mit den Stadtwerken auf einer größeren Gewerbehalle oder so, sauberen Strom zu erzeugen, ist einfach eine Möglichkeit, die noch sehr, sehr viele Potenziale hat in Deutschland. Also wir könnten und müssen, wir sollten die aktuelle Menge der Solarenergie mindestens verdreifachen, besser vervierfachen innerhalb der nächsten zehn Jahre. Dazu gibt es auch sehr ambitionierte Erwartungen, die wir im Koalitionsvertrag auch festgelegt haben. Dafür braucht es aber jetzt auch noch mal bessere Rahmenbedingungen. Auf der einen Seite muss es noch unbürokratischer werden, die eigene Anlage aufs Dach zu setzen. Auch für diejenigen, die beispielsweise ein Mehrfamilienhaus haben, was sie vermieten, das dort den Menschen der saubere Strom vom Dach noch viel einfacher angeboten werden kann, ohne dass man ganz komplizierte steuerrechtliche Herausforderungen hat, weil man plötzlich zum Energieversorger wird. Das hat viele bisher davon abgehalten, dieses Projekt umzusetzen und so könnten wir nämlich noch viel mehr der Energiewende auch in die Städte holen. Wenn nämlich der Mieterstrom noch viel mehr Aufmerksamkeit und Umsetzung vor allen Dingen erfährt. Außerdem ist es auch so, dass die sogenannte gemeinschaftliche Eigenversorgung ein großes Potential hat. Das Menschen sich zusammenschließen und sagen "Hier, ich habe ein besonders großes Dach. Es ist nicht verschattet, aber ich habe selbst gar kein Elektroauto und vielleicht brauche ich diese Mengen gar nicht alle selbst. Aber ich könnte meinem Nachbarn, der gegenüber wohnt, vielleicht etwas von dem Strom abgeben". Das wird im Augenblick noch sehr, sehr kompliziert gemacht. Da sind andere Länder deutlich weiter. Vor allen Dingen hat uns die EU da auch eine klare Hausaufgabe aufgegeben, nämlich in der entsprechenden Richtlinie, hätte Deutschland solche Rahmenbedingungen eigentlich schon bis letzten Sommer umsetzen müssen. Also hier ist noch einiges zu tun, aber vor allen Dingen auch viele wunderbare Chancen, die Energiewende voranzubringen.
Tim Meyer: Aber können denn auch Mieter:innen zu dem Wandel beitragen oder können die einfach nur sparsam sein?
Julia Verlinden: Also ich selbst bin in Berlin ja beispielsweise auch Mieterin und habe mir da eine Balkon Solaranlage besorgt. Wann habe ich das gemacht? Vor 5 Jahren oder so galt das noch als revolutionär, weil es nicht so ganz klar war, wie das eigentlich von den Standards eingeordnet wird. Das tolle ist, diese Anlage hat den Wechselrichter und alles schon mit drin. Das ist quasi Plug and Play. Man steckt den Stecker in eine Steckdose, die draußen am Balkon ist und speist sozusagen den Strom in sein eigenes Hausnetz ein. Das ist eine wunderbare Sache, um quasi für sich, vor Ort direkt ein Teil des eigenen Stromverbrauchs Solar zu erzeugen. Dafür braucht es auch keine aufwändigen Genehmigungsprozesse oder ähnliches. Das ist eine Möglichkeit, was viele Leute inzwischen machen, um da sozusagen ihren kleinen Beitrag zu leisten. Wichtig ist natürlich, dass wir insbesondere auch die Dächer voll machen, insbesondere da, wo die Dächer auch geeignet sind und davon gibt es noch sehr, sehr, sehr, sehr viele, die noch keine Anlage haben.
Lisa Paus: Ich glaube, am Thema Vermieter/Mieter ist vor allen Dingen wichtig, dass die energetische Sanierung ihren negativen Ruf, den sie in den letzten 15 Jahren doch ein bisschen erworben hat, zumindest in Ballungsräumen wie Berlin, dass das allein gemacht wird, um noch zusätzliche Miete aus dem Mieter rauszuschneiden und der Vermieter da gar nichts davon hat, das müssen wir tatsächlich drehen. Weil, da war ja auch was dran. Es war tatsächlich so, dass es eben - wegen der bisherigen gesetzlichen Regelungen - ein gutes Instrument war, um Mieten zu erhöhen, ohne einen tatsächlich relevanten Mietsenkungseffekt, was jetzt das Thema Heizkosten angeht. Da müssen wir dahin kommen, dass auch da wieder das, was draufsteht, auch drin ist. Dass eine energetische Sanierung nicht nur die Wohnung zusätzliche verschattet, weil eben die Dämmung erhöht wird und ansonsten ändert sich nix, die Heizungspreise ändern sich auch nicht, sondern dass es eben ein Gesamtkonzept gibt. Wir haben eine Förderung dafür auch schon angeregt, dass man eben diese Sanierungs-Fahrpläne macht und sich nicht nur auf Einzelmaßnahmen bezieht, sondern dass man Einzelmaßnahmen machen kann, aber das dann über die Jahre zu einem Gesamtfahrplan wird und dann auch tatsächlich substanzielle Einsparungen passieren. Das ist, glaube ich, der richtige Dreh beim Thema Mieter und Vermieter. Außerdem ist uns da ja auch noch mal wichtig, dass der CO2-Preis eben nicht wie derzeit gesetzlich geregelt, vollständig vom Mieter zu tragen ist, sondern dass es eben hälftig ist, auch mit dem Vermieter, weil am Ende eine neue Heizung, insgesamt Sanierungsmaßnahmen, dafür muss sich der Vermieter entscheiden und wenn er gar keinen Anreiz dafür hat, weil eben die Kosten vom Mieter übernommen werden und ansonsten ja für die Mieter vor allen Dingen Lage, Lage, Lage entscheidend ist, sind das eben Fehlanreize. Von daher setzen wir die Anreize dann neu und richtig und das ist auch ganz wichtig. Ansonsten finde ich aus diesem ganzen Bereich, das hat Julia alles schon aus der Praxis super erzählt, da möchte ich auch noch mal darauf hinweisen, dass dieses ganze Thema ein unheimliches Potential hat für Community Building, wie es auf Neudeutsch so schön heißt. Ich hatte auch etliche Anfragen von Bürgern aus dem ländlichen Raum, die gesagt haben "Was sollen wir denn machen? Wir haben ja eine Ölheizung und wir stehen da irgendwo rum. Ich kann mir das einzeln nicht leisten. Was kann ich denn hier machen?" Aber gerade, wenn es eben eher Einfamilienhäuser sind und eine überschaubare Gruppe von Häusern, dann ist es eben sehr wohl möglich, mit Erneuerbaren das dann dezentral zu machen im Sinne einer Bürgerenergie-Genossenschaft etc. Dass dann eben Leute zusammenkommen und erstens was zusammen machen, zweitens davon profitieren, dass sie unabhängig werden von dem entsprechenden Versorger und dass sie im Zweifel eben auch Geld sparen. Dieses unterstützen, dass Leute zusammenkommen für ihre eigene Energieproduktion und was man da machen kann, das ist urgrünes Programm, das unterstützen wir und das hat aber auch ein super soziales Potenzial für die entsprechenden Gemeinden. Alle, die das jetzt schon mal gemacht haben, sind jedenfalls begeistert und tragen das weiter. Die Restriktionen, die Julia schon angesprochen hat, zum Beispiel eben, dass beim Vermieten etwa keine Gewerbesteuer anfällt, aber wenn man dann eine Solaranlage drauf macht, dass das dann plötzlich wieder gewerbesteuerpflichtig ist. All diese Fragen haben wir auch im Koalitionsvertrag diskutiert und werden sie auch beiseite räumen, damit solche Hindernisse das nicht mehr konterkarieren.
Julia Verlinden: Darf ich noch ein Beispiel nennen, weil Lisa jetzt genau so gut darauf hingewiesen hat, wie wichtig das für so Communities sein kann und ich mir das vor ein paar Jahren mal in Baden-Württemberg angeschaut habe. Da gab es einen Stadtteil am Bodensee. Die haben tatsächlich Solarthermiefelder auf eine Wiese gestellt, drumrum rannten die Schafe und die konnten mit dieser solaren Wärme ein kleines Wärmenetz in ihrem Stadtteil, in ihrem Ort betreiben. Das waren alles Häuser, die waren Jahrzehnte alt und waren jetzt auch nicht super top gedämmt. Ich sag mal so der Durchschnitt. Für die paar wenigen Wochen im Jahr, wo sie dann doch noch ein bisschen mehr Wärme brauchten, weil es besonders knackig kalt ist, hatten sie dann noch zusätzlich so einen Holzhackschnitzel-Ofen dabei, der dann auch in das Wärmenetz eingespeist hat. Das war das ganze Straßenbegleitgrün, was die sowieso übers Jahr hinweg abgemäht haben oder die Bäume gepflegt haben. Das heißt also quasi ein System, was in sich funktionierte und sie brauchten keine externen Rohstoffe einkaufen. Das ist, glaube ich, so ein ganz ganz tolles Beispiel, was gerade im ländlichen Raum super funktionieren kann. Wenn wir mal angucken, dass wir jedes Jahr zig Milliarden Euro allein für fossile Rohstoffe ausgegeben haben, die wir so wunderbar hätten hier vor Ort investieren können, in Wertschöpfung in der Region, in der Energiewende, die hier vor Ort funktioniert, dann sieht man einfach, wie die Prioritäten einfach in den letzten 16 Jahren falsch gesetzt worden sind. Aber das ändern wir ja jetzt.
Lisa Paus: Genau, das muss mit dem Umdenken in den Köpfen erst mal losgehen. Weil bisher ist es so, jeder ist das so gewohnt. Ja, ich sitze in meinem Haus, individuell, und habe da mein Problem und will das individuell lösen. Ansonsten ist für die Infrastruktur der Staat zuständig und wenn der eben nicht in die Pötte kommt, dann kann ich doch nichts machen. Richtig, der Staat hat seine Aufgabe, aber jetzt beim Thema Energie, kann man eben sehr viel auch selbst machen. Aber eben nicht allein, sondern mit seinen Nachbarn zusammen und dann geht da einfach sehr, sehr viel. Davon möchten wir mehr erblühen sehen und möchten das auch unterstützen.
Tim Meyer: Zum Ende hin würde ich gerne noch mal aus euren unterschiedlichen inhaltlichen Perspektiven ein Fazit ziehen bzw. euch bitten, ein Fazit zu ziehen. Vielleicht zuerst Julia, in deinem Fachbereich sind die Themen Klima, Energie und auch Wohnen zusammengefasst. Was ist aus deiner Sicht beim Thema Energiepreise in Zukunft wichtig? Wir haben vieles schon gesagt, aber vielleicht kannst du es einfach ganz kurz noch mal aus seiner Perspektive zusammenfassen.
Julia Verlinden: Klar ist, je höher der Anteil der Erneuerbaren ist, desto stabiler und vorhersehbarer werden die Preise für Energie in der Zukunft auch sein. Deswegen ist das eigentlich das, wenn es ganz konkret darum geht, abzusichern, mit welchen Energiekosten wir in Zukunft zu rechnen haben. Den Ausbau der Erneuerbaren massiv voranzutreiben. Das ist das, worum Robert Habeck sich ja jetzt auch gerade in Zusammenarbeit mit den Ländern auch kümmert. Wichtig ist, dass wir uns nicht der Illusion hingeben, dass die fossilen Preise in Zukunft auf Dauer günstig sein werden. Das wird nicht der Fall sein. Wir müssen damit umgehen, dass wir uns auf die Alternativen fokussieren und dazu haben wir jetzt verschiedene Projekte im Koalitionsvertrag stehen, die jetzt auch auf dem Weg gebracht werden. Als kurzfristige Unterstützung haben wir verschiedene Dinge, mit denen wir die Menschen unterstützen, die jetzt besonders von diesen steigenden Energiekosten betroffen sind. Es wird rechtzeitig der Heizkostenzuschuss für Wohngeldbezieher:innen, Studierende und Azubis zur Verfügung stehen, damit diejenigen im Sommer ihre höheren Rechnungen bezahlen können. Wir werden uns natürlich auch insgesamt dafür einsetzen, dass Menschen mehr Geld im Portemonnaie haben. Dazu gehört beispielsweise auch ein steigender Mindestlohn, der sehr, sehr vielen Menschen auch dabei helfen wird, besser finanziell klarzukommen. Dazu gehört eben auch der Kinder-Sofortzuschlag für die Kinder, die bisher mit besonders wenig Geld klarkommen mussten. Das sind so die Bereiche, an denen gerade intensiv gearbeitet wird und die echt einen Unterschied machen.
Tim Meyer: Lisa, ich würde dich bitten, noch mal zu ergänzen. Julia hat jetzt gerade schon den Mindestlohn angesprochen. Deine Themen sind ja unter anderem Wirtschaft und Soziales. Wie können wir aus deiner Sicht in Zukunft stabile Energiepreise sichern?
Lisa Paus: Dass Julia bereits die ganzen sozialen Fragen mit aufgegriffen hat, das zeigt ja noch mal deutlich, dass bei Grünen zwischen Ökologie und Soziales kein Blatt passt, sondern dass wir das immer zusammendenken. Weil völlig klar ist, diese Riesenherausforderung, die schaffen wir nur gemeinsam. Deswegen stimmt es, wir werden den Mindestlohn anheben auf 12 Euro ab Oktober. Es wird relevant, gerade eben die unteren Einkommensbezieher entlasten. Sie hat bereits darauf hingewiesen, wir brauchen diesen Heizkostenzuschuss. Wir werden sicherlich auch mal schauen, ob das dann auch ausreichend ist. Ich kann mir schon vorstellen, dass es da die eine oder andere Gruppe gibt, die vielleicht noch zusätzliche Unterstützung braucht. Wir wollen auf jeden Fall den Sofortzuschlag für Familien mit Kindern, weil die besonders betroffen sind von diesen drastischen Anhebungen. Das kann man auch statistisch noch mal genau anschauen. Aber in der Summe brauchen wir eben eine Politik, die verlässlich die neuen Rahmenbedingungen für die nächsten zehn Jahre schafft und dazu gehört eben, dass wir deutlich mehr Geld mobilisieren für Investitionen. Da gibt es ja Schätzungen, dass mindestens 300 Milliarden, einige sprechen auch von 500 Milliarden Euro, notwendig sind, um eben auf den richtigen Pfad, 1,5 Grad, zu kommen. Wir jedenfalls sind gewillt, genau das zu mobilisieren, um die Unabhängigkeit von den Fossilen zu stärken, um die Preisanstiege nicht mitmachen zu müssen und um tatsächlich für bezahlbare Energie, die dann auch erneuerbar ist und klimaneutral zu sorgen.
Tim Meyer: Liebe Lisa, liebe Julia, ich bedanke mich bei euch für das Gespräch.
Julia Verlinden: Sehr gern.
Lisa Paus: Wir danken dir.
Tim Meyer: Den heutigen Podcast zeichnen wir am 7. Februar auf. Ausgestrahlt wird er am 9. Februar. Wir senden nicht aus unserem Studio im Bundestag, sondern haben uns von verschiedenen Orten zusammengeschaltet. Daher kann es sein, dass die Tonqualität nicht ganz perfekt ist. Wenn ihr Lob, Kritik oder Fragen loswerden wollt, schreibt uns gerne an podcast@gruene-bundestag.de. Wenn ihr informiert bleiben wollt, was die grüne Bundestagsfraktion noch alles so macht, schaut auf unsere Webseite gruene-bundestag.de oder folgt uns in den sozialen Netzwerken auf Instagram, Twitter und Facebook. Vielen Dank fürs Zuhören. Macht es gut und bleibt gesund. Tschüss.
Lisa Paus: Ciao.
Julia Verlinden: Tschüss.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
Wir haben Robert Habeck, Annalena Baerbock, Steffi Lemke, Cem Özdemir und Anne Spiegel getroffen. Mit unseren fünf grünen Minister*innen sprechen wir über ihre ersten Tage im Amt, ihre wichtigsten Projekte und was sie in den nächsten vier Jahren auf den Weg bringen wollen. Und sie erzählen uns, wie es sich in den letzten Wochen angefühlt hat, ein Ministerium zu übernehmen.
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Transkript des Podcasts
Robert Habeck: Ich muss es geschafft haben oder ich verantworte das, die CO2-Emissionen so zu senken, dass wir wieder auf 1,5-Grad-Pfad sind. Das ist schwer genug und ich kann nicht versprechen, dass wir komplett alles erreichen, aber die Tendenz und die Maßnahmen, die dann über die Legislatur hinausgehen, müssen uns auf diesen Budgeteinhaltungspfad bringen.
Annalena Baerbock: Und es macht eigentlich auch deutlich, was das große Projekt für die nächsten vier Jahre ist, nämlich die Werte unseres gemeinsamen Europas hochzuhalten und deutlich zu machen, auch in der Welt dafür zu werben: Für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.
Steffi Lemke: Deshalb werde ich den natürlichen Klimaschutz voranbringen, das heißt, Kohlenstoff in unseren Ökosystemen zu speichern, aber auch Wasser dort zu speichern gegen Dürre, gegen Hochwasser und die Klimavorsorge vorantreiben und den Ressourcenschutz über die Kreislaufwirtschaft stärken.
Cem Özdemir: Dass es jetzt endlich Zeit ist, dass es eine Tierhaltungs-Kennzeichnung gibt. So ähnlich, wie das Renate Künast vor vielen Jahren hier in diesem Haus mal gemacht hat mit den Eiern, müssen wir das jetzt eben auch bei der Tierhaltung machen.
Anne Spiegel: Ich werde jeden einzelnen Tag dafür kämpfen, dass wir in vier Jahren sagen können: Diese Gesellschaft ist bunter, vielfältiger und offener geworden. Und vor allen Dingen, dass wir die gesellschaftliche Vielfalten-Realität, die wir ja jetzt schon haben, dass wir die für die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen endlich angepasst haben.
Intro/Outro: Uns geht es ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
Robert Habeck: Hallo, ich bin Robert Habeck, seit Anfang Dezember Minister für Wirtschaft und Klimaschutz.
Annalena Baerbock: Hallo, ich bin Annalena Baerbock und seit 8. Dezember Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland.
Steffi Lemke: Hi, ich bin Steffi Lemke, seit dem 8. Dezember Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz.
Cem Özdemir: Ich heiße Cem Özdemir und bin seit dem 8. Dezember Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft.
Anne Spiegel: Mein Name ist Anne Spiegel und ich bin seit 8. Dezember 2021 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Tim Meyer: Hallo, schön dass ihr wieder dabei seid beim Podcast der Grünen Bundestagsfraktion. Nach vielen Jahren in der Opposition hat die grüne Bundestagsfraktion jetzt die Chance, gemeinsam mit der Bundesregierung die Politik für Deutschland zu gestalten. In der letzten Woche haben die Minister:innen im Bundestag ihre politischen Vorhaben vorgestellt. Wir haben unsere fünf grünen Minister:innen befragt, was sie jetzt als erstes angehen werden. Natürlich haben wir auch mit ihnen darüber gesprochen, wie sie dabei mit der grünen Bundestagsfraktion zusammenarbeiten werden. Wir wollten aber auch von ihnen wissen, wie es sich in den letzten Wochen angefühlt hat, ein Ministerium zu übernehmen. Ich bin Tim Meyer, Referent in der Öffentlichkeitsarbeit der grünen Bundestagsfraktion. Wir reden zuerst mit Robert Habeck und dann folgen die Gespräche mit Annalena Baerbock, Steffi Lemke, Cem Özdemir und Anne Spiegel. Robert Habeck haben wir am 13. Januar in seinem Büro im Jacob-Kaiser-Haus getroffen.
Tim Meyer: Lieber Robert, in deiner Rede im Bundestag hast du gesagt, es gab keine Warmlaufphase für dein Haus, sondern ihr musstet direkt loslegen. Du hast am 11. Januar in der Bundespressekonferenz das Sofortprogramm für mehr Klimaschutz vorgestellt. Was muss denn jetzt sofort passieren und warum?
Robert Habeck: Es müssen eigentlich ganz viele Dinge gleichzeitig passieren. Wir haben zum Beispiel einen großen Fachkräftemangel in Deutschland. Und wenn am Ende alles gesetzgeberisch richtig gemacht wurde, aber niemand die Solaranlagen aufs Dach schraubt oder die Windkraftanlagen errichtet, dann kommen wir da auch nicht weiter. Aber klar, es gibt eine große Vordringlichkeit und das ist der schnelle, beschleunigte Ausbau von Wind und Photovoltaik, vor allem von Wind, weil es so eine sperrige Angelegenheit ist und die Widerstände so groß sind und letztlich die Länder die Flächen ausweiten müssen. Und das, was am schnellsten geht - und da bin ich schon in den Gesprächen - ist, dass man genehmigte Flächen frei räumt, wo andere Schutzgüter die versperren. Und es sind vor allem Flächen, die vom Deutschen Wetterdienst, der Deutschen Flugsicherung und von der Bundeswehr ebenfalls beansprucht werden. Ich rede mit den drei Kollegen, dass wir vielleicht eine Chance haben, da einen Großteil der Flächen frei zu bekommen. Dann würde es sofort losgehen, weil da sind die Genehmigungen eigentlich schon erteilt, nur gerade blockiert durch die anderen Belange.
Tim Meyer: Du hast in der Bundespressekonferenz auch gesagt, dass aber auf individuelle Befindlichkeiten nicht immer Rücksicht genommen werden kann. Was heißt das denn? Du willst auch Widerstände überwinden?
Robert Habeck: Wenn man sich anschaut, woran der Windkraft-Ausbau lahmt, dann ist jeder Grund für sich ein guter. Man sagt, die Landschaft verändert sich oder es gibt eine Beeinträchtigung des Wohnumfeldes oder wir wollen die Arten schützen und das stimmt; alles für sich genommen kann es immer wieder gute Gründe im Einzelfall geben, aber die Summe der Einzelfälle führt im Moment dazu, dass wir das, was klimapolitisch und auch volkswirtschaftlich geboten ist, nicht hinbekommen. Und deswegen müssen wir neue Wege finden. Das wäre meine Antwort. Wir müssen jetzt nicht sagen, dann brechen wir eben alle anderen Rechtsgüter. Aber man kann vielleicht intelligentere Lösungen finden als die, die wir bisher haben. Ich nehme mal ein Beispiel: Im Moment gibt es - es ist unglaublich kompliziert und teuer, artenschutzfachliche Gutachten zu erstellen. Da geht sehr viel Geld auch von den Windkraft-Betreibern rein. Dadurch werden die Arten aber nur indirekt geschützt. Würde man das Geld oder anderes nehmen, um den Artenschutz an anderer Stelle voranzubringen, findet man vielleicht Raum für die Windkraftanlagen. Also es muss kein Gegeneinander sein, aber man muss neue Wege finden. Die alten haben uns jetzt in eine Sackgasse reinmanövriert.
Tim Meyer: Ist das Sofortprogramm das wichtigste Projekt zum Beginn deiner Amtszeit? Und was wirst du außerdem als erstes anpacken, weil es dir besonders am Herzen liegt?
Robert Habeck: Nein, so würde ich es nicht sagen. Es ist vielleicht das wichtigste Projekt bei dem Ausbau der erneuerbaren Energien, aber es gibt ganz viele andere Sachen, die nicht weniger wichtig sind. Das sind viele Sofortmaßnahmen, die Corona-Überbrückungsgelder, die ja neu strukturiert werden mussten, dass die Unternehmen überhaupt noch da sind, wenn wir wieder loslegen können mit voller wirtschaftlicher Kraft. Die MV-Werft in Mecklenburg-Vorpommern ist ins Straucheln geraten. Mit großer Anstrengung haben wir versucht, sie zu retten. Es gibt ewige Debatten und Telefonate und Anträge mit der Europäischen Kommission, um beihilferechtliche Fragen zu klären. Die wieder lösen dann Geld aus für Grünen Stahl oder eine Wasserstoff-Infrastruktur, also es sind viele Schiffe, die gleichzeitig losgeschickt werden.
Tim Meyer: Für dich ist es nach deiner Zeit als Minister in Schleswig-Holstein nicht neu, ein Haus zu führen. Das Wirtschaftsministerium als Bundesbehörde mit einem riesigen Apparat dürfte trotzdem etwas anderes sein. Wie haben sich die ersten Wochen im Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz angefühlt? Und gab es vielleicht eine besondere Begebenheit, die dir das Ankommen erleichtert hat?
Robert Habeck: Es ist einerseits ganz anders, weil es alles größer und mehr und noch komplexer ist und andererseits dann doch nicht so anders, weil ja in den Rücksprachen dann doch wieder nur zehn oder 15 Leute sind und nicht 2000. Das heißt, die eigentliche Arbeit ähnelt schon sehr der, die ich in Schleswig-Holstein gemacht habe oder gelernt habe, auch in der Struktur, auch da. Damals hatte ich ja Umwelt, Landwirtschaft, Energie, und man musste da auch verschiedene Interessen zusammenkriegen, damit das Ganze funktioniert. Jetzt ist es hier Wirtschaft und Industrie und Strompreise und erneuerbare Energien. Aber Widerstände oder Widersprüche zu einem neuen System zusammen zu bauen, das, glaube ich, war bei beiden Häusern die gleiche Aufgabe. Und wenn ich etwas gelernt habe, wenn ich das sagen darf, dann, dass dieses Ministerium und die vielen Menschen, die da arbeiten, ja eigentlich helfen und helfen wollen. Da sind 2000 Leute unterwegs, um mich zu beraten und mir die richtigen Ratschläge zu geben. Also hängt alles davon ab, die richtigen Fragen zu stellen und nicht besserwisserisch aufzutreten, aber eben auch nicht seine politische Agenda fallen zu lassen, und mein Eindruck ist - und das sage ich voller Dankbarkeit, dass das sehr gut geklappt hat in den ersten Wochen -, dass das Ministerium uns sehr freundlich aufgenommen hat, nicht nur mich, sondern die ganze neue Hausleitung, und wir hoffentlich diese Freundlichkeit mit großer Offenheit beantwortet haben, sodass sich das gerade sehr gut anfühlt. Du hast mich gefragt: Wie fühlt es sich an? Ich würde sagen: Vom ersten Moment an wie 'Das ist genau richtig. Es ist wie füreinander gebaut.'
Tim Meyer: Du hast jetzt ja auch gerade im Plenum noch gesagt, wenn die Mitarbeiterinnen nicht die Sonderschichten über Weihnachten geschoben hätten, dann wäre das mit den Corona-Hilfen jetzt gar nicht so reibungslos gegangen.
Robert Habeck: Na klar, man stellt sich das immer so so vor: Kann doch nicht so schwer sein. Corona-Hilfen, Überbrückungsgelder IV. Es gab ja schon III, II, I davor. Da müsst ihr doch einfach nur die Daten ändern oder so etwas. So ist es aber nicht. Die werden von den Ländern administriert. Die Länder ändern dauernd ihre Verordnung. Alle haben unterschiedliche Antragsformulare, die ändern sich auch permanent. Du musst quasi jedes Mal neue Software-System aufbauen, also ein- das macht man sich auch als Minister gar nicht klar, was das für eine wahnsinnige Arbeit ist. Und da haben ganz viele Leute zwischen den Feiertagen dran geschraubt, weil unser Wunsch war, das fertig zu haben, wenn die Ministerpräsidentenkonferenz tagt, nicht danach. Und die haben das gemacht. Da kann ich nur sagen: Hut ab, danke dafür. Und das gilt für andere Bereiche auch. Den Jahreswirtschaftsbericht, also die Standortbestimmung der deutschen Wirtschaft, jährlich wird sie vorgenommen, den haben wir diesmal anders geschrieben. Der war schon drei Viertel fertig, eigentlich war er schon fertig. Dann sind wir reingekommen und haben gesagt: Wir wollen ihn noch mal ein bisschen anders aufgesetzt haben. Dann haben die alle noch mal eine extra Schicht gemacht. Dieses Sofortprogramm ist tatsächlich ja in wenigen Wochen entstanden, also die Eröffnungsbilanz Klimaschutz. Das liegt nur daran, dass die Leute alle mehr gearbeitet haben, als man eigentlich verlangen kann von ihnen. Und das meine ich, so ist die Energie gerade in diesem Haus, dass einen trägt, das mich trägt. Und ich hoffe, dass ich fair genug den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bin, und die wissen, wie dankbar ich bin, da Minister sein zu können. Und was hat geholfen? Eine besondere Begebenheit war Bananen. Ich vergesse immer zu essen im Tag, der ist halt eng gestrickt und ich messe dem Essen nicht so eine große Bedeutung zu, aber wenn man dann auf einmal um 16 Uhr merkt, dass man noch gar nichts gegessen hat, das kennen ja alle, dann sackst du auf einmal so zusammen und ein netter Kollege aus dem Vorzimmer sagte: Guck mal hier, ich habe noch zwei, drei Bananen über, die habe ich mir eigentlich für mich für morgen gekauft, aber iss die doch. Und dann habe ich die gefuttert und dann ging es wieder. Und jetzt bin ich schlauer und nehme mir ein bisschen was zu essen mit.
Tim Meyer: Jetzt gibt es in deinem Büro auch immer eine Schale mit Bananen.
Robert Habeck: Es gibt in einem Regal eine Müsli-Bar mit Hafer, H-Milch und Rosinen.
Tim Meyer: Stellen wir uns vor, du blickst in vier Jahren auf deine Amtszeit zurück. Was willst du erreicht haben und was würde dich in diesem Rückblick glücklich machen?
Robert Habeck: Ja, in diesem Ministerium ist ja nun mal klar, dass die Erfolgsbilanz objektiv ist. Da geht es jetzt nicht um individuelle Zufriedenheit, sondern wir müssen es geschafft haben. Ich muss es geschafft haben. Oder ich verantworte das, die CO2-Emissionen so zu senken, dass wir wieder auf 1,5-Grad-Pfad sind. Das ist schwer genug und ich kann nicht versprechen, dass wir komplett alles erreichen. Aber die Tendenz und die Maßnahmen, die dann über die Legislatur hinausgehen, müssen uns auf diesen Budgeteinhaltungspfad bringen. Wenn wir jetzt am Anfang schlechter sind, und so sieht es aus, einfach weil die Genehmigungen von Windkraftanlagen so lange dauern, weil Förder-Bescheide in Brüssel notifiziert werden müssen, weil wenn sie notifiziert sind, die Hochöfen erst gebaut und montiert werden müssen. Das dauert alles, also wenn wir gut sind, dauert zwei, drei Jahre, bis das alles in die Gänge kommt und nicht 20 oder 30 Jahre. Trotzdem muss am Ende der Legislatur eine Bilanz da sein, die sagt: Die Arbeit hat sich gelohnt, sie zeitigt Erfolge. Und wenn die jetzt umgesetzt werden, sind wir 2030 da, wo wir hinwollen. Das ist, das muss so sein, sonst sind wir da nicht gut genug gewesen.
Tim Meyer: Robert Vielen Dank für das Gespräch.
Robert Habeck: Danke euch!
Tim Meyer: Das Gespräch mit Annalena Baerbock haben wir am 16. Januar im Außenministerium geführt.
Tim Meyer: Liebe Annalena, neben den vielen Antrittsbesuch in den USA, Paris oder Polen sind deine ersten Wochen als Außenministerin durch den Konflikt mit der Ukraine bestimmt. Kannst du trotzdem sagen, welches Projekt aus dem Koalitionsvertrag für dich das Wichtigste ist, was du jetzt als erstes anpacken wirst?
Annalena Baerbock: Außenpolitik ist vom Tagesaktuellen geprägt und da erleben wir gerade, wie du gesagt hast, dass die Bedrohung der Ukraine die zentrale Herausforderung auch für uns Europäerinnen und Europäer ist. Weil klar ist, dass die Grenzen in Europa nicht verhandelbar sind, dass das internationale Recht für alle gelten muss. Und es macht eigentlich auch deutlich, was das große Projekt für die nächsten vier Jahre ist, nämlich die Werte unseres gemeinsamen Europas hochzuhalten und deutlich zu machen, auch in der Welt dafür zu werben für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte und zugleich eben, wenn diese herausgefordert oder gar angegriffen werden, selbstbewusst als Europäer, diese zu verteidigen. Und deswegen ist die Souveränität Europas für mich eine der zentralen Leitlinien für die nächsten vier Jahre, ist auch im Koalitionsvertrag verankert. Aber wir haben viele andere große Projekte, zum Beispiel Klima-Außenpolitik. Es wird jetzt ja erstmalig die Außenpolitik auch für die Klimapolitik, für die Klimakonferenzen zuständig sein, weil die Klimakrise eine unserer größten Herausforderungen dieser Zeit ist. Und der dritte Punkt, der mir wichtig ist, ist das Thema Abrüstung, der auch im Koalitionsvertrag stark verankert ist und der eben auch eine Antwort auf eine der größten Spannungen in diesen Tagen mit Blick auf Russland sein kann.
Tim Meyer: Du hast gerade schon Werte angesprochen. In deiner Rede im Bundestag hast du auch gerade gesagt, dass Werte und Interessen keine Gegensätze sind, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Ist das die Richtschnur deiner Amtsführung? Und kannst du vielleicht noch mal an einem Beispiel das erläutern?
Annalena Baerbock: Wertegeleitete Außenpolitik bedeutet, dass man immer wieder deutlich macht, wofür man eigentlich einsteht? Das Friedensprojekt Europa, was ja gerade für meine Generation, für die Generation meiner Kinder bedeutet, dass wir und sie niemals Krieg erlebt haben, dass wir immer in Frieden aufwachsen konnten, in Freiheit aufwachsen konnten. Im wiedervereinigten Deutschland habe ich den größten Teil meines Lebens verbracht, und das ist eben keine Selbstverständlichkeit, sondern das muss man gemeinsam jeden Tag immer wieder leben, und das ist auch unser größtes Interesse. Unser größtes Interesse ist, dieses Friedensprojekt Europa für zukünftige Generationen zu sichern. Und wenn man es dann mal ganz praktisch macht im Alltag, weswegen ich immer sage: Das ist kein Gegensatz, sondern zwei Seiten der gleichen Medaille sind Werte und Interessen. Wenn zum Beispiel europäische oder auch deutsche Firmen sich daran halten müssen, dass Produkte in Zukunft eben nachhaltig sein müssen, dass man sie reparieren kann oder eben auch sich an soziale Standards halten müssen, wie zum Beispiel Arbeitnehmerinnen-Rechte oder - natürlich in Europa -, dass es keine Zwangsarbeit gibt, dann wäre es ein absoluter Wettbewerbsnachteil für europäische Unternehmen, wenn man sagt: Aber Unternehmen aus Drittstaaten müssen sich nicht daran halten, dass Produkte vielleicht auch in Zwangsarbeit hergestellt werden können. Und das macht für mich so deutlich, was manche aufzeigen, man muss sich entscheiden zwischen wirtschaftlichen Interessen und auf der anderen Seite den Grundfesten unserer Werte-Union, dass das in der Realität so überhaupt nicht ist, sondern ein Europa ohne Werte, wäre der größte Schaden für unseren volkswirtschaftlichen Erfolg.
Tim Meyer: Lass es uns kurz vom Ende her betrachten Was willst du in vier Jahren erreicht haben? Was werden die Menschen davon konkret haben?
Annalena Baerbock: Das kann man gerade mit Blick auf diese Spannung finde ich das wirklich vermessen und anmaßend zu sagen: Diese Krise X will ich alleine gelöst haben. Weil die Stärke von Außenpolitik ist, das Zusammenarbeiten mit anderen Akteuren, sich auch in schwierigen Momenten, wie jetzt eben in der Spannung mit Russland, aber auch mit Blick auf den Iran, sich immer wieder an den Dialog-Tisch zu setzen, lange Ausdauer und Nerven zu haben, damit Krisen nicht eskalieren. Aber was ich als Maßstab nehme, was wir angehen müssen, ist, dass man vorausschauender handelt. Wir können einige Krisen vorhersehen, wie zum Beispiel die Klimakrise. Wir wissen, dass mit jedem Zehntel Grad Erderwärmung nicht nur unsere Freiheit eingeschränkt wird, sondern dass sich auch Konflikte in anderen Regionen der Welt verschärfen werden. Und dieses vorausschauende Handeln, sei es bei der Klimakrise, sei es aber auch zum Beispiel bei der Pandemie, dass man eben Impfstoff Versorgung weltweit voranbringen muss oder auch vorausschauendes Handeln mit Blick auf Menschenrechte. Deswegen habe ich auch zum Beispiel das Thema feministische Außenpolitik stark verankert, weil Frauenrechte oftmals der Gradmesser für den Zustand von Gesellschaften sind. Das ist eine der Leitlinien, wo ich hoffe, dass wir sie gemeinsam als Bundesregierung in den nächsten vier Jahren als vorausschauender Multilateralismus wirklich auch verankert haben können.
Tim Meyer: Wie wird sich in Zukunft die Zusammenarbeit mit der grünen Bundestagsfraktion gestalten? Und auf was freust du dich dabei besonders?
Annalena Baerbock: Die gestaltet sich schon, weil die Herausforderungen außenpolitisch und europapolitisch, die haben jetzt nicht darauf gewartet, dass eine Ministerin sich erst mal drei Monate lang einlebt, sondern wir haben in einer der ersten Parlamentswochen diesen Jahres das Irak-Mandat zum Beispiel in den Deutschen Bundestag eingebracht und dann zwischen Weihnachten und Neujahr auch intensiv, ich als Außenministerin mit den unterschiedlichen Fraktionen, aber natürlich auch der Grünen Fraktion, darüber gesprochen, wie verändern wir dieses Mandat so, wo wir in der Vergangenheit als Grüne es ja abgelehnt haben, dass das, was wir immer kritisiert haben, nämlich die starke rechtliche Basis, auch wirklich gesichert ist, deswegen haben wir zum Beispiel Syrien aus dem Mandatstext herausgenommen, weil es da eben aus unserer Sicht die rechtlichen Grundvoraussetzungen nicht geschaffen waren. Und diesen Austausch, also mal schnell zum Telefonhörer zu greifen und zu sagen: Lasst uns mal gemeinsam in kleiner Runde telefonieren oder dann auch ins Parlament zu kommen - bei Corona leider mit viel digitaler Zuschaltung auch noch -, um auch mal offen darüber zu sprechen, wie können wir jetzt das mit der Klima Außenpolitik wirklich gemeinsam verankern? Weil es bringt nichts, wenn ich das im Außenministerium mache, im Bundestag dann aber zum Beispiel es keinen Ausschuss gibt, der sich da federführend mit drum kümmert, weil die Stärke der Außenpolitik, aber eigentlich der gesamten Bundesregierung liegt ja darin, dass wir ein starkes Parlament haben, was sich auch selbstbewusst einbringt und auch mal sagt: Hier möchten wir gerne Dinge auch in eine andere Richtung leiten und dafür brauchen wir einen engen und starken Austausch. Und ich glaube, der ist gerade bei uns Grünen dadurch gesichert, dass wir uns alle auch sehr, sehr gut kennen.
Tim Meyer: Welcher Moment bei der Übernahme des Außenministeriums wird für dich immer im Gedächtnis bleiben?
Annalena Baerbock: Das sind viele kleine Momente und ich glaube, jeder, der sagt, dass er da nicht irgendwie etwas dolleren Herzschlag gehabt hat, der sagt vielleicht nicht ganz so die Wahrheit, weil es natürlich nicht nur eine große Herausforderung ist, sondern auch eine große Verantwortung ist, jetzt für die nächsten Jahre an federführender Stelle das Gesicht in Deutschland zu sein, was ja auch dafür wirbt, für unser Land, für unser Verständnis, für seine Bürgerinnen und Bürger mit anderen Nationen ins Gespräch kommt. Und ich glaube, der Moment des Herzklopfens, als man im Parlament stand und vereidigt wurde und zugleich, da war so eine positive Stimmung im Bundestag. Das hat sich schön und richtig angefühlt.
Tim Meyer: Und wie ist es für dich jetzt weltweit unterwegs zu sein?
Annalena Baerbock: Man kann Diplomatie schlecht allein am Telefon voran führen. Man sollte sich zwischenzeitlich auch mal wirklich in die Augen schauen. Und wie so oft im Leben, ich glaube, in jedem Verhältnis, ob es Familie, im Sportverein oder in Freundschaften ist, kommt es ja auch oftmals darauf an, dass die Chemie stimmt. Und so ist das auch in der Politik. So ist es in einer Bundesregierung, dass es wichtig ist, dass man sich kennt, dass man auch mal beim anderen sieht, oh, dem geht es heute offensichtlich nicht so gut, und wenn wir uns gleich in die Haare kriegen, liegt es vielleicht an einer anderen Sache. Und so ist es auch in der Außenpolitik, weswegen es mir wichtig ist, mit möglichst vielen Kolleginnen und Kollegen, Außenministerinnen und Außenministern trotz Corona schnell auch den persönlichen Draht aufzunehmen, dass, wenn es wirklich mal hakt, man auch zum Telefonhörer greifen kann und nicht sagen muss: Wer bist du eigentlich? Sondern weiß, wie der andere so tickt.
Tim Meyer: Als du Parteivorsitzende geworden bist, hast du angesprochen, dass du Mutter von kleinen Kindern bist. Jetzt bist du Außenministerin. Wie bekommst du das alles hin?
Annalena Baerbock: An manchen Tagen sehr gut, an manchen Tagen mittel und manchmal, wenn man dann ganz schnell los muss, und dann fehlt aber noch die eine Schulmappe, dann ist auch eine Herausforderung. Auch wenn ich natürlich einen Mann habe, der mich nicht nur stark unterstützt, sondern der jetzt vor allen Dingen noch mal mehr die volle Verantwortung auch zu Hause trägt. Aber mir war damals schon als Parteivorsitzende wichtig, deutlich zu machen: Es muss eine Selbstverständlichkeit in diesem Land sein, dass Frauen alles werden können: Chefärztin, Spitzenpolitikerin oder auch in der Nachtschicht beim Sicherheits-Service zu arbeiten. Und der Staat hat die Verantwortung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu garantieren. Und da gibt es sehr viele unterschiedliche Familienkonstellationen, und mir war immer wichtig, auch deutlich zu machen, dass man nicht so tut, das ist alles ganz einfach. Deswegen habe ich in der Corona-Situation auch immer wieder selber von mir aus angesprochen zu sagen: Auch ich spüre als Mutter mit Kindern, was eseigentlich in den Familien bedeutet, wenn Schulen geschlossen sind. Und jetzt mit Blick als Außenministerin müssen wir uns natürlich noch mal ein bisschen anders sortieren, weil ich viel weg bin, hast du gerade schon angesprochen, viel im Ausland unterwegs bin, aber meine Kinder kennen das eigentlich so, dass ich viel unterwegs bin und trotzdem will ich, dass sie wissen, wo mein Herz zu Hause ist, wo ich zu Hause bin. Und so wie ich vor vier Jahren als Parteivorsitzende gesagt habe: es gibt Momente, da bin ich dann ganz Mutter, so wird das natürlich auch jetzt in dieser Situation sein. Und wir stehen hier gerade am Sonntag im Außenministerium, und das sind die Momente, wo man dann seiner Tochter auch mal zeigen kann, wo eigentlich der neue Arbeitsplatz so ist.
Tim Meyer: Ach so, die bringst du dann auch mit ins Außenministerium?
Annalena Baerbock: Eigentlich nicht, aber sie soll schon wissen, wo ich hier arbeite. Und sie wussten auch, wie es im Bundestag aussieht. Und sie wussten auch, wie es in der grünen Parteizentrale aussieht. Und so sollen sie auch wissen, wie es hier im Auswärtigen Amt aussieht. Jetzt ist nur die Herausforderung, dass Sie gerne auch wissen wollen, wie es in Rom, in Warschau oder in Peking so aussieht. Und da kann ich sie natürlich nicht überall hin mitnehmen.
Tim Meyer: Liebe Annalena, vielen Dank für das Gespräch.
Annalena Baerbock: Danke, ebenso!
Tim Meyer: Steffi Lemke haben wir am 17. Januar im Ministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz getroffen.
Tim Meyer: Liebe Steffi, in deiner Rede letzte Woche im Bundestag hast du an den Beschluss des Bundesverfassungsgericht erinnert. Das Gericht hat im April 2021 festgestellt, dass das Klimaschutzgesetz verfassungswidrig ist, weil es künftigen Generationen ihre Freiheit nimmt, wenn wir das Klima und unsere Umwelt durch Treibhausgasemissionen zerstören. Wo setzt du mit deinem Haus an, um das zu verhindern?
Steffi Lemke: Ich bin Ministerin für Umwelt und Naturschutz, in allererster Linie aber natürlich auch für Verbraucherschutz, nukleare Sicherheit, und alle vier Bereiche betreffen den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen in ganz eklatanter Art und Weise. Deshalb werde ich den natürlichen Klimaschutz voranbringen, das heißt, Kohlenstoff in unseren Ökosystemen zu speichern, aber auch Wasser dort zu speichern gegen Dürre, gegen Hochwasser und die Klimavorsorge vorantreiben und den Ressourcenschutz über die Kreislaufwirtschaft stärken.
Tim Meyer: Wir bekommen die Wucht der Klimakrise durch die Extremwetterereignisse immer stärker zu spüren, auch hierzulande. Ist und war das der letzte notwendige Weckruf, um uns endlich zum Handeln zu bewegen?
Steffi Lemke: Unsere Bundesregierung wird und will jetzt handeln, das ist klar. Deshalb werden wir die Erneuerbaren stärken, werden wir den natürlichen Klimaschutz stärken, aber auch die Kreislaufwirtschaft für den Ressourcenschutz stärken. Die Punkte habe ich alle aufgeführt. Und ich glaube nicht, dass es ein letzter Weckruf war, sondern dass sich in den letzten Jahren immer stärker einen Blick darauf entwickelt hat, dass die Klimakrise uns auch hier trifft. Sei das, angefangen von der Dürre in den letzten vier Sommern über die Hochwasser-Ereignisse in den letzten Jahren, aber auch durch Fridays for Future, die das Thema auf die Straße, in die Parlamente getragen haben. Also ich sehe eher eine Entwicklung, die dieser Bundesregierung hoffentlich den notwendigen Rückenwind geben wird.
Tim Meyer: Viele Vorhaben wirst du in Zusammenarbeit mit den Ministern Robert Habeck und Cem Özdemir umsetzen dürfen. Wie kann man sich den Austausch zwischen euch vorstellen?
Steffi Lemke: Wir planen jetzt die Vorhaben für die nächsten Monate und letztendlich damit auch schon für die nächsten Jahre. Das tun wir gemeinsam. Mit Cem mache ich beispielsweise morgen den Agrar-Kongress des Bundesumweltministeriums. Zusammen mit Robert arbeiten wir im Moment sehr intensiv, wie wir die Energiewende beschleunigen können, wie wir die Themen Klimaschutz, natürlicher Klimaschutz, Ausbau der erneuerbaren Energien zusammenbinden können und den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen insgesamt stärken.
Tim Meyer: Als Oppositionspolitikerin im Bundestag konntest du zum Beispiel Anträge für mehr Bienenschutz stellen, die dann aber meist im Plenum abgelehnt wurden. Jetzt kannst du als Bundesministerin Gesetze auf den Weg bringen, die wirklich etwas verändern. Wie fühlt sich das an für dich?
Steffi Lemke: Es ist natürlich eine wahnsinnig große Verantwortung, die ich jetzt persönlich als Ministerin habe, die aber auch alle Mitglieder des Kabinetts haben. Und der große Reformstau, den wir haben, viele Probleme, die einfach über Jahre nicht angepackt worden sind, nicht nur im Klima und Naturschutz, sondern auch in den gesellschaftspolitischen Bereichen, und das jetzt wirklich ganz nahe gestalten zu können, an allererster Stelle gestalten zu können, das ist Verantwortung, aber es macht auch wirklich Spaß.
Tim Meyer: Weißt du schon, wie sich die Zusammenarbeit mit der grünen Bundestagsfraktion gestaltet? Wirst du auch in Zukunft auf Ihre Expertise beispielsweise zurückgreifen?
Steffi Lemke: Auf jeden Fall. Ich will eng mit der AG Umwelt natürlich zusammenarbeiten, aber auch mit dem Fraktionsvorstand, der gesamten Fraktion und den vielen Referenten, die ich ja seit so vielen Jahren kenne und schätze. Und wir haben natürlich mit den beiden Parlamentarischen Staatssekretären Bettina ( Hoffmann, Anmerkung der Redaktion) und Chris (Kühn, Anmerkung der Redaktion) zwei Schlüsselglieder, die die Zusammenarbeit mit der Fraktion auch im Alltag organisieren werden, weil ich es vielleicht nicht jeden Tag machen kann.
Tim Meyer: Als Ministerin kannst du vier Jahre lang an deinen Projekten arbeiten. Was willst du in dieser Zeit erreichen?
Steffi Lemke: Ich habe es im Bundestag gesagt: Wir werden den natürlichen Klimaschutz vorantreiben, gegen das Artensterben vorgehen, die Städte und Dörfer gegen die Klimakrise wappnen. Wir werden ein Recht auf Reparatur einführen, gegen die Retourenvernichtung vorgehen. Wir werden die Atom-Endlager-Suche weiter vorantreiben und den Atomausstieg in Deutschland vollenden. Wir werden die Kreislaufwirtschaft und den Ressourcenschutz massiv ausbauen und wir werden gegen die Plastik-Vermüllung unserer Landschaft vorgehen und Mehrweg stärken.
Tim Meyer: Liebe Steffi, vielen Dank für das Gespräch.
Steffi Lemke: Auch von meiner Seite. Vielen Dank!
Tim Meyer: Cem Özdemir hat uns am 14. Januar ins Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung eingeladen.
Tim Meyer: Lieber Cem, du hast in deiner Rede im Bundestag gesagt für notwendige Veränderungen gibt es kein Erkenntnisproblem, sondern ein Anwendungsproblem. Was ist viel zu lange liegengeblieben und wird jetzt von dir als erstes angepackt?
Cem Özdemir: Ich habe hier im Schreibtisch vorgefunden die Zukunftskommission Landwirtschaft, die eine großartige Arbeit geleistet hat. Da saßen Leute drin aus der Landwirtschaft, aus den verschiedenen Bauernverbänden. Da saßen Leute aus der Wissenschaft drin, da war der Verbraucherschutz dabei, da war die Umweltseite stark vertreten und die alle haben gemeinsam getagt und einen Bericht vorgelegt. Sehr umfassend. Es gibt eine Kurzfassung, eine Langfassung. Es gibt eine englische Fassung. Also es lag jetzt nicht daran, dass man es nicht hätte lesen können. Und dann gibt es die Borchert Kommission, die hat sich in Sachen Tiere und Zukunft der Tierhaltung, der Nutztierhaltung Gedanken gemacht. Alles das liegt hier vor. Deshalb habe ich gesagt, es gibt hier eigentlich gar kein Erkenntnisproblem, mehr so ein Umsetzungsproblem. Da hat sich die Große Koalition in den vergangenen Jahren gegenseitig blockiert und auch innerhalb der Union. Die Modernisierer einerseits und diejenigen, die sagen wir mal, jetzt eher Fans davon sind, dass alles so bleibt, wie es ist, also dass sich nichts verändert, die haben sich jahrelang blockiert und jetzt ist es einfach Zeit, dass die Dinge angepackt werden. Denn der Output, wenn man den als Maßstab nimmt, der ist desaströs. Wir haben ein Höfesterben ohne Ende. Wir haben das "Wachse oder Weiche", das heißt, die Kleinen haut es raus aus dem System und die anderen müssen permanent quasi immer größer werden mit dramatischen Folgen fürs Wasser, dramatischen Folgen fürs Klima, dramatischen Folgen aber auch für das Thema Tierschutz und so weiter. Also das ist ein System, das nicht nachhaltig ist. Und das müssen wir ändern. Und das habe ich mir fest vorgenommen, das habe ich damit gemeint.
Tim Meyer: Kannst du noch so ein paar Stichworte geben? Vielleicht so in Richtung Tierhaltung, Ökolandbau? Was sind da die Projekte, die du als erstes anpackst?
Cem Özdemir: Also das sind so viele Dinge, dass man sich Schwerpunkte setzen muss. Und ein Schwerpunkt ist selbstverständlich das Thema, dass es jetzt endlich Zeit ist, das es eine Tierhaltungs-Kennzeichnung gibt - so ähnlich wie das Renate Künast vor vielen Jahren hier in diesem Haus mal gemacht hat mit den Eiern, müssen wir das jetzt eben auch bei der Tierhaltung machen. Anfangen bei den Schweinen, da sind wir am weitesten und dann Schritt für Schritt weiter, so dass die Käufer, der Käufer sofort im Ladenregal erkennen kann, wie die Tiere gehalten wurden und dann auch durch die Kaufentscheidung sich bewusst entscheiden kann. Jetzt ist aber ganz wichtig: Das Geld, das eben durch bessere Tierhaltung erwirtschaftet wird, das muss auch bei den Betrieben landen, damit künftig die Ställe so gebaut werden, dass die tiergerecht sind und nicht die Tiere den Ställen angepasst werden, wie wir es eben bis jetzt gemacht haben. Bis jetzt ist es so: Von dem einen Euro, den man ausgibt, beispielsweise für Schweinefleisch, kommen genau 22 Cent beim Hersteller, also beim Landwirt, bei der Landwirtin an. Das ist kein gerechtes System. Das zu ändern gehört da eben auch dazu. Das haben wir uns in der Koalitionsvereinbarung für dieses Jahr vorgenommen. Das ist mega ehrgeizig. Daran arbeiten wir jetzt mit Nachdruck hier im Haus. Und da wollen wir dieses Jahr Resultate präsentieren. Und da geht es Schlag auf Schlag weiter. Und ein anderes Thema, das auch damit zu tun hat, das ist die Herkunfts-Kennzeichnung, das heißt, dass die Käuferinnen und Käufer auch bewusst sich entscheiden können, einheimische Produkte zu nehmen, damit auch regionale Strukturen stärken, Netzwerke stärken. Auch das gehört da dazu. Dann ist der Bundeslandwirtschaftsminister, da bin ich ganz stolz darauf, auch der Ernährungsminister. Da geht es um das Thema, dass die Leute zu Recht den Anspruch haben, gesunde Lebensmittel zu bekommen, aber auch bezahlbare Lebensmittel zu bekommen. Das in ein gesundes Verhältnis zueinander zu setzen, ist da ganz zentral. Gerade diejenigen, die am benachteiligsten sind, sind am meisten betroffen davon, dass sie ernährungsbedingte gesundheitliche Probleme haben. Das Thema will ich in Angriff nehmen, also kurz, so wie wir es in der Koalitionsvereinbarung auch drin haben: Zu viel Fett, zu viel Salz, zu viel Zucker. Alle diese Themen will ich angehen.
Tim Meyer: Du selbst bist seit dem du 17 Jahre alt bist, wenn das stimmt, Vegetarier, willst aber als Minister niemandem vorschreiben, was er oder sie zu essen hat. Weniger Fleisch zu essen ist ja nicht nur gut für die eigene Gesundheit, sondern auch für die Umwelt und den Klimaschutz. Wenn es keine Vorschriften dafür geben soll, gibt es dennoch Pläne, wie du die Bürgerinnen im Land zu weniger Fleischkonsum animieren willst?
Cem Özdemir: Also zu mir selber erst mal: Ich habe für mich selber entschieden, Vegetarier zu sein, aber davon leite ich nichts ab, auch nicht für die Politik, weil das müssen alle für sich selber entscheiden. Das ist eine individuelle Entscheidung. Der eine lebt vegan, die andere lebt vegetarisch, der dritte ist leidenschaftlich gern sein Schnitzel. Ich habe übrigens in meinem Team alles, und dann gibt es wiederum Zwischenformen, die sogenannten "Flexitarier", die weniger Fleisch essen, aber sagen: Dafür will ich besonders gutes Fleisch haben. Es hört sich für mich sehr vernünftig an. Ich glaube, das wäre ich, wenn ich kein Vegetarier wäre, wäre ich "Flexitarier" und - aber das müssen die Leute selber entscheiden. Das Einkaufen kann ich ihnen weder abnehmen, noch entscheide ich darüber, welcher Preis nachher am Ladenregal steht. Ich laufe ja jetzt nicht mit dem Edding durch den Supermarkt und streiche die Preise durch und schreibe die Özdemir-Preise darauf. So funktioniert es natürlich nicht. Aber eins ist auch klar, wenn wir so, wie wir es bislang haben, Preise haben, harte Dumpingpreise haben, die unter den Herstellungskosten sind, dann hat es auch Konsequenzen. Nämlich die Konsequenz beispielsweise, dass wir halt irgendwann einmal normale Landwirtschaft nicht mehr haben, weil die kann davon nicht leben. Das heißt, da haben wir nur noch die Riesenbetriebe, dann haben wir nur noch die Riesen-Schlachthöfe, in denen auch zu skandalösen Bedingungen gearbeitet wird. Und wir haben vor allem keinen Tierschutz. Das heißt, das eine bedingt das andere. Jetzt weiß ich natürlich auch, dass auch die Landwirtschaftspolitik sozial sein muss. Aber Sozialpolitik wird ja nicht deshalb ersetzt, wenn das Schnitzel billig ist. Das heißt, wem es jetzt wirklich um soziale Anliegen geht, der soll bitteschön diese Regierung unterstützen, wenn wir uns für einen Mindestlohn einsetzen. Der oder die soll uns unterstützen, wenn wir uns für vernünftiges Bafög einsetzen. Wenn wir uns für eine Reform bei Hartz IV einsetzen. Wenn wir all diese Dinge in Angriff nehmen. Also da habe ich auch ein bisschen das Gefühl, da reden auch manche mit, die soziale Gerechtigkeit immer dann entdecken, wenn es um den Schnitzelpreis geht. Das finde ich ein bisschen bemerkenswert. Da kann sich jeder seine Meinung dazu bilden. Und klar ist unter gesundheitlichen Aspekten: Wir essen zu viel Fleisch, wir müssen weniger Fleisch essen und dann vielleicht auch gucken, dass wir besseres Fleisch essen. Also auch das gehört dazu. Ich mache da keine Vorschriften, das müssen alle für sich entscheiden. Aber was mir wichtig ist, dass die Produkte stärker die ökologische Wahrheit im Preis ausdrücken müssen. Die Zechprellerei, wie wir sie gegenwärtig betreiben, dass die Kosten externalisiert werden, also auf die Dritte Welt verlagert werden in Form von Regenwäldern, die wir abholzen, für die Futtermittel oder das Abgeben ans Grundwasser. Abgeben in Form von Methan ans Klima, an künftige Generationen. Das wird es mit mir nicht mehr geben.
Tim Meyer: Wir zeichnen hier den Podcast oder unser Gespräch in deinem Büro auf. Ich sehe da hinten den Stuhl, auf dem du wahrscheinlich sonst immer sitzt oder auch stehst, weil es ein Stehtisch ist -
Cem Özdemir: Ich stehe ganz viel, weil ich muss ja irgendwie auch aufpassen mit dem Rücken und von daher gucke ich, dass ich viel stehe, und außerdem: der Landwirtschaftsminister ist ja auch viel draußen. Und dann hilft mir natürlich auch noch mein Fahrrad.
Tim Meyer: Aber meine eigentliche Frage ist: Gab es da einen Moment, wo du gestanden oder gesessen hast und mal so in dich hineingefühlt hast, was es denn jetzt für dich auch bedeutet, Minister zu sein?
Cem Özdemir: Ich hatte gar nicht so arg viel Zeit dafür, weil das ja nonstop hier losging. Erst mal musste ich vor Weihnachten ganz viele Akten bearbeiten, Sachen freigeben, Urkunden ausstellen und so weiter. Aber den Moment gab es natürlich, klar. Und auch heute wieder, bei meiner ersten Rede im Bundestag als Landwirtschaftsminister gab es so einen Moment, dass ich irgendwie so dachte, ob mein Papa, meine Mama gerade irgendwie von oben zuhören und auf mich schauen und so gucken, macht er das richtig, macht er es gut? Denn die haben mir damals eingebläut, vor allem mein Vater: "Vergiss nie, wo du hergekommen bist. Du kommst aus einer migrantischen Arbeiterfamilie, auf dich schaut man anders wie auf andere. Wenn du einen Fehler machst, dann ist es eben nicht nur dein Fehler, sondern dann haben wir alle den Fehler mitgemacht. Also passe da immer auf, ziehe dich anständig an!" Ich versuche es, ob es mir immer gelingt, weiß ich nicht. "Und gucke, dass du eben immer weißt, dass du nicht nur für dich das machst, sondern für viele andere auch, die auf dich schauen." Das gilt für die Menschen mit Migrationshintergrund. Da stamme ich ja auch her. Es gilt aber natürlich auch für meinen Wahlkreis, die mich da gewählt haben. Das gilt für meine Partei, das gilt für meine Fraktion, das weiß ich schon und schleppe das immer mit ein bisschen. Trotzdem gucke ich, dass das jetzt nicht so rüberkommt, wie wenn ich jetzt zwei Zentner auf meinen Schultern habe und zum Lachen in den Kohlenkeller gehe. Das versuche ich in ein gesundes Verhältnis zu bringen. Also es darf auch gerne mal Spaß bei der Arbeit sein. Es darf auch gerne mal die Mundwinkel nach oben gehen. Aber ich weiß natürlich, an dem, was ich hier entscheide, hängen auch Schicksale. Menschen leben davon. Also eine Entscheidung von mir, die ich schlecht vorbereitet treffe oder falsch treffe, hat Konsequenzen für die Leute, und das weiß ich natürlich.
Tim Meyer: Du hast jetzt gerade auch schon die Bundestagsfraktion angesprochen. Du arbeitest jetzt hier an Projekten, die im Koalitionsvertrag festgelegt sind, aber natürlich arbeitet die Fraktion auch weiterhin an aktuellen Themen aus den Bereichen Ernährung und Landwirtschaft. Wie werdet ihr da in einen fruchtbaren Austausch kommen?
Cem Özdemir: Das hat schon angefangen. Also natürlich an vorderster Stelle mit Renate, die ja selber mal hier Ministerin war, Renate Künast, und da einfach wegweisend die Dinge damals schon angestoßen hat, die bis heute auch bleiben. Dann aber natürlich die AG in der Fraktion. Natürlich auch die Kollegen der anderen Fraktion, mit denen wir gemeinsam regieren, auch übrigens die demokratische Opposition, auch denen mache ich das Angebot, dass wir eng zusammenarbeiten. Bei manchen Sachen bin ich ja auch auf die Landes-Agrarminister angewiesen, die gibt es von unterschiedlichen Parteien. Also, so ist mein Stil und so wird er auch bleiben. Dass ich Grüner bin, ist ja nun kein Geheimnis. Ich bin Mitglied der Fraktion, einer großartigen Fraktion. Und dieses Haus soll eines sein, das nicht vergisst, dass der Gesetzgeber das Parlament ist. Und deshalb gibt es da eine sehr, sehr enge Zusammenarbeit.
Tim Meyer: Beschreibe doch bitte mal, wie unsere Teller, die Felder, die Höfe der Landwirt:innen mit ihren Tieren und die Supermärkte aussehen, wenn deine Arbeit nach vier Jahren erfolgreich war.
Cem Özdemir: Also erst mal hoffe ich, dass sie vier Jahre erfolgreich ist, aber sie wird dann, da muss ich ein bisschen Wasser in den Wein schütten, nicht zu Ende sein. Weil wir haben zwar schon uns das Ziel gesetzt '30 Prozent Biolandbau bis 2030', also in vier Jahren werde ich damit nicht einen Haken dahinter machen können. Sondern ich werde hoffentlich wesentliche Schritte dahingehend erreicht haben bei der Nachfrage, weil es geht ja nicht nur 30 Prozent Bio auf den Bauernhöfen, sondern es gilt auch 30 Prozent im Ladenregal, im Supermarkt. So, und da werde ich hoffentlich vieles auf den Weg gebracht haben. Ich hoffe, dass wir dafür sorgen können, dass die Bauern und Bäuerinnen eine vernünftige Existenzsicherung haben, auch angemessen verdient werden, eine Wertschätzung erfahren für ihre Arbeit, das gehört auch dazu, aber auch Wertschöpfung. Ich hoffe, dass sich die Situation der Tiere verbessert. Das ist mir ganz wichtig, denn ich bin nicht nur oberster Vertreter der Bäuerinnen und Bauern, sondern ich bin auch oberster Tierschützer dieses Landes. Dann hoffe ich natürlich auch, dass sie an der Ernährungssituation was verbessert. Wir sind gute Europäer, das heißt, für vieles brauchen wir die Europäische Union. Auch da hoffe ich, dass wir viele Partner in Europa finden. Die GAP-Reform ganz wichtig, die gemeinsame Agrarpolitik, dann sind wir natürlich auch Internationalisten. Ich will entwaldungsfreie Lieferketten. Ich will, dass das aufhört, dass wir uns beteiligen daran, dass Regenwälder kaputt gemacht werden. Da versündigen wir uns am Klima, an unseren Kindern. Und das wird am Ende eben ein Strich drunter gemacht werden. Und dann wird man sehen, ob ich da geliefert habe oder nicht.
Tim Meyer: Seitdem man dich auf einem Balkon mit einer Cannabis-Pflanze im Hintergrund gefilmt hat, bist du in der Öffentlichkeit immer wieder als Fürsprecher für eine Entkriminalisierung des Cannabis-Konsums und eine andere Drogenpolitik aufgetreten. Jetzt steht die Legalisierung im Koalitionsvertrag. Auch wenn das Projekt nicht im Verantwortungsbereich deines Hauses liegt, kannst du vielleicht sagen, wie es mit dem Thema weitergehen wird?
Cem Özdemir: Es ist tatsächlich nicht in meinem Verantwortungsbereich. Ich sehe ja immer, wenn ich in den sozialen Medien unterwegs bin, dass die Leute immer darunter twittern und schreiben: Ja, wann kommt es denn endlich? Ich schreibe es nicht. Aber das machen die Kollegen, insbesondere der Gesundheitsminister, der Justizminister, und die machen das sehr gut. Die sind da auch unterwegs und bereiten das vor. Aber ich kann für mein Haus sagen, den uns betreffenden Teil, den werden wir natürlich auch parallel dazu mit vorbereiten. Ob es das Thema Nutzhanf ist, da bieten sich ja vielfältige Nutzungsmöglichkeiten an. Zum Teil passiert es ja auch schon, ob es Dämmstoffe sind und so weiter. Da gibt es großartige Möglichkeiten, wo sich Hanf anbietet bis zu Textilien. Und dann natürlich aber auch das Thema, wenn Hanf endlich entkriminalisiert wird, der Cannabiskonsum entkriminalisiert wird und es dafür lizenzierte Fachgeschäfte gibt, mit Werbeverbot, mit Zugangskontrolle ab 18, mit Verbraucherschutz, so dass man weiß, was drin ist, dann geht es natürlich auch darum, wo wird er hergestellt. Und das sage ich jetzt einmal natürlich: Ich will jetzt nicht, dass das alles aus dem Ausland kommt. Da haben wir bei uns auch Landwirte, die sich schon dafür interessieren, dass das eben auch in Deutschland angebaut wird im Rahmen des Möglichen. Auch da werden wir sicherlich mithelfen.
Tim Meyer: Aber es kommt nicht morgen?
Cem Özdemir: Es kommt nicht morgen und ich befürchte, es kommt auch nicht übermorgen, aber es kommt. Wir haben das versprochen. Alle drei Fraktionen sind sich einig. Insofern gibt es auch eine politische Mehrheit im Deutschen Bundestag dafür und die zuständigen Ministerien arbeiten dran.
Tim Meyer: Lieber Cem, vielen Dank für das Gespräch.
Cem Özdemir: Gerne!
Tim Meyer: Das Gespräch mit Anne Spiegel führten wir am 13. Januar im Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Tim Meyer: Liebe Anne, bei der Vorstellung deiner politischen Pläne im Bundestag hast du erzählt, wie du beim Lesen des Koalitionsvertrags zu den Themen deines Ministeriums bei jedem Satz gedacht hast: Endlich packen wir diese wichtigen Projekte an. Was davon ist schnell umsetzbar und dir besonders wichtig?
Anne Spiegel: Ja, genau das sortieren wir auch gerade im Ministerium. Was schnell gehen wird, ist der Sofortzuschlag für Familien und Kinder, die dringend auch ein Plus im Geldbeutel brauchen. Das packe ich mit Bundesarbeitsminister Heil jetzt ganz, ganz schnell an. Was auch schnell gehen wird, ist die Abschaffung des Paragrafen 219a. Die Debatten sind ja bekannt und letztlich muss man dafür keine großen Vorarbeiten mehr leisten. Und ich denke, was auch noch verhältnismäßig schnell gehen wird, ist, dass wir wirklich das auch in Teilen verfassungswidrige Transsexuellengesetz ersetzen durch ein modernes Vielfaltsgesetz.
Tim Meyer: Also du hast dich gefreut, endlich packen wir die Projekte an. Aber was hast du gedacht, als klar wurde, dass du selbst diese Projekte würdest anpacken können?
Anne Spiegel: Ja gut, da ist mir erst mal ziemlich heiß und kalt gleichzeitig geworden. Und das war natürlich so ein Moment, da habe ich auch erst mal mit meinem Mann und mit meinen besten Freundinnen und Freunden gesprochen. Aber eigentlich so vom Bauchgefühl her, war superschnell klar: Ich habe total Lust drauf. Das sind meine Herzensthemen. Der Koalitionsvertrag ist super verhandelt an der Stelle, und es wäre mir einfach eine große Ehre. Und ich freue mich jeden Tag, dass ich jetzt die Themen umsetzen darf.
Tim Meyer: In einem Interview hast du gesagt: "Ich habe eine klare Haltung, ich brenne für meine Themen und bei meiner Grundhaltung bin ich nicht bereit, Abstriche zu machen." Viele deiner Gesetzesvorhaben musst du mit anderen Ministerien verhandeln. Was ist dir bei diesen Verhandlungen wichtig, um bei deiner Haltung eben keine Abstriche machen zu müssen?
Anne Spiegel: Also bei den Themen, die ich gemeinsam mit anderen Ressorts anschiebe, finde ich es eigentlich toll, dass wir da auch das Gemeinsame dieser Regierung betonen können, indem wir zeigen, man packt auch gemeinsam an. Und ich werde auf keinen Fall Abstriche machen, wenn es zum Beispiel um den Kampf gegen Rechtsextremismus geht, um auch die vielen tollen Projekte im Bereich Demokratie leben, wenn es einfach auch darum geht, für eine offene und vielfältige Gesellschaft einzutreten. Da gibt es für mich nicht ein bisschen Eintreten, sondern nur entschiedenes Eintreten.
Tim Meyer: Inwiefern ist es als Frauen- und Familienministerin hilfreich, selbst Feministin und Mutter von vier Kindern zu sein?
Anne Spiegel: Also ich glaube, das ist von großem Vorteil, weil ich habe Kinder zu Hause. Ich weiß, wie Familienleben ist, wie Familienalltag ist, auch wo man so an seine Grenzen kommt und was es deswegen auch braucht. Zum Beispiel gute Schulen und Kitas, und die auch erst als allerletztes in der Pandemie geschlossen werden und nicht als allererstes. Und Feministin zu sein, ich glaube das hilft so ziemlich bei jedem Thema. Und mein Eindruck ist schon, als Feministin kommt man doch wesentlich besser durchs Leben.
Tim Meyer: Warum kommt man da besser durchs Leben?
Anne Spiegel: Na ja, ich finde es schon wichtig, dass man sich auch klar macht, dass es in unserer Gesellschaft ein Machtgefälle gibt. Und Feministin bedeutet für mich, dass ich das nicht nur einfach sehe und im stillen Kämmerlein sitze, sondern dass ich das auch artikuliere, und dass ich es vor allen Dingen ändern will. Dass ich das anpacken möchte, und dass Gleichberechtigung für mich viel mit gleichen Machtverhältnissen zu tun hat. Weil gleiche Machtverhältnisse, das würde auch den Sexismus reduzieren in unserer Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen und auch die gleiche Repräsentanz, das hat auch etwas mit Macht zu tun.
Tim Meyer: Wir haben darüber gesprochen, was du als erstes anpacken und umsetzen willst. Wenn du aber unabhängig von einzelnen Projekten in vier Jahren auf deine Amtszeit zurückblickst, wie könnte Deutschland aussehen, wenn deine Arbeit erfolgreich war?
Anne Spiegel: Na ja, ich will hoffen, dass nach vier Jahren man den Blick zurück dann auch wagen kann und sagen kann: Hey, wir haben jetzt eine Kindergrundsicherung eingeführt, wir haben damit eine Kampfansage, eine erfolgreiche, gemacht, Kinderarmut und Familienarmut endlich reduziert in Deutschland. Wir haben die Istanbul-Konvention umgesetzt und dadurch auch eine gute Beratungsinfrastruktur für von Gewalt betroffene Frauen umgesetzt. Wir haben insgesamt auch viel für queer gemacht und das wären so die Themen. Wenn wir es dann noch schaffen, dass tatsächlich junge Menschen ab 16 wählen können, dann wäre ich sehr, sehr glücklich.
Tim Meyer: Und wenn du noch einmal so ein bisschen von weiter oben schaust, so atmosphärisch, so wie Deutschland aussehen könnte?
Anne Spiegel: Also, ich werde jeden einzelnen Tag dafür kämpfen, dass wir in vier Jahren sagen können: Diese Gesellschaft ist bunter, vielfältiger und offener geworden. Und vor allen Dingen, dass wir die gesellschaftliche Vielfalt, eine Realität, die wir ja jetzt schon haben, dass wir die für die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen endlich angepasst haben.
Tim Meyer: Du bist keine Abgeordnete des Bundestags und damit auch kein Mitglied der grünen Bundestagsfraktion. Wie läuft dann eigentlich der Austausch zwischen deinem Haus und der Fraktion?
Anne Spiegel: Der läuft sehr, sehr gut. Also, ich habe mich da mit offenen Armen aufgenommen gefühlt. Sowohl wenn es um den Fraktionsvorstand geht, als auch natürlich die Abgeordneten, mit denen ich fachlich viel zu tun haben werde: Maria Klein-Schmeink und Ulle (Schauws, Anmerkung der Redaktion) und viele, viele andere mehr. Wie gesagt, mit Britta (Haßelmann, Anmerkung der Redaktion) und Katharina (Dröge, Anmerkung der Redaktion) bin ich auch in einem ganz engen Austausch und dann natürlich mit meinen rheinland-pfälzischen Abgeordneten auch, also ich hoffe, wenn das mit der Pandemie besser wird, dass wir dann auch mal einen Rheinland-Pfalz Stammtisch machen können.
Tim Meyer: Liebe Anne, vielen Dank für das Gespräch.
Anne Spiegel: Sehr gerne.
Tim Meyer: Das waren die Gespräche mit unseren fünf Minister:innen. Die grüne Bundestagsfraktion freut sich sehr auf die Zusammenarbeit mit ihnen und allen anderen Häusern der neuen Bundesregierung. Wenn ihr Lob, Kritik oder Fragen loswerden wollt, schreibt uns gerne an podcast@gruene-bundestag.de. Wenn ihr informiert bleiben wollt, was die grüne Bundestagsfraktion noch alles macht, schaut auf unsere Website www.gruene-bundestag.de oder folgt uns in den sozialen Netzwerken auf Instagram, Twitter und Facebook. Vielen Dank fürs Zuhören, macht es gut und bleibt gesund.
Intro/Outro: Uns geht es ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
In unserem Podcast "Uns geht's ums Ganze" sprechen wir mit den neuen Vorsitzenden der grünen Bundestagsfraktion, Britta Haßelmann und Katharina Dröge, über Führungsstil im Team, eine Fraktion in Regierungsverantwortung und Schlüsselmomente bei den Ampelverhandlungen.
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Transkript des Podcasts
Katharina Dröge: Britta und ich kennen uns schon sehr lange aus der Zusammenarbeit und schätzen uns sehr und ich glaube, wir ergänzen uns sehr gut, weil wir beide vielleicht mit unterschiedlichem Temperament in die Sache reingehen, aber beide gleichzeitig mit dem großen Willen, erstens eine Fraktion als Team zu führen, jede und jeden Einzelnen auch zu sehen, einzubinden, ein Klima der Wertschätzung zu schaffen und die Leute anzuhören, mitzunehmen. Ich glaube, das eint uns in der Art und Weise, wie wir die Fraktion führen wollen.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
Britta Haßelmann: Hallo zusammen, ich bin Britta Haßelmann, bin gerade 60 geworden, komme aus Bielefeld und bin seit 2005 im Deutschen Bundestag.
Katharina Dröge: Hallo, mein Name ist Katharina Dröge. Ich bin 37 Jahre alt, komme aus Köln und bin seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestags.
Tim Meyer: Ein herzliches Willkommen an die Gästinnen und an unsere Hörer:innen. Wir begrüßen euch zu einer neuen Folge: Uns geht's ums Ganze. Mein Name ist Tim Meyer. Ich bin Referent in der Öffentlichkeitsarbeit der grünen Bundestagsfraktion. Heute sprechen wir mit den neuen Vorsitzenden der grünen Bundestagsfraktion, Britta Haßelmann und Katharina Dröge. Herzlich willkommen noch einmal!
Britta Haßelmann: Hallo!
Katharina Dröge: Hallo! Danke für die Einladung!
Tim Meyer: Britta, muss die Vorsitzende einer so großen grünen Bundestagsfraktion auch eine Dompteurin sein?
Britta Haßelmann: Die hat ganz schön viele Eigenschaften zu haben. Das wäre ganz gut, wenn das so ist. Und ein bisschen Strenge und ein bisschen Managerin-Funktion und vor allen Dingen ein großes Herz, den Laden zusammenzuhalten, braucht es dafür.
Tim Meyer: Die neue Fraktion ist ja auch jünger, diverser und weiblicher. Bedeutet das, wir bekommen mehr Ideen und Einflüsse oder sind damit auch mehr Kontroversen zu erwarten?
Britta Haßelmann: Also erstmal sind wir eine so große, so weibliche, so junge und vielfältige Fraktion, wie wir noch nie hatten. 118 Abgeordnete hat diese grüne Bundestagsfraktion, so groß war sie noch nie. Das ist erst einmal toll und freut uns alle sehr, denn wir sind einfach so unterschiedlich mit unseren Fähigkeiten, mit dem, was wir hier einbringen wollen, mit dem, was wir können und vertreten. Und es macht Spaß in dieser neuen großen Gruppe jetzt diesen Auftrag, Regierungsfraktion zu sein, nach 16 Jahren Opposition anzunehmen und all das, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben an Projekten, dann auch für die Bürger:innen umzusetzen.
Tim Meyer: Und erwartest du mehr Kontroversen?
Britta Haßelmann: Natürlich werden wir in der Sache auch streiten oder um Ideen ringen und das ist doch so ähnlich wie im Parlament. Deshalb bin ich auch so leidenschaftlich gern im Parlament, denn auch dort ist der Ort der Debatte, des Ringens um die besten Ideen, der Rede und Gegenrede und am Ende des Findens eines Kompromisses. Darum geht es dann, und das ist bei uns im Kleinen, in der Fraktion natürlich auch so. Wir ziehen alle an einem Strang. Wir unterstützen unsere grünen Minister:innen bei der Realisierung und Umsetzung der Projekte. Aber wir werden natürlich auch in der Sache vielleicht hart streiten oder um die beste Idee und den besten Weg zur Realisierung eines Projektes ringen.
Tim Meyer: Ist das denn dabei auch hilfreich, vielleicht jetzt einmal an Katharina die Frage, dass ihr unterschiedliche Generationen seid?
Katharina Dröge: Also Britta und ich kennen uns schon sehr lange aus der Zusammenarbeit und schätzen uns sehr. Und ich glaube, wir ergänzen uns sehr gut, weil wir beide vielleicht mit unterschiedlichem Temperament in die Sache reingehen. Aber beide gleichzeitig mit dem großen Willen, erstens eine Fraktion als Team zu führen, jede und jeden einzelnen auch zu sehen, einzubinden, ein Klima der Wertschätzung zu schaffen und die Leute anzuhören, mitzunehmen. Ich glaube, das eint uns in der Art und Weise, wie wir die Fraktion führen wollen. Und jede bringt natürlich aus ihrer Biografie unterschiedliche Erfahrungen mit. Und das ist ja dann auch so wertvoll, wenn man sich dann zusammensetzt, sich eine Frage anschaut und sich überlegt: "Was schlagen wir denn der Fraktion eigentlich vor? In welche Richtung könnte es gehen? Wie wollen wir mit unseren Fachabgeordneten darüber sprechen?" Es ist natürlich gut, wenn man vielleicht aus zwei unterschiedlichen Perspektiven noch einmal auf eine Frage schaut, um dann zu sagen: "Wenn wir jetzt gemeinsam sagen, das funktioniert, dann haben wir schon einmal mit zwei Brillen darauf geschaut." Deswegen ist das aus meiner Sicht auf jeden Fall eine Bereicherung.
Tim Meyer: Du hast jetzt gerade auch schon etwas zum Führungsstil gesagt, den ihr euch vorgenommen habt, Wertschätzung, könnt ihr vielleicht noch mehr sagen? Habt ihr euch da noch irgendwas überlegt, wie ihr mit der Fraktion als Führungsperson umgeht?
Katharina Dröge: Also gerade weil wir so eine große, neue, vielfältige Fraktion haben, ist es ja total wichtig, jetzt erst einmal einen Prozess noch weiter laufen zu lassen, wo alle gut ankommen können, wo alle auch mit ihren Fragen mitgenommen werden. Und eine Kultur zu etablieren, wo man sagt, nicht weil es immer schon so war, muss es so bleiben. Das habe ich auch als neue Abgeordnete vor einigen Jahren, als ich in den Bundestag kam, immer so empfunden, dass es wichtig ist, dass wir eine Kultur haben, wo auch die neuen mit neuen Ideen sich direkt einbringen können und man sich das anhört und sagt: "Okay, stimmt, das ist ein guter Punkt, da können wir auch etwas anders machen, auch wenn wir es viele Jahre jetzt schon in einer bestimmten Art und Weise gemacht haben." Das finde ich ganz wichtig, diese Offenheit immer zu signalisieren, weil jeder ist hier mit der gleichen Berechtigung, und jede. Und deswegen sind auch alle Anregungen gleichberechtigt und gleich ernsthaft. Und diese Kultur zu prägen ist aus meiner Sicht so eine Grundlage dafür, dass wir dann auch wirklich als Team gut zusammenarbeiten können.
Tim Meyer: Vielleicht kannst du, Britta, da noch etwas zu der neuen Struktur sagen, die sich die Bundestagsfraktion jetzt auch gegeben hat. Und die Arbeitsweise soll ja auch geändert werden. Was ist denn genau dieses Ziel der Änderung?
Britta Haßelmann: Also erst einmal ist es so, wir waren bisher immer im Deutschen Bundestag um die 50, 60, 67 Abgeordnete zuletzt. Und jetzt sind wir 118. Und das hat uns dazu veranlasst zu sagen, wie wollen wir eigentlich künftig dann arbeiten? Vielleicht mit einem Rollenwechsel als Regierungsfraktion und einem unglaublichen Wachstum, was ja toll ist. Und deshalb haben wir eine intensive Diskussion geführt, zusammen mit den neuen Abgeordneten, also der neuen Fraktion, darüber, wie wir künftig arbeiten wollen und uns ein paar veränderte Strukturen gegeben. Dazu gehört zum Beispiel ein erweiterter, großer Fraktionsvorstand, in dem alle Arbeitsgruppen-Sprecher:innen dabei sind. Davon versprechen wir uns sehr viel. Dadurch können wir einfach mehr Menschen einbeziehen in die Vorbereitung der Fraktionsarbeit, dadurch, dass sie in einem erweiterten Fraktionsvorstand vertreten sind. Und das verändert natürlich unsere Struktur. Wir haben uns auch nicht mehr in fünf Arbeitskreisen, wie die Fraktion das früher kannte, organisiert, sondern dadurch, dass wir ein solches Wachstum haben und zum Teil dann mit sieben Leuten in einem Ausschuss vertreten sind, sind wir als Arbeitsgruppe eines Ausschusses fast so groß, wie früher ein kleiner AK. Und deshalb haben wir auch das verändert und den Arbeitsgruppen mehr Autonomie gegeben, weil sie an sich schon ein großer Arbeitszusammenhang sind und organisieren uns interdisziplinär dann in fünf Fachbereiche. Aber die Arbeitsgruppen haben eine viel größere Kompetenz und auch ein gemeinsameres Agieren dann vertreten, auch im erweiterten Fraktionsvorstand. Das ist der große Unterschied, glaube ich. Es gibt noch ein paar weitere. Wir haben nicht 118 Sprecher:innen-Funktionen, aber jede und jeder unserer Abgeordneten hat natürlich einen Vollsitz in einem Ausschuss, manche sogar zwei und stellvertretende Sitze in Ausschüssen und hat Berichterstattung für bestimmte Themen. Das ist ganz wichtig, damit jede und jeder Abgeordneter auch die Erkennbarkeit nach außen hat und weiß, wo er und sie arbeitet, in welchem Fachbereich und mit welchem Thema. Und all das haben wir jetzt hingekriegt, kurz vor Weihnachten noch. Es ist eine unglaubliche Leistung, denn wir haben ja nach der Bundestagswahl sondiert, danach Koalitionsverhandlungen geführt. Die Mitgliedschaft hat 86 Prozent Zustimmung gegeben. Wir haben uns als Fraktion eine neue Arbeitsweise gegeben, den Fraktionsvorstand gewählt und jetzt kann es inhaltlich richtig losgehen. Und darauf freuen wir uns sehr.
Tim Meyer: Du hast das jetzt gerade beschrieben, wie wir aufgestellt sind. Aber fällt für eine Regierungsfraktion überhaupt noch so viel Arbeit an? Oder passiert das nicht in den Ministerien? Also was ist denn eigentlich die Aufgabe einer Regierungsfraktion im Deutschen Bundestag?
Katharina Dröge: Die Regierungsfraktion hat natürlich eine enorm wichtige Rolle im Gesetzgebungsverfahren. Wir sind am Ende diejenigen, die die Gesetze im Deutschen Bundestag beschließen. Und das heißt, wir sind auch diejenigen, die die Gesetze beraten. Und da werden von unseren Abgeordneten auch eigene Impulse kommen. Da werden auch frühzeitig bei den Gesetzesentwürfen Anregungen natürlich dabei sein. Rückkopplung, Austausch, das Ringen miteinander mit den anderen beiden Ampel-Partnern darüber, wie formulieren wir es denn jetzt im Detail auch wirklich genau so aus, dass es auch das Ziel erreicht, was wir jetzt im Koalitionsvertrag miteinander gemeint haben? Ich habe in meiner Zeit als Abgeordnete so viele Gesetzgebungsverfahren begleitet, wo am Ende ziemlich hektisch noch nachgesteuert werden musste, weil auf einmal in Expertenanhörungen festgestellt wurde, so wie es vorgeschlagen war, erreicht es gar nicht das, was man erreichen wollte. Und wir nehmen uns natürlich vor, dass wir da bessere Gesetzgebungsverfahren hinkriegen durch frühzeitige Einbindung von Expert:innen, von Verbänden, aber eben auch der ganzen Kompetenz der Abgeordneten, damit auch wirklich am Ende die Ziele erreicht werden. Das ist ziemlich viel Arbeit für die Abgeordneten im Deutschen Bundestag, da auch in den Details, in den juristischen Fachfragen dann mitzuarbeiten. Deswegen wäre meine Erwartung, dass das mindestens nicht weniger Arbeit wird, als im Oppositionsfall, wahrscheinlich sogar deutlich mehr, weil der zweite Job, der natürlich dazu kommt, für uns alle, ist die Übersetzung dessen, was wir hier tun, nach außen. Das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit den Verbänden, die natürlich noch viel genauer nachfragen werden in Zukunft. Warum macht ihr das und warum macht ihr das nicht? Und was versteckt sich denn hinter dem ganzen technischen Kram, den ihr da in die Gesetze geschrieben habt wirklich? Das den Menschen zu erklären, auch Kompromisse zu erklären. Das wird noch einmal sehr viel intensiver für die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen und auf den Podien. Und deswegen erwarte ich schon, dass wir eine hohe, hohe Arbeitsbelastung haben. Aber wir haben jetzt neue Strukturen, die hat Britta auch dargestellt, die hoffentlich Verantwortung so dezentral verteilen und alle mit an Bord halten und in die Verantwortung nehmen, so dass die Arbeitsbelastung auch für alle machbar ist.
Tim Meyer: Du hast jetzt auch gerade davon gesprochen, wie so ein Koalitionsvertrag eigentlich dann ausgelegt wird. Der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert hat dazu jetzt gerade gesagt oder letzte Woche, dass es ja auch Stellen gibt, die Prüfaufträge enthalten. Also wie bewertet ihr das denn, vielleicht an Britta die Frage. Wird so ein Koalitionsvertrag einfach nicht nur abgearbeitet, sondern wir können als grüne Bundestagsfraktion da jetzt auch noch weitere Akzente setzen?
Britta Haßelmann: Erst einmal ist es natürlich so, dass wir uns eine ganze Reihe von Projekten vorgenommen haben und dass es jetzt wirklich an die Umsetzung geht. Weil dafür sind wir ja gewählt worden. Menschen haben Erwartungen formuliert an Bündnis 90/Die Grünen und wir sind jetzt zu 118 mit 4 Minister:innen [5 Minister:innen, Anmerkung der Redaktion] hier in Berlin im Deutschen Bundestag und in der Bundesregierung vertreten. Und jetzt geht es an die Umsetzung dieser konkreten Projekte, die wir uns im Bereich des Klimaschutzes, von mehr Gerechtigkeit und dem sozialen Miteinander, einer vielfältigen Gesellschaft oder auch einer klar akzentuierten Außenpolitik, wertegeleiteten, menschenrechtsbasierten Außenpolitik vorgenommen haben. Und da steckt ganz viel jetzt drin in diesem Vertrag, was es gilt anzugehen und umzusetzen. Ich sage, zum Beispiel die Kindergrundsicherung. Dafür haben wir so lange Jahre gekämpft, uns nicht damit abzufinden, dass jedes fünfte Kind in Armut lebt und dass Kinder wirklich faire Chancen kriegen. Und das packen wir jetzt an. Und so geht es in vielen, vielen Politikfeldern. Und natürlich ist das die Basis, die Grundlage, ein solcher Koalitionsvertrag. Aber Politik und gesellschaftliches Leben, Entwicklung ist ja nichts Statisches. Das heißt, es werden immer wieder neue Situationen kommen, die entweder im Koalitionsvertrag nicht beschrieben waren, aber dringendes Handeln erfordern oder die sich vielleicht verändern, auf die wir reagieren. Das macht es ja auch so spannend in der Politik, das ist so herausfordernd in der Politik. Und selbstverständlich gilt das dann auch für ein Ampel-Bündnis. Der Koalitionsvertrag ist die Basis, da sind festgeschriebene Projekte. Aber zum Beispiel die aktuelle Lage jetzt, die Notsituation um Corona, die dramatische Pandemiebekämpfungssituation, das erfordert ständig Entscheidungen und darauf muss man sich einlassen als Abgeordnete, als Fraktion und auch als Teil der Regierung. Und in dieser Situation sind wir jetzt.
Tim Meyer: Vielleicht da auch ganz kurz nachgefragt. Genau, das zweite Jahr der Corona Pandemie geht ja zu Ende und die Ampelkoalition hat ja schon während der Verhandlung auch das Infektionsschutzgesetz angepasst und weitere Maßnahmen gegen das Virus beschlossen. Wie geht ihr denn in das nächste Jahr und was macht euch hoffentlich auch Hoffnung, Katharina?
Katharina Dröge: Also mir macht Hoffnung mit Blick auf das nächste Jahr, dass wir es als Ampel-Bündnis geschafft haben, sehr schnell gemeinsam ins Handeln zu kommen. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass drei Partner:innen noch während der laufenden Koalitionsverhandlung, wenn sie noch gar nicht wissen, ob sie am Ende Partner:innen sind, schon gemeinsam sagen: Die Situation ist jetzt so dramatisch mit Blick auf Corona, dass wir Verantwortung übernehmen müssen, es nicht mehr der geschäftsführenden Bundesregierung überlassen können, die aber dafür auch eigentlich noch da war. Das muss man auch dazu sagen. Dafür hat man eine geschäftsführende Bundesregierung, damit sie auch so lange die Geschäfte führt, bis eine neue Regierung steht. Trotzdem haben wir gesagt, wir übernehmen Verantwortung. Wir sind auch bereit, schnell weiter zu handeln, wenn die Lage es erfordert. Das haben wir auch in den letzten Wochen gemacht. Auch in der letzten Sitzungswoche haben wir das gemacht. Und dabei haben wir es wirklich geschafft, uns schnell zu verständigen und auch schnell die notwendigen Verfahren im Parlament durchzubringen. Und das war etwas, was uns als Grünen ja immer sehr, sehr wichtig war, dass wir gesagt haben, die Corona Politik muss aus dem Deutschen Bundestag heraus gemacht werden. Wir sind der Ort der Debatte, der Entscheidung und das kann man den Menschen dann auch besser erklären. Das haben wir hingekriegt. Und wenn wir in diesem Geist weiterarbeiten für das nächste Jahr, wo wir natürlich weiter auch mit Blick auf die Corona Pandemie dafür sorgen müssen, dass die Impfquoten steigen, weil das der beste Weg ist, die Lage dann auch wirklich im Griff zu haben. Aber diesen Geist auch übertragen auf andere Krisen wie die Klimakrise, deren Bekämpfung jetzt ansteht, das wird die große Aufgabe dieser Koalition sein, da so schnell ins Handeln zu kommen, dann bin ich sehr optimistisch.
Tim Meyer: Wir haben jetzt auch gerade schon über die Koalitionsverhandlungen gesprochen. Ich würde gerne noch einmal ganz kurz zurückblicken, weil schon so viel über die Atmosphäre der Koalitionsverhandlung geschrieben und gesprochen wurde. Aber ihr wart Teil der Verhandlungsteams. Deshalb würde mich interessieren, was für euch persönlich so ein Schlüsselmoment war, wo ihr auch gedacht habt, das wird gelingen und das wird auch gut.
Britta Haßelmann: Ja, also ich habe das zum Ende der Sondierungen gedacht, weil ich einfach diesen Prozess so ganz anders fand als die Jamaika-Sondierung. Da durfte ich auch die Grünen vertreten in der Gruppe. Eigentlich jeden Tag, wenn wir aus Sondierungen kamen, bevor wir darüber sprachen mit Dritten, lief schon alles über die Medien. Und während dieser Sondierungen der Ampel hatte ich das Gefühl, es wird schwierig werden an der einen oder anderen Stelle. Es wird auch Kompromisse geben müssen, die uns nicht passen, weil wir eine andere Auffassung haben. Hier reden wirklich drei unterschiedliche Partner, Partner:innen über ein Bündnis. Aber es war sehr vertrauensvoll der Umgang miteinander und von Respekt getragen. Und das fand ich besonders wichtig, denn das eine ist ja die sachliche Vereinbarung zu konkreten Projekten. Das andere ist, dass man mit Menschen zusammenarbeiten muss, die vielleicht nicht alles genauso sehen wie Katharina und ich oder andere Grüne. Und das braucht eine stabile, belastbare Grundlage. Und am Ende der Sondierungen hatte ich das Gefühl, das kann etwas werden.
Tim Meyer: Und wie war es bei dir, Katharina?
Katharina Dröge: Also ich habe ja die Verhandlungsgruppe Arbeitsmarktpolitik geleitet und meine Verhandlungspartner waren Hubertus Heil bei der SPD und Johannes Vogel bei der FDP. Und wir haben sehr früh miteinander darüber gesprochen, in welchem Klima wollen wir diese Koalitionsverhandlungen eigentlich führen. Und haben es dann geschafft, miteinander zu vereinbaren, zu sagen, okay, wir akzeptieren voneinander, dass wir aus unterschiedlichen Richtungen kommen. Wir versuchen da gar nicht, uns gegenseitig katholisch zu machen. Wir versuchen auch nicht, die Punkte, die dem anderen am wichtigsten sind, dann nur deshalb kaputt zu machen, weil sie dem anderen am wichtigsten sind. Sondern auch anzuerkennen, okay, das ist ein Thema, das brauchst du. Damit musst du nach Hause kommen, um für dich und für deine Wählerinnen und Wähler sagen zu können, da habe ich etwas erreicht. Das ist ein Thema, das ist eine Schmerzgrenze, die kannst du nicht überschreiten, das ist dann in Ordnung. Und lass uns dazwischen den Raum suchen, wo wir auch gemeinsam Projekte haben, die eine gemeinsame Dreier-Erzählung auch ermöglichen. Im Arbeitsmarkt Kapitel ist das Weiterbildungskapitel zum Beispiel eins, auf das wir alle drei extrem stolz sind, weil wir gesagt haben, wir kommen aus unterschiedlichen Perspektiven, aber uns eint eines. Die Wirtschaft wird sich sehr stark verändern, die Digitalisierung verändert die Wirtschaft, die Klima-Transformation verändert die Wirtschaft und wir wollen den Menschen die Perspektive geben, mit dem, was sie können, auch weiterhin erfolgreicher Teil dieser neuen Wirtschaftswelt zu sein. Dafür braucht es Weiterbildung, um die Menschen mitzunehmen, in ihren Qualifikationen zu stärken. Und das war uns allen dreien extrem wichtig. Und das kann aus unserer Sicht im Arbeitsmarkt-Bereich zu so einer gemeinsamen Erzählung dieser Koalition werden. Veränderung, aber gleichzeitig auch Sicherheit und Halt. Und als wir festgestellt haben, und das war die allererste Runde, die wir miteinander gemacht haben, kriegen wir so eine gemeinsame Erzählung eigentlich hin. Und wir festgestellt haben, wir kriegen diese gemeinsame Erzählung hin, auch in einem Feld wie der Arbeitsmarktpolitik, was traditionell eher kontroverser ist zwischen den Koalitionspartnern und der Frage, woher sie eigentlich kommen. Da habe ich gedacht, okay, wenn wir das hier schaffen, dann schaffen wir das auch grundsätzlich.
Tim Meyer: Ich würde gerne noch einmal zu euren Rollen, die ihr vorher hattet, zu sprechen kommen. Britta, du warst ja acht Jahre lang vorher erste Parlamentarische Geschäftsführerin und die Süddeutsche Zeitung hat auch einmal über dich geschrieben, dass du Maschinistin bist und die ganze Mechanik des Bundestages so gut kennen würdest. Was hat sich denn jetzt für dich an deiner Rolle geändert?
Britta Haßelmann: Ja, also jetzt liegt nicht mehr das Hauptaugenmerk darauf, dass ich gemeinsam mit den anderen ersten Parlamentarischen Geschäftsführer:innen der anderen Fraktion und der Bundestagspräsidentin darüber diskutiere, wie die Abläufe einer Sitzungswoche sind. Das war vorher meine Aufgabe. Also einfach dafür zu sorgen, dass so eine Sitzungswoche einen guten Ablauf hat, dass klar ist, wann sind Themen gesetzt auf der Tagesordnung. Wo gibt es unterschiedliche Auffassungen, Kontroversen zwischen den Fraktionen über solche Fragen. Und das war so ein bisschen, ja, der Maschinenraum. Die Grundlage dafür, dass inhaltliche Debatten im Parlament stattfinden können. Und das ist jetzt natürlich eine andere Aufgabe. Also ich habe die Aufgabe super gern gemacht, hat man mir, glaube ich, auch angemerkt.
Katharina Dröge: Ja.
Britta Haßelmann: Parlament zu vertreten, nach innen und nach außen, für die Fraktion, aber auch fürs Parlament an sich zu streiten. Denn wir hatten in den acht Jahren ja Große Koalition und das war oft ganz schön träge im Parlament. Und dieses Lebendige, dass das Parlament der Ort der Debatte ist, der Kontroverse, des Kompromisses, dass da gerungen wird um die besten Ideen und dass dort auch entschieden wird und wir kontrollieren. Das hört sich so selbstverständlich an mit Blick auf die parlamentarische Demokratie. Aber in Zeiten Großer Koalitionen schleift so etwas und wird auch träge und müde. Und da habe ich natürlich immer versucht, mich für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einzumischen. Und manchmal ist es mir auch ganz gut gelungen. Und jetzt ist die Aufgabe eine andere. Ich bin Vorsitzende zusammen mit Katharina, Vorsitzende einer Regierungsfraktion und vertrete natürlich die Fraktion nach außen. Ich bin mit Leib und Seele im Parlament geblieben und lasse mich auch auf etwas ganz Neues ein. Wie andere auch, wie unsere Minister:innen, wie unsere ganze Fraktion oder Katharina, mit der ich zusammen jetzt die Vertretung der Fraktion mache als Doppelspitze. Das können wir beide. Ich bin es gewohnt, als Landesvorsitzende der Grünen, Doppelspitzen erprobt und Katharina ja auch. Von daher, ich freue mich jetzt auf diesen spannenden, neuen Job, diese Herausforderung und ich habe auch eine Menge Respekt davor.
Tim Meyer: Katharina, du warst zuletzt Sprecherin für Wirtschaftspolitik. Jetzt bist du für ein sehr breites Themenspektrum zuständig. Was ist denn für dich der Reiz daran, jetzt als Generalistin zu kommunizieren und nicht mehr deiner Leidenschaft als Fachpolitikerin nachzugehen?
Katharina Dröge: Also ich werde meiner Leidenschaft für Wirtschaftspolitik sicherlich treu bleiben, sonst wäre ich nicht mehr ich, wenn ich das nicht auch sagen würde. Aber es ist natürlich toll, für die gesamte Fraktion und auch für die Bandbreite der Themen Verantwortung zu übernehmen. Ich habe das in den letzten vier Jahren im Fraktionsvorstand natürlich immer wieder auch schon gemacht, wenn wir die allgemein politischen Debatten hatten, dass ich mit diskutiert habe, über andere Themen, Impulse gegeben habe, Nachfragen gestellt habe und wir gemeinsam im Fraktionsvorstand eine Richtung festgelegt haben für alle Themen. Wie stellen sich die Grünen gut auf? Wo wollen wir vorangehen? Wo wollen wir Akzente setzen? Und ich habe da mit der Wirtschaftspolitik ziemlich viel Glück aus meiner Sicht, weil die Wirtschaftspolitik von sich aus schon so viele Anknüpfungspunkte zu anderen Themenfeldern hatte, auch in der Vergangenheit, so dass ich grundsätzlich immer schon mit sehr vielen Kollegen und sehr vielen Fachbereichen zusammengearbeitet habe. Wirtschaftspolitik ist immer auch Energiepolitik, hat immer auch Beziehung zu Naturschutz-Fragen, wenn Unternehmen ihre wirtschaftliche Tätigkeit ausweiten wollen, sind da Abwägungsfragen, die getroffen werden müssen. Hat immer eine starke arbeitsmarktpolitische Seite. Ich habe immer gesagt, es ist absurd, dass man Wirtschaftspolitik nur aus Sicht der Arbeitgeber definiert und nicht auch aus Sicht der Arbeitnehmer:innen. Diese Trennung gibt es für mich eigentlich gar nicht. Damit auch eine starke sozialpolitische Seite, eine familienpolitische Seite, Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wie schafft man es, das so auszugestalten, dass Familien nicht zerrissen werden in dieser Vereinbarkeit? All das waren immer schon Schnittstellen. Und auch zur internationalen Politik. Handelspolitik ist aus meiner Sicht einer der größten Motoren für internationale Vereinbarungen, aber vielleicht auch eines der größten Instrumente, mit denen wir unsere Werte durchsetzen können. Das heißt, ich hatte jetzt schon viele Schnittstellen zu anderen Themen, eine große Zusammenarbeit mit vielen Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion und das zu intensivieren und dafür jetzt Gesamtverantwortung zu übernehmen, das empfinde ich als unheimliches Privileg, das machen zu dürfen. Aber auch natürlich als unheimliche Herausforderung. Niemand geht, glaube ich, in dieses Amt, ohne auch Respekt vor dem nächsten Schritt und der neuen Aufgabe zu haben. Und Britta hat gesagt, sie arbeitet gerne in Doppelspitzen. Mir selber geht das auch so. Ich habe in der Vergangenheit auch viel von meinen Mitvorsitzenden gelernt. Sven Lehmann in der Grünen Jugend, Anne Lütkes später im Kreisverband der Kölner Grünen. Da habe ich mich auch viel rückgekoppelt und gelernt von meinen Mitvorsitzenden. Deswegen bin ich sehr froh, das mit Britta zusammen machen zu können, die unheimlich viel Erfahrung jetzt schon mitbringt und sich mit ihr austauschen zu können. Das ist für mich eine sehr, sehr gute Sache.
Tim Meyer: Stichwort breites Themenspektrum. Die Fraktionsvorsitzenden teilen sich ja meistens diesen großen Strauß an politischen Themen unter sich auf. Habt ihr das schon gemacht? Und könnt ihr vielleicht ein paar Themen nennen, die euch persönlich besonders am Herzen liegen?
Britta Haßelmann: Haben wir noch nicht gemacht, dafür war noch keine Zeit. Und jetzt gibt es eigentlich jeden Tag total viel zu tun, sodass wir solche Grundsatzfragen, wer macht demnächst was und wer macht genau welche Themenaufteilung - zum Teil liegt es auf der Hand, weil wir einfach schon lange in bestimmten Bereichen arbeiten - aber das haben wir im Detail noch nicht gemacht. Aber ich bin getragen von einem Gefühl, wenn wir dann ab Januar richtig durchstarten, haben wir das ganz schnell sortiert und machen das. Wir arbeiten super kooperativ zusammen und das zeigen schon die ersten Tage und Wochen auch hier im Miteinander. Und deshalb werden wir das im Januar machen. Und bei ein paar Sachen ist es auch klar und es ist einfach auch so aus unserer Arbeit bisher im Bundestag. Katharina hat das gerade beschrieben für die Wirtschaftspolitik. Bei mir ist es bei vielen Themen aus dem Bereich Kinder, Gesundheit, Soziales, aber auch Demokratie-Themen und da werden wir uns ganz schnell dann im Januar zusammensetzen, damit jede und jeder auch weiß, wie es ist im Detail.
Katharina Dröge: Genau, wir haben einen Satz miteinander besprochen und haben gesagt, das kriegen wir hin. Das ist überhaupt kein Problem. Das war die Vereinbarung. Und da sind wir, glaube ich, beide sehr von überzeugt.
Tim Meyer: Dann wollen wir das jetzt nicht hier im Podcast öffentlich verhandeln.
Katharina Dröge: Das wäre auch ein Versuch.
Tim Meyer: Aber Stichwort Zeit, Katharina, du hast in einem Interview mit der ZEIT über deine Kinder gesprochen und dass die ja auch ein Recht haben, dass du Zeit mit ihnen verbringst. Und du hast dazu gesagt: "Die Konsequenz ist, dass ich nicht immer erreichbar sein werde, dass es Zeiten gibt, in denen ich meine Kinder ins Bett bringe oder in die Kita, dass ich Führung teilen will und Raum schaffen will, der exklusiv für meine Familie reserviert ist." Was muss bei dir und anderen zusammenkommen, dass das wirklich funktioniert?
Katharina Dröge: Also das Wichtigste aus meiner Sicht ist, dass man es wirklich will. Weil Politik ist immer dringend, immer wichtig und von der Art und Weise her sehr schnelllebig und damit neige ich dazu, ihr sehr viel Raum auch zu geben. Muss ich natürlich auch. Ich kann mich für den Job der Fraktionsvorsitzenden nicht bewerben, ohne ein großes Zeitbudget mitzubringen, den Willen, das dann auch wirklich vorrangig zu machen. Und trotzdem muss man sich ganz hart vornehmen und sagen, dieses Zeitfenster ist reserviert. Das ist genauso wichtig wie alle anderen Termine auch. Da kämpfe ich darum, da mache ich so einen kleinen Schutzzaun darum. Das ist jetzt die Zeit für die Kinder und das muss man wirklich durchziehen. Das habe ich in den letzten acht Jahren schon erlebt, weil auch die Aufgabe als Abgeordnete ist dringend, schnelllebig und wichtig. Und auch da kann man Gefahr laufen, auf so eine Rutsche zu geraten und zu sagen, okay, dann knapse ich hier noch einmal eine halbe Stunde von der Zeit für die Kinder ab und dann gehe ich da doch noch einmal eine Viertelstunde früher wieder weg. Und dann gucke ich doch noch einmal die ganze Zeit aufs Handy, während ich eigentlich mit den Kindern spiele. Und das habe ich eigentlich ziemlich gut für mich hingekriegt, in den letzten acht Jahren zu sagen, nein, Zeit für Kinder ist Zeit für Kinder. Und es hängt am Ende an mir. Ich kann das keinem anderen auftragen, niemand kann mir das abnehmen, sondern ich muss diese Priorität setzen.
Tim Meyer: Du sagst jetzt gerade schon schnelllebig und dringend, da ist ja Twitter ein wichtiges Stichwort auch, dass du dann einmal nicht die erste bist, die einen Tweet kommentiert. Könnte dich das nicht unter Druck setzen?
Katharina Dröge: Also ich bin fast nie die erste, die einen Tweet kommentiert, ehrlich gesagt. Weil ich dazu neige, immer noch dreimal darüber nachzudenken, ob ich diesen Tweet jetzt wirklich auch schreiben soll oder ob er fachlich auch wirklich korrekt ist und in der Zuspitzung auch genau den richtigen Ton trifft. Ich bin niemand, der schnell twittert. Ich bin eher jemand, die dann, wenn sie twittert, dass es dann auch passt, das ist eher so meine Art und Weise, deswegen bin ich nie die erste und finde das auch gar nicht so schlimm, ehrlich gesagt.
Tim Meyer: Ja, ich komme zu meiner letzten Frage. Habt ihr um Weihnachten und Silvester etwas Zeit für Privates? Und was steht nach diesem anstrengenden Jahr bei euch ganz oben auf der Liste, Britta?
Britta Haßelmann: Ganz oben auf der Liste steht: Nach Hause fahren, Bielefeld und zu Hause zu sein. Ich glaube, jede und jeder von uns, die in diesem politischen Betrieb Berlin arbeitet, braucht eine Bodenhaftung. Und man braucht einfach eine Stabilität und einen Kompass, und Energie. Und ja, die Weihnachtszeit wird für viele Menschen auch im zweiten Corona Jahr wieder anders sein, als man sich das wünscht vielleicht. Ich werde zu Hause sein und werde das sehr genießen, einfach dort ein bisschen Ruhe und Energie zu tanken. Ob beim Walken, beim Spazieren durch den Teutoburger Wald oder beim Tee und einem schönen Roman, einmal keine Unterlagen lesen und hoffentlich keine Krisen-Telefonate und -Sitzungen. Das wäre sehr, sehr gut. Und natürlich das Zusammensein mit Familie. Ich habe keine kleinen Kinder mehr, aber ich bin ein absoluter Familienmensch und lebe ja in einer Hausgemeinschaft mit Eltern und Schwiegermutter. Und ja, das ist natürlich auch schön, das dann genießen zu können.
Tim Meyer: Also Rückzug und Ruhe ein bisschen.
Britta Haßelmann: Rückzug und Ruhe, genau.
Tim Meyer: Katharina, wie sieht es bei dir aus?
Katharina Dröge: Auch ich fahre endlich wieder nach Köln. Ich freue mich wahnsinnig darauf. Jetzt in den letzten Wochen, die so intensiv waren mit Koalitionsverhandlungen und Fraktionskonstituierung, war ich so wenig in Köln wie eigentlich in den letzten acht Jahren nicht mehr. Und deswegen bin ich total glücklich, endlich wieder nach Hause zu kommen. Und mein Herz hängt sehr an meiner Stadt. Und deswegen, allein wenn ich so über die Brücke fahre, den Dom sehe, dann weiß ich, ich bin zu Hause. Das ist das erste, worauf ich mich wahnsinnig freue. Und dann natürlich auch Zeit zu haben. Das ist genauso wie bei Britta. Das letzte Jahr war unfassbar intensiv und jetzt einfach einmal nichts tun. Gar nicht zu wissen, wie man den Tag gestaltet, sondern einfach morgens aufzustehen und sich zu überlegen, gehe ich jetzt joggen? Spiele ich zuerst mit den Kindern oder gehe auf den Spielplatz oder lese ein Buch oder mache etwas anderes? Telefoniere mit einer Freundin einmal ganz lange wieder, die ich ewig nicht gesprochen habe. Also, diese Freiheit zu haben, einfach gar nichts zu müssen und keine Termine im Kalender zu haben, das ist das, worauf ich mich jetzt auch am meisten freue.
Tim Meyer: Dann wünsche ich euch, dass das klappt und dass ihr die Zeit für euch findet.
Katharina Dröge: Danke schön.
Britta Haßelmann: Vielen Dank Tim. Und das wünsche ich natürlich auch allen. Allen, die uns jetzt gerade zuhören, eine frohe und besinnliche Weihnachtszeit. Achtet auf euch und genießt die Zeit.
Tim Meyer: Liebe Britta, liebe Katharina, ich bedanke mich für das Gespräch mit euch.
Katharina Dröge: Danke dir.
Britta Haßelmann: Gerne.
Tim Meyer: Den heutigen Podcast zeichnen wir am 14.12. auf. Ausgestrahlt wird er am 15.12.. Wenn ihr Lob, Kritik oder Fragen loswerden wollt, schreibt uns gerne an podcast@gruene-bundestag.de. Wenn ihr informiert bleiben wollt, was wir im Bundestag noch alles so machen, schaut auf unsere Website www.gruene-bundestag.de oder folgt uns in den Sozialen Netzwerken auf Instagram, Twitter und Facebook. Wir wünschen euch eine erholsame Weihnachtszeit, einen guten Jahreswechsel und schaltet gern im nächsten Jahr wieder ein. Vielen Dank fürs Zuhören, macht es gut und bleibt gesund. Tschüss.
Katharina Dröge: Tschüss und eine schöne Weihnachtszeit euch allen.
Britta Haßelmann: Tschüss, macht's gut.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.
In unserem Podcast "Uns geht's ums Ganze" sprechen wir mit Paula Piechotta, Anna Christmann und Johannes Wagner über evidenzbasierte Politik. Es geht darum, dass Fakten und Wissenschaft nicht nur die Grundlage für bessere Politik, sondern auch ein Gegenmittel für irrationalen Populismus sein können.
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Transkript des Podcasts
Paula Piechotta: Dieser Prozess, der unglaublich schwierig ist und bei dem es natürlich nicht darum geht, dass Wissenschaft Politik diktiert, aber dass wissenschaftliche Fakten Grundlage politischen Handelns sind, ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Prozess für die nächsten Jahre. Und jetzt gerade, wenn wir uns zum Beispiel die Verschwörungstheorien anschauen, wenn es um die Impfungen geht und so weiter – das destabilisiert Gesellschaft und es wird eine ganz zentrale Zukunftsfrage für die Stabilität von Gesellschaften sein, gerade auch bei uns hier im Osten, wie breit die politische Mehrheit ist, die Fakten als grundlegende Basis politischer Entscheidungen akzeptiert.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der Grünen Bundestagsfraktion.
Anna Christmann: Mein Name ist Anna Christmann. Ich bin 38 Jahre alt. Mein Wahlkreis ist Stuttgart. Ich bin seit 2017 im Deutschen Bundestag. Und als Bundestagsabgeordnete kann ich mich mit wahnsinnig vielen klugen und spannenden Menschen treffen und daraus - hoffentlich - wichtige Entscheidungen für unser Land treffen, und das macht mir großen Spaß.
Paula Piechotta: Ja, hallo. Ich bin Paula Piechotta. Ich bin 35 Jahre alt, komme aus Sachsen, genauer gesagt aus Leipzig. Ich bin Ärztin und jetzt seit Oktober im Deutschen Bundestag. Als Bundestagsabgeordnete will ich vor allen Dingen die Interessen des Ostens noch deutlich sichtbarer machen, und als Ärztin ist mir natürlich auch wichtig, dass unser Gesundheitssystem noch fitter wird.
Johannes Wagner: Ja, hallo zusammen. Ich bin Hannes, 30 Jahre alt und komme aus Coburg und der Wahlkreis ist auch Coburg/Kronach. Ich bin seit sechs Wochen im Bundestag, genau wie Paula, also seit dieser Wahlperiode. Und als Mitglied im Bundestag möchte ich vor allem die Zusammenhänge von Klima und Gesundheit hervorheben - Klima ist ja unser Kernthema als Grüne Partei. Ich bin auch Mediziner, genau wie Paula. Mir liegt vor allem die Gesundheit von uns allen am Herzen und diese Verbindung finde ich total spannend und wichtig.
Tim Meyer: Ein herzliches Willkommen an die Gäst:innen und an unsere Hörer:innen. Wir sind zurück mit dem Podcast der grünen Bundestagsfraktion, „Uns geht's ums Ganze“. Mein Name ist Tim Meyer. Ich bin Referent in der Öffentlichkeitsarbeit der grünen Bundestagsfraktion. Wie ihr schon gehört habt, sind wir heute eine große Runde. Weil sich unsere Fraktion mit der Bundestagswahl sehr gewandelt hat und jetzt mehr neue als erfahrene unter den 118 Abgeordneten sind, wollen wir diese beiden Gruppen miteinander ins Gespräch bringen, ein Schwerpunktthema vertiefen, aber auch etwas übers Ankommen erfahren. Heute sprechen wir mit unseren Gäst:innen über evidenzbasierte Politik, also inwiefern die Politik gut gestützte, wissenschaftliche Erkenntnisse bei ihren Entscheidungen berücksichtigt. Paula, du schreibst auf deiner Website, wofür du dich konkret einsetzen willst. Unter anderem steht da: „Eine solide wissenschaftliche Datenbasis für alle politischen Entscheidungen. Von Klimapolitik über Corona- und Gesundheitspolitik bis zur Landwirtschaftspolitik.“ Warum ist das aus deiner Sicht so wichtig?
Paula Piechotta: Was, glaube ich, so spannend ist, gerade wenn man hier im Osten – in Thüringen bin ich groß geworden und wohne ja jetzt in Sachsen –, da sieht man ganz stark, was passiert, wenn wissenschaftliche Fakten eben nicht Grundlage politischen Handelns sind. Ich glaube, bei der Klimakrise ist uns allen sehr bewusst, wie unglaublich elementar es ist, dass die Gesellschaft gewisse grundlegende Fakten anerkennt, um überhaupt die Probleme, die existieren, angehen zu können. Und wir sehen jetzt zunehmend, gerade auch mit der Corona-Krise, dass das eigentlich in allen politischen Themenfeldern Grundlage sein muss. Und dieser Prozess, der unglaublich schwierig ist und bei dem es natürlich nicht darum geht, dass Wissenschaft Politik diktiert, aber dass wissenschaftliche Fakten Grundlage politischen Handelns sind, ich glaube, das ist ein ganz, ganz wichtiger Prozess für die nächsten Jahre. Und jetzt gerade, wenn wir uns zum Beispiel die Verschwörungstheorien anschauen, wenn es um die Impfungen geht und so weiter – das destabilisiert Gesellschaft und es wird eine ganz zentrale Zukunftsfrage sein - auch für die Stabilität von Gesellschaften, gerade auch bei uns hier im Osten - wie breit die politische Mehrheit ist, die Fakten als grundlegende Basis politischer Entscheidungen akzeptiert.
Tim Meyer: Glaubst du denn, dass gerade jetzt, wo versucht wird, der vierten Welle mit einer höheren Anzahl von Impfungen entgegenzuwirken, die Fakten auch noch mal weiterhelfen können, oder haben sich die Impfskeptiker und -gegner so fest entschieden, dass das eigentlich gar nicht zu durchbrechen ist?
Paula Piechotta: Dazu gibt es ja verschiedene, wissenschaftliche Studien. Das ist regional sehr unterschiedlich. Ich glaube, die, die in Bremen noch nicht geimpft sind, setzen sich ganz anders zusammen als die, die bei uns in Ostsachsen noch nicht geimpft sind. Es gibt welche, die einfach immer noch unsicher sind, weil auch einfach viele Falschinformationen im Umlauf sind. Und ich glaube, bei denen kann man mit ganz gezielten Aufklärungsgesprächen, zum Beispiel beim Hausarzt oder der Hausärztin neue Sicherheit erzeugen, damit sie sich gut entscheiden können. Und es gibt natürlich Menschen – Reichsbürger:innen –, die fester Teil rechter Netzwerke usw. sind, die natürlich für Fakten nicht erreichbar sind. Wie gesagt, der Kern von Menschen, die Fakten zu großen Teilen nicht anerkennen … wie groß der ist, entscheidet darüber, wie stabil eine demokratische Gesellschaft ist. Wahrscheinlich mache ich das deswegen als Thema auch immer so groß, weil das bei uns in Sachsen ein relativ großer Anteil an der Bevölkerung ist. Deswegen sieht man hier jeden Tag, wie entscheidend es ist, dass dieser Anteil nicht größer wird.
Tim Meyer: Johannes, du schreibst bei Instagram, dass du nicht nur ein Fan von Fahrrädern, sondern auch von evidenzbasierter Politik bist. Wie Paula bist du auch Arzt. Gibt es einen Zusammenhang, warum ihr als Ärzt:innen die evidenzbasierte Politik so stark betont?
Johannes Wagner: Es gibt ja auch die evidenzbasierte Medizin und ich kann Paula in ihren Aussagen voll und ganz zustimmen. Also wir brauchen einfach eine wissenschaftsbasierte Grundlage für politische Entscheidungen, und natürlich auch für medizinische Entscheidungen. Natürlich gibt es, auch wenn man mit einzelnen Patient:innen redet, immer noch die individuelle Abwägung: Was möchte der/die Patient:in? Welche Therapie, welches Vorgehen? Aber wir brauchen eben klare wissenschaftliche Grundlagen und das ist, glaube ich, ein ganz hohes Gut. Und vielleicht kommt es daher, dass gerade wir Mediziner:innen darauf einen Fokus haben. Aber wir sind ja auch nicht alleine. Es gibt viele, die das wichtig finden.
Tim Meyer: Ein Kernauftrag der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina ist die wissenschaftsbasierte Beratung von Politik und Gesellschaft. Es gibt dort auch eine Initiative zur Unterstützung der Evidenzbasierung in der Politik. Sie befasst sich mit den empirischen Grundlagen politischer Entscheidungen. Die Leopoldina hat kürzlich die Bundestagsabgeordneten und ihre Mitarbeitenden gefragt, inwiefern sie wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen und bewerten. Sie benutzen das mehrmals pro Woche, haben sie angegeben. Der Stellenwert für ihre parlamentarische Arbeit wird als hoch bzw. sehr hoch gewertet. Und den Abgeordneten ist wichtig, dass die Nutzung steigt; aber dafür müssen die Erkenntnisse gut verständlich und gut zusammengefasst sein. Anna, du warst ja schon die letzten vier Jahre Abgeordnete im Bundestag: Wie bewertest du diese Ergebnisse der Umfrage aus deiner Innenperspektive?
Anna Christmann: Es ist eine ganz wichtige Frage, wie wir in unserem politischen Alltag in der Lage sind, wissenschaftliche Erkenntnisse in unsere Entscheidungen einzubeziehen. Das ist gar nicht so trivial, weil da ja zwei sehr unterschiedliche Systeme aufeinander treffen. Wissenschaft, die sehr viel langfristiger arbeitet, oftmals für Studien einfach Zeit braucht und wo sich die Ergebnisse eben nicht immer gut auf einer halben Seite zusammenfassen lassen, – was aber eigentlich oft der Bedarf in der Politik ist. Wenn man sich in einer hektischen Sitzungswoche befindet, die von Montag bis Freitag durchgetaktet ist und man dann relativ schnell Entscheidungen treffen soll, hätte man immer gerne diese halbe Seite, die einem sagt: „Schwarz oder weiß? So ist es jetzt.“ So funktioniert es eben in der Wissenschaft nicht immer. Das heißt, wir können nicht erwarten, dass wir aus der Politik uns zu allen Fragen immer eine Studie bestellen können, die dann innerhalb von zwei Wochen da ist und uns eine Antwort auf genau die Frage liefert, die wir stellen. Sondern das ist natürlich eine eigene Arbeitsweise. Und ich glaube, die ist jetzt gerade in Corona-Zeiten noch mal sehr transparent geworden; dass es eben Zeit braucht, bis ausreichend Daten vorliegen. Wenn man mit Patientinnen und Patienten zu tun hat, wie ihr im Medizinbereich, muss man erst mal die Studien durchführen und genug Menschen haben, die im Fall von Corona überhaupt mit dem Virus infiziert sind. Da sind ähnliche Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. Und diese zwei unterschiedlichen Systemvoraussetzungen zusammenzubringen, ist, glaube ich, die Herausforderung für eine gute, evidenzbasierte Politik. Wir haben bereits auch ein paar Instrumente dazu im Parlament. Vielleicht können wir darauf nachher noch kurz eingehen. Ich war zum Beispiel Mitglied der Berichterstatterrunde für das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags, die auch versuchen, wissenschaftliche Erkenntnisse so zusammenzufassen, dass sie für Politik handhabbar werden. Und ich glaube, diesen Weg weiterzugehen und zu gucken „Was sind die Formate, die die wissenschaftliche Qualität haben, die notwendig ist, aber auch für Politik im Alltag handhabbar sind?“, das ist die Herausforderung, die sich uns permanent stellt und wo wir immer noch ein Stückchen besser werden können.
Paula Piechotta: Ich würde noch etwas ergänzen. Das eine, was ich unglaublich spannend fand, ist dieses wissenschaftliche Herunterbrechen von neuen Informationen, die ja bei Corona teils sehr schnell und kurzfristig kamen. Das hat auf Bundesebene noch relativ gut funktioniert, weil es da sehr viele Strukturen der wissenschaftlichen Beratung gibt. Doch schon, wenn du in ein kleineres Bundesland gehst, wo zum Beispiel ein Landeskabinett beraten werden musste – oder sogar auf Landkreis-Ebene – war es oft so, dass die nicht mehr genug Möglichkeiten hatten, an heruntergebrochene, wissenschaftliche Informationen zu kommen. Wir haben gerade in Corona-Zeiten gesehen, wie problematisch das sein kann. Das andere, was ich spannend finde: Dieses Herunterbrechen bringt auch wieder neue Probleme mit sich. Herunterbrechen heißt, dass du Unsicherheiten zur Seite legst, dass du einfache Bilder findest, um Sachen zu erklären, nämlich für Leute, die nicht im Fach sind. Wenn sich dann aber vielleicht eine wissenschaftliche Studie, die relativ viele Annahmen gemacht hat, die sich als nicht richtig herausstellen... wenn die revidiert wird – was in der Wissenschaft ein ganz normaler Prozess ist – und dann das neue Herunterbrechen aber so aussieht, als ob die Wissenschaft vorher einfach nur komplett falsch lag, gehen ganz viele Informationen verloren. Und auch die Möglichkeit von Politik, einzuschätzen: Wie belastbar sind welche Daten und wie wenig belastbar vielleicht andere? Das ist alles etwas, was wir noch nicht perfekt gelöst haben, gerade in Bereichen wie Corona, wo die Halbwertszeit von neuen Informationen oft sehr kurz ist, weil dann schon wieder neue kommen. Das ist beim Klima zum Beispiel einfacher, weil wir da einen viel längeren Zeithorizont haben und deswegen die wissenschaftlichen Daten, die für uns für politische Entscheidungen wichtig sind, gesettelter sind als zum Beispiel bei Corona.
Johannes Wagner: Gleichzeitig, Paula, ist es trotzdem bei der Klimakrise viel schwieriger, weil die Folgen teilweise erst in der Zukunft liegen. Mittlerweile sehen wir zwar schon einige der Folgen der Klimakrise. Aber es hat doch fast 50 Jahre gedauert, seitdem die ersten Warnungen ausgesprochen worden sind – die sehr konkreten Warnungen und Berechnungen, sogar. In den 70er-Jahren gab es die ja schon. Was mir Sorge bereitet, sowohl bei der Klimakrise als auch bei Corona: Muss es erst richtig knallen, bevor die Menschen akzeptieren, dass es gewisse Fakten gibt, die eintreffen, wenn wir uns so oder so verhalten. Es ist genau wie bei Corona auch bei der Klimakrise so, dass wir viele Dinge sicher wissen, – wie sich die Zahlen entwickeln und wie schnell exponentielles Wachstum, bei Corona zum Beispiel, außer Kontrolle gerät; dass es eben kein lineares Wachstum ist, das wir Menschen vielleicht besser einschätzen können, sondern exponentiell. Diese Zeitachsen oder diese Langfristigkeit übersteigen unseren Horizont, dass wir Dinge teilweise noch nicht so richtig sehen, oder nicht so dramatisch spüren, wie vielleicht zukünftige Generationen oder Menschen woanders in der Welt. Da haben, glaube ich, beide Krisen eine Gemeinsamkeit, sowohl Corona als auch die Klima-Krise.
Paula Piechotta: Ja, total richtig. Ich meinte ja auch nur, dass es bei der Klimakrise nicht so ist, dass ein neues Paper herauskommt und dann die wissenschaftliche Beratung komplett andere Entscheidungen empfehlen muss.
Tim Meyer: Der Club of Rome, der in den 70er-Jahren davor gewarnt hat, hat das, finde ich, damals auch mit sehr eindringlichen Beispielen schon gemacht. Der Punkt war ja gerade, gut verständlich wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln. Und jetzt sagt ihr: „Was muss denn erst passieren?“ Die Kommunikation versucht, es mit möglichst drastischen Beispielen und Visionen à la „Wie sieht sie denn aus, die Welt, wenn wir jetzt so weitermachen?“ klarzumachen, aber trotzdem dringt es nicht durch. Woran kann es denn liegen, dass daraus, selbst wenn es gut vermittelt wird, kein politisches Handeln kommt?
Anna Christmann: Ich glaube, wissenschaftliche Erkenntnis ist noch kein politisches Handeln, sondern sie ist die Grundlage, auf der politische Entscheidungen getroffen werden müssen. Und sie löst auch nicht automatisch politischen Konflikte. Es ist die Aufgabe von Politikerinnen, Politikern, von uns allen, diese herbeizuführen. Ich meine, im Falle des Klimas sind das natürlich die Punkte, die uns allen gut bekannt sind. In der Theorie, glaube ich, gibt es mittlerweile sehr viele Menschen, die die Klimakrise anerkennen und sagen: „Das ist eine der größten Herausforderungen, die wir lösen müssen.“ Aber im Konkreten heißt es dann aber: „Was passiert mit der Straßenbahn um die Ecke?“ Oder: „Muss ich dann fürs Benzin mehr Geld bezahlen oder nicht?“ Oder: „Wann schalten wir die Kohlekraftwerke ab?“ Daran hängen dann auch wieder die Jobs von Menschen, die vermutlich auch finden, dass die Klimakrise ein großes Problem darstellt, die aber trotzdem auch eine Perspektive haben wollen, was sie in den nächsten Jahren tun, und die vielleicht ein Stück weit ihren Lebensweg darüber identifizieren; ihre Lebensleistung. Das sind komplexe Fragen, die wir alle kennen, die dann auch auf der Weltbühne im größeren Maßstab diskutiert werden. Und ich glaube, diese wissenschaftliche Basis ist wahnsinnig wichtig und muss laut genug sein. Das, glaube ich, ist die Erwartung, die man an Wissenschaft haben kann. Da erlebe ich manchmal noch – immer weniger im Bereich Klima – Zurückhaltung, dass man als Wissenschaftler:in nicht selbst zum Aktivisten werden möchte, sondern irgendwie seine Ergebnisse möglichst neutral vortragen möchte und dann eben erwartet, dass die Politik handelt. Das kann ich ein Stück weit auch verstehen, aber ich glaube, es braucht beides: Es braucht laute Stimmen aus der Wissenschaft, die ihre Erkenntnisse auch wirklich sehr selbstbewusst vortragen. Und dann fängt der Job der Politik erst an und es ist eben oftmals keine leichte Aufgabe, das in entsprechende Maßnahmen umzusetzen, weil da eben ganz viele soziale, rechtliche Fragen dranhängen, die natürlich alleine mit der wissenschaftlichen Erkenntnis noch nicht gelöst sind.
Tim Meyer: Noch einmal heruntergebrochen: Die Wissenschaft kann nur Handlungsoptionen aufzeigen und die Politik muss dann letztendlich abwägen und Entscheidungen treffen?
Anna Christmann: Ganz genau, so ist es – also das ist ja auch ein bisschen die Arbeitsaufteilung zwischen Wissenschaft und Politik - wir sind ja auch dafür gewählt, um das repräsentativ tun zu können, und das sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht. Wir haben ja auch keine Technokratie, sondern eine Demokratie - diese Unterscheidung ist, glaube ich, schon noch mal wichtig. Aber natürlich ist es ganz immanent, für diese Demokratie eben evidenzbasierte Entscheidungen dadurch treffen zu können, dass die Stimme der Wissenschaft trotzdem eine laute ist und dass wir natürlich auch eine unabhängige Wissenschaft haben - was international im Übrigen gar keine Selbstverständlichkeit ist - das vergisst man immer gerne, wenn man die deutsche Perspektive hat.
Johannes Wagner: Also ich kann Anna in allem, was sie gesagt hat, nur zustimmen. Vielleicht ein Punkt, der mir noch wichtig ist, noch mal vergleichend Corona und die Klimakrise: die Art der Kommunikation. Wir haben bei der Klimakrise oft von dem globalen Süden gesprochen, von den Eisbären, die vielleicht keine Robben mehr finden, oder die Wissenschaft, die Angst hat, um die sich zu sorgen wäre Aber eigentlich geht es ja um uns Menschen, auch hier in Deutschland. Diese Art von Kommunikation ist, glaube ich, ganz, ganz wichtig und ich glaube, gerade da kann die medizinische Perspektive versuchen, mit Gesundheitsaspekten und Argumenten zu argumentieren, vielleicht auch helfen, den Menschen begreifbar zu machen, dass es eben oftmals ein Gewinn ist, Klimaschutz zu machen oder es eigentlich immer ein Gewinn ist, Klimaschutz zu machen, weil die langfristigen Folgen dramatisch sind. Auch für die Gesundheit, für die Wirtschaft und für ganz viele andere Dinge auch, aber eben auch für die Gesundheit - das, glaube ich, ist so eine Geschichte, die ich gerne in den nächsten vier Jahren miterzählen möchte und mit der ich auch Politik machen möchte. Es gibt ein paar bekannte Beispiele, die das ganz gut hinbekommen - Eckart von Hirschhausen ist gerade recht prominent in den Medien, der das immer wieder versucht: „Ja, wir brauchen eine gesunde Erde für uns gesunde Menschen.“ - das mag ein bisschen platt und einfach klingen, aber letztendlich ist das etwas, was Menschen erreicht, die bisher noch nicht so aufmerksam waren bei diesem Thema. Ich glaube schon, dass wir oftmals von anderen Parteien ganz bewusst als die Partei von Verboten, von Verlusten, von „Ihr müsst zurückstecken!“ bezeichnet werden. Und das müssen wir, denke ich mal, mit wissenschaftlichen Fakten, aber auch mit einer bestimmten Erzählung und Kommunikation, die wir in der Politik leisten müssen. Das ist nur zum Teil die wissenschaftliche Kommunikationsarbeit, sondern eigentlich liefern die Fakten und die Daten und – was auch Anna vorhin meinte – wir müssen dann etwas kommunizieren und Entscheidungen ableiten und das ist mir ein ganz wichtiger Punkt. Dann kann es auch gelingen, das glaube ich schon, aber es ist trotzdem oftmals gar nicht so einfach.
Paula Piechotta: Ich möchte noch etwas ergänzen, weil du gerade noch mal über Medizin gesprochen hast: Also das Krasse ist ja, dass es eine unglaublich große zivilisatorische Leistung ist, sich als eine gesamte Gesellschaft auf Sachen vorzubereiten, die in der Zukunft liegen - das musst du als Gesellschaft erst einmal schaffen. Und es bringen ja oft viele an, dass so eine gesamte Gesellschaft einfach auch sehr unterschiedliche Bildungsgrade hat und Menschen mit relativ niedriger formaler Bildung so etwas anders kommuniziert bekommen müssen als Menschen, zum Beispiel mit einem akademischen Abschluss. Wir haben gerade in diesem Kampf innerhalb der Medizin um evidenzbasierte Medizin, der noch nicht so lange geführt wird, gesehen, dass es selbst mit Ärztinnen und Ärzten, die ja alle irgendwie ein super langes Studium hinter sich haben, extrem schwer war, wissenschaftliche Daten wirklich zur Grundlage dessen zu machen, wie man Patientinnen und Patienten behandelt - wir haben ja bis heute auch Ärztinnen und Ärzte, die sich an Leitlinien nicht halten, die zum Beispiel entgegen wissenschaftlicher Evidenz gegen Impfungen Empfehlungen aussprechen und vieles andere mehr. Das zeigt, was für ein unglaublich großer gesellschaftlicher Prozess das ist, der auch in Teilgruppen sehr schwierig ist. Das wichtigste Argument dafür ist dieser Wandel von eminenzbasierter Medizin, wie es noch vor wenigen Jahren der Status quo war, hin zu evidenzbasierter Medizin, dass am Ende im Schnitt die Patienten besser gesund werden und eine längere Lebenserwartung haben, bei höherer Lebensqualität. Also ich mache konkret das Leben und die Gesundheit von Menschen besser, wenn ich mich an wissenschaftliche Daten halte, anstatt an eigene Überzeugungen und so weiter. Und allein in der Medizin war der Prozess super schwer, er dauert immer noch an und für die gesamte Gesellschaft ist er dann natürlich noch ungleich schwerer.
Tim Meyer: Ich würde gerne noch einmal zu Anna kommen und zu einem Antrag, den die grüne Bundestagsfraktion im Juni 2020 eingebracht hat - darin fordert die grüne Bundestagsfraktion, Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus umfassend zu stärken: Anna, wie wurde denn der Antrag diskutiert und was ist daraus geworden?
Anna Christmann: Ja, den haben wir in der letzten Wahlperiode gestellt, aus der Opposition heraus. Das heißt, er wurde im Bundestag nicht fulminant angenommen, ist aber natürlich eine Grundlage, auf der wir hoffentlich über diese Wahlperiode hinweg weiter arbeiten werden. Diese ganze Frage: Wie kann Wissenschaft so kommunizieren, dass sie in der Gesellschaft, in der Breite ankommt? Das ist das, was Paula und Hannes schon gesagt haben: Wie erreichen wir möglichst viele Menschen und nicht nur die, die sowieso jede Woche die ZEIT Wissen lesen, oder andere Medien, die ein relativ hohes Level an Informationsdichte haben. Und da ist es eben so, dass Wissenschaft im Moment vor allem für die Forschung, die sie betreibt, finanziert wird – was ja auch richtig und wichtig ist. Aber es gibt eben so keinen Anreiz, selber kommunizierend tätig zu sein. Dafür gibt es oft keine Budgets. Das ist natürlich eine Schwierigkeit: Wenn ich dafür als Forscher:in weder Geld noch Anerkennung bekomme, ist das natürlich vom System her schon schwierig. Im Gegenteil gibt das ja einen Anreiz dazu, möglichst wenig öffentlich zu kommunizieren, weil man dann von Kolleginnen und Kollegen schief angeguckt wird, „Oh, jetzt ist die schon wieder in den Medien und sitzt nicht im Labor und arbeitet an dem, was eigentlich doch für die Wissenschaft wichtig wäre“.
Tim Meyer: Beispiel Christian Drosten.
Anna Christmann: Ja, Christian Drosten ist ja sogar noch weitergehend. Da ist nicht mehr nur das Thema, sondern dann auch noch zusätzlich, dass man mit öffentlichen Anfeindungen zu tun hat. Ich habe einen riesigen Respekt vor denen, die sich in die erste Reihe trauen, weil man merkt ja wirklich, dass das für deren Leben einschneidend ist. Die werden jetzt auf der Straße erkannt, teils angefeindet. Das ist ja wirklich schon dramatisch und überschreitet teils eine Grenze, die in der Demokratie akzeptabel ist. Es ist zweierlei: Einerseits wird es innerhalb der Wissenschaft nicht goutiert, weil es halt nicht als Aufgabe im Wissenschaftssystem wahrgenommen wird, und zum Zweiten ist es auch nicht hilfreich für das persönliche Leben, eine Person der Öffentlichkeit im Bereich der Wissenschaftsberatung zu sein. Da muss man aus unserer Sicht entgegensteuern, indem man finanzielle und anerkennende Anreize setzt, das zu tun. Zum anderen braucht es die andere Seite, den Wissenschaftsjournalismus, der auch keiner ist, der die Einnahmen von Medien hochtreibt. Zeitungen haben nicht unbedingt immer einen sehr ausführlichen Wissensteil, weil das nicht unbedingt der ist, der die große Leserschaft hervorbringt. Das ist aber ein ganz wesentlicher Teil. Wie man diesen Bereich stärkt, ist also auch eine wichtige Frage, damit wir diese gesellschaftliche Debatte führen können. Dann kommen natürlich noch Institutionen hinzu. Wir haben jetzt in Berlin neu das Futurium, die über Wissenschaft in einer einfachen, ansprechenden Art und Weise, mit Gratis-Eintritt informieren. Es gibt auch andere Forschungsmuseen, die interessante Formate für Familien zum Beispiel machen, wo sie das am Wochenende mit Aktionen verbinden, um Menschen zu erreichen, die vielleicht sonst nicht so wissenschaftsaffin sind. Diese Aktivitäten zu unterstützen, das ist aus meiner und unserer Sicht durchaus eine politische Aufgabe. Und ich hoffe sehr, dass wir da in den nächsten Jahren noch mal einen Schritt vorankommen.
Tim Meyer: Ganz kurz dazu noch mal: Wissenschaftskommunikation von Institution wäre dann die Quelle, die für euch als Politiker:innen relevant ist? Und Wissenschaftsjournalismus für die breite Bevölkerung; dass man da einen einheitlichen Informationsstand herstellt? Oder wie würdest du da den Unterschied erklären?
Anna Christmann: Das hat natürlich unterschiedliche Adressaten. Der Wissenschaftsjournalismus adressiert ganz stark die breite Bevölkerung, am Ende aber auch uns Politikerinnen und Politiker – wir lesen ja auch Medien. Das heißt, es erreicht uns durchaus auch über diese Linie. Journalismus hat natürlich immer noch eine andere Art, es aufzubereiten. Die Wissenschaftler:innen, die kommunizieren meistens recht direkt ihre Forschungsergebnisse. Der Journalismus hat eine andere Möglichkeit, es einzuordnen und an aktuelle politische Debatten anzudocken. Das ist sowohl für die breite Gesellschaft hilfreich, die dadurch mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen konfrontiert wird, als aber auch für den Politikbereich. Auch bei uns haben nicht alle Kolleginnen und Kollegen Zeit, selbst wissenschaftliche Studien zu lesen, sondern Wissenschaftsjournalismus spielt auch für die politische Debatte eine wesentliche Rolle. Er ist, glaube ich, deswegen etwas, das wir nicht aussterben lassen sollten.
Paula Piechotta: Das gilt meistens. Wobei man jetzt in den Corona-Zeiten gesehen hat, dass, wenn es einzelne Abgeordnete oder Menschen in Verantwortung gibt, die in der Lage sind, neue wissenschaftliche Paper selber zu verstehen, wenn es ganz schnell gehen muss, das durchaus Vorteile bietet für Entscheidungen, die in einer Ministerpräsidentenkonferenz nachts um 12 getroffen werden müssen. Also da ist das schon sinnvoll, und deswegen fände ich es super, wenn wir in Zukunft nicht nur darüber reden, dass wir mehr Menschen mit Migrationshintergrund, mehr Frauen und so weiter im Parlament brauchen, sondern durchaus auch mehr Menschen mit forschendem, wissenschaftlichen Hintergrund. Ich glaube, das wäre an der Stelle gut.
Anna Christmann: Wenn ich darauf noch kurz reagieren kann, Paula: Ich unterstütze das natürlich absolut und finde, es ist eigentlich allen zu empfehlen, mal ein Paper in der direkten Version zu lesen, weil das sehr aufschlussreich ist, um die Arbeitsweise von Wissenschaft zu verstehen. Wissenschaftliche Studien, die sind, je nachdem, auf 15 bis 20 Seiten niedergeschrieben und da steht dann halt immer, wie der Studienablauf war, was die Voraussetzungen waren, wie das zu interpretieren ist. Also ich empfehle allen, die gerade zuhören und das noch nicht gemacht haben, sich ruhig mal ein, zwei Studien selber durchzulesen. Das ist auf jeden Fall sehr interessant und lehrreich, um die Arbeitsweise von Wissenschaft zu verstehen. Und es sollte natürlich auch möglichst Politikerinnen und Politiker geben, die das selber tun. Ich glaube, für den Erfolg evidenzbasierter Politik ist es ganz wesentlich, dass wir in der Breite ein Verständnis dafür schaffen, wie Wissenschaft arbeitet. Und ich erlebe schon sehr unterschiedliche Reaktionen auf wissenschaftliche Studien, auch im Bundestag während der letzten vier Jahre. Und nicht überall ist eine Sensibilität dafür vorhanden, wie das einzuordnen ist. Deswegen ist es schon gut, wenn Wissenschaftskommunikation, Journalismus, auch Politikberatung einfach noch ein bisschen besser sowie handhabbarer für Politiker:innen wird und diese noch direkter erreicht. Das hat schon einen zusätzlichen Mehrwert. Denn wenn du eine Handvoll Politiker:innen hast, die Studien selber lesen können und dann den anderen die Welt erklären wollen – um es zu überspitzen –, dann gibt es da eben oft eine Gegenwehr und das ist auch gefährlich, und wir müssen eben versuchen, das in die Breite zu tragen.
Paula Piechotta: Genau, deswegen muss es immer mehr als einer sein, gerade auch bei Corona.
Tim Meyer: Welche Rolle spielt denn eigentlich der wissenschaftliche Dienst des Bundestags? Kannst du dazu vielleicht auch noch etwas sagen, Anna?
Anna Christmann: Das ist interessant. Ich habe vorhin schon das Büro für Technikfolgenabschätzung erwähnt, und dann gibt es den wissenschaftlichen Dienst. Das sind zwei verschiedene Instrumente, die eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben. Ich würde fast sagen, für das Thema evidenzbasierte Politik ist das „TAB-Büro“ – das ist die Abkürzung – fast wesentlicher als der Wissenschaftliche Dienst. Den Wissenschaftlichen Dienst können Abgeordnete anrufen, wenn sie Fragen, zum Beispiel zu einer Rechtseinschätzung haben, juristische Bewertungen brauchen oder ein Zusammentragen von irgendwelchen Fakten – wenn ich wissen will, welche Regelungen in verschiedenen Ländern zu einem bestimmten Thema gelten. Solche Anfragen bearbeitet in der Regel der Wissenschaftliche Dienst. Und das TAB-Büro ist ein sehr spannendes Instrument, dem man zu bestimmten Themen Aufträge erteilen kann, zum Beispiel den aktuellen wissenschaftlichen Stand ausführlich zusammenzutragen. Es sind Metastudien, wie man das nennt, die da erstellt werden. Das bedeutet, die machen keine eigenen wissenschaftlichen Studien, aber sie tragen den Stand aus verschiedenen Studien zusammen oder machen auch verschiedene Gutachten. Das kann zu ganz unterschiedlichen Themen sein. Ein Thema, das besonders Schlagzeilen gemacht hat – das ist schon ein paar Jahre her – war die Frage: Sommer- und Winterzeit, Uhrumstellung. Welche Auswirkungen hat das denn auf die menschliche Gesundheit? Da hat dann das TAB ein Gutachten erstellt, um eine Grundlage für die politische Entscheidung zu haben: Will man noch eine Zeitumstellung haben oder nicht? Aber natürlich auch ganz andere Fragen. Wir hatten jetzt Digitalisierung in der Landwirtschaft, zum Beispiel. Welche technischen Möglichkeiten gibt es, mit digitalen Technologien Landwirtschaft pestizidärmer zu machen und Ähnliches. Das sind Themen, die Fraktionen einbringen können. Und das ist das Spannende. Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag können Themenvorschläge machen und dann werden welche ausgewählt – in der Regel 10 pro Jahr –, zu denen dann diese Gutachten erstellt werden. Und das ist wirklich eine tolle und sehr fundierte Zusammenstellung zu diesen Themen, die die politische Debatte auch weitertreiben kann. Auch da haben wir so ein bisschen die Schwierigkeit der unterschiedlichen Zeitabläufe, denn wenn Fraktionen Themen in Auftrag geben, finden sie die immer ganz wichtig. Dann dauert es aber teils zwei Jahre, bis diese Studie da ist, weil das natürlich auch Zeit in Anspruch nimmt. Und dann ist aber manchmal die politische Agenda schon so fortgeschritten, dass die Ergebnisse nicht immer sofort Eingang finden in Entscheidungen. Da sieht man auch wieder diesen Gap zwischen den verschiedenen zeitlichen Schienen. Dennoch halte ich es für ein ganz wichtiges Instrument und bin auch sehr dafür, dass wir die Arbeit des TAB weiter stärken und auf die Bedürfnisse der Parlamentarier:innen weiter fokussieren.
Tim Meyer: In vielen Bereichen der Politik werden regelmäßig Evaluierungen durchgeführt, etwa im Bereich der Ressortforschung. Es gibt einen Beschluss der Bundesregierung aus dem Jahr 2013, dass insbesondere Vorhaben, deren geschätzte Kosten der Umsetzung jährlich eine Million Euro übersteigen, systematisch evaluiert werden. Passiert das, Anna?
Anna Christmann: „Evaluation“ ist, glaube ich, ein häufig genutzter Begriff in der Politik. Aber diese Evaluationen sind sehr unterschiedlicher Qualität. Insgesamt passiert es zu wenig, würde ich sagen, weil auch dort oft die Zeit zu knapp ist. Dann ist man politisch schon wieder weiter, an einer anderen Stelle, ohne wirklich eine ausführliche Evaluation gemacht zu haben. Die Daten hast du ja gerade vorgetragen – insofern wird das schon gemacht. Die Frage ist, ob immer die Zeit da ist, um aus den Evaluationen auch wirklich die Schlüsse zu ziehen, die notwendig wären, um etwas zu verändern. Manchmal landen solche Evaluationen in Schubladen. Aber ich würde sagen, es gibt schon auch die Evaluationen, die funktionieren, von Gesetzen, wo weiterentwickelt wird. Ich glaube, das Ziel wäre es, dass einfach weiter zum Standard zu machen, auch Evaluationen nach ein paar Jahren. Aber auch zum Standard zu machen, dass diese Evaluationen dann auch politisch auf den Tisch kommen und dass auch etwas daraus folgt. Das wäre, glaube ich, das Wichtige. Sonst bleibt es halt bei Alibi-Geschichte.
Tim Meyer: Genau. Das Ziel müsste sein, dass die Daten wieder zurückfließen und daraus politische Entscheidungen getroffen werden können.
Anna Christmann: Genau. Man bräuchte einen Mechanismus, dass das auch bei den Parlamentarier:innen ankommt. Das passiert, glaube ich, zum Teil, aber eben nicht immer.
Tim Meyer: Wir kommen jetzt in der Mitte unseres Podcasts – obwohl schon zeitlich etwas vorangeschritten sind – zu unserer These. Und zwar habe ich da was herausgesucht: Armin Falk, der ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn und Direktor des briq-Instituts für Verhalten und Ungleichheit. Und der hat in der ZEIT etwas über die Evidenz in der Politik im Land der Kleinmütigen geschrieben. Er sagt: „In Deutschland herrschen Skepsis, Trägheit und Kleinmut sowohl gegenüber sozialen Experimenten als auch bei der Bereitstellung administrativer Datensätze. Die Folge: Deutschland ist notorisch untererforscht. Ein enormer Standortnachteil. Während es anderswo durch die Verknüpfung von Daten beispielsweise möglich ist, zu identifizieren, welche Berufsgruppen besonders gefährdet sind, sich mit Corona zu infizieren, also etwa Busfahrer oder Lehrkräfte, war und ist dies in Deutschland leider nicht machbar.“ Zitat ende. Daraus würde ich jetzt die These ableiten: „In Deutschland ist evidenzbasierte Politik kaum möglich, weil die Datenlage zu gering ist.“ Was sagt ihr dazu? Wer möchte anfangen?
Paula Piechotta: Ich glaube, dass unterschiedliche Gesellschaften einen ganz unterschiedlichen Zugang dazu haben, welche Daten von jedem gespeichert und für allgemeine Forschung zugänglich sein sollten, und welche nicht. Das hat man auch jetzt bei Corona sehr gut gesehen. Allein, wenn wir nach Großbritannien schauen, mit einem Gesundheitswesen, bei dem die Daten von allen Patient:innen im Land in eine Datenbank fließen, oder auch, wenn wir nach Israel schauen, wo wir eine extrem gute Datenübersicht über alle Versicherten haben. Und das natürlich zum Beispiel möglich gemacht hat, dass Corona-Impfstoffe dort mit zuerst eingesetzt wurden. Einfach, weil man dort sicherstellen konnte, dass die Daten zur Verträglichkeit und zu Nebenwirkungen sehr schnell erhoben, ausgewertet und dann auch herauskristallisiert werden konnten. Das wird wahrscheinlich auch bei uns noch dazu führen, dass man sich anschaut: Wie groß sind die Vorteile von solchen Datenbanken, und müssen wir vielleicht nicht auch hier in Deutschland unsere Einstellung dem Gegenüber noch mal anpassen? Ich glaube aber trotzdem, gerade auch mit dem Blick in die historische Vergangenheit, gerade in die historische Vergangenheit vor '89 hier in den neuen Bundesländern, dass das natürlich eine sehr schwierige Debatte ist. Du brauchst das jetzt nicht unbedingt alles für Deutschland, wenn du zum Beispiel gute Daten aus Israel oder Großbritannien hast, was zum Beispiel Impfstoffe oder so angeht, also du musst nicht in jedem Land die immer gleichen Studien machen. Aber, wenn es jetzt darum geht, was er in seiner These angesprochen hat, nämlich was sind ganz spezielle Berufsgruppen-Probleme in Deutschland – das sind Sachen, die hier wahrscheinlich anders sind als vielleicht in einem vergleichbaren Land, - und das ist ja der Unterschied zwischen Impfstoffen - dann macht es natürlich Sinn, das auch hier zu machen. Aber grundsätzlich: Nur, weil wir die Daten in Deutschland nicht erheben, heißt das nicht, dass wir die Daten nicht bekommen, und auch dafür war Corona wieder ein gutes Beispiel.
Tim Meyer: Hannes?
Johannes Wagner: Die These ist sehr weit gefasst und bei manchem kann ich mitgehen - natürlich haben wir trotzdem in vielen Bereichen funktionierende Institutionen und einen funktionierenden Staat, aber generell dieses Thema öffentliche Gesundheit, für dass das ja jetzt wieder ein Beispiel war, mit: Welche Berufsgruppen werden am ehesten krank, auf Englisch "Public Health": Das ist in Deutschland - auch aufgrund unserer Geschichte - eben ganz schlecht ausgebildet. Es gab früher zu den Nazi-Zeiten die Volksgesundheit - da wurde sehr viel Schlimmes gemacht und es war auch nach dem Krieg sehr lange noch sehr negativ konnotiert. Aber mittlerweile wissen wir - und das haben wir jetzt auch während Corona gemerkt - dass unser ÖGD, also der öffentliche Gesundheitsdienst, wahnsinnig schlecht ausgestattet ist, schlecht finanziert ist, dass die Technik sehr, sehr rückständig ist. Im Dezember letzten Jahres war ich auf einer Corona-Station, habe selbst noch Faxe hin und her geschickt, welcher Patient, welche Patientin welchen Virus hatte und so weiter. Und dazu gibt es jetzt Initiativen, um zu verstetigen, dass der ÖGD gestärkt wird, dass wir generell einen öffentlichen Gesundheitsdienst haben, der wirklich auch was kann. In Bayern gibt es fünf Städte, da ist er an die Kommunen angedockt - die haben relativ viele Kompetenzen und sind sehr nah dran. Sonst ist es überall ein eigenständiger Verwaltungsapparat, der gar nicht so genau mitbekommt, was die Kommunen so machen und überhaupt nicht in jede Entscheidung eingebunden ist. Im Wahlkampf habe ich ganz viele E-Mails bekommen von niedergelassenen Ärzt:innen, die wegen der elektronischen Patientenakte Fragen hatten und unzufrieden waren, wie das gelaufen ist. Dazu wurden auch in Krankenhäusern viele Dinge auf den Weg gebracht, die müssen auch erst einmal greifen und da gibt es schon einiges, was in den nächsten Jahren kommt. Dennoch ist es natürlich so, dass wir für wirklich evidenzbasierte Medizin natürlich auch Daten brauchen, genau wie diese These dieses Professors war. Und ich glaube schon, dass wir da noch Aufholbedarf haben. Wir haben in der Medizin ganz viel Überversorgung, Untersuchungen, die noch einmal gemacht werden, weil es mit der heutigen Geräte-Medizin schneller geht, es noch mal zu machen als es noch mal woanders anzufordern. Da entstehen Kosten, da entsteht Strahlenbelastung für Menschen oder man verliert Zeit, was nicht notwendig gewesen wäre. Auch mit den jetzigen Gesetzen wäre schon viel möglich, was die Weitergabe von Daten angeht, was man aber nicht macht. Also wir können auch noch die jetzigen Gesetze nutzen. Trotzdem kann man gucken, ob es in ein paar Bereichen vielleicht noch die eine oder andere Veränderung braucht. Denn wenn die Menschen verstehen, dass es ihnen nutzt, sind sie auch bereit, anonymisiert Daten weiterzugeben. Aber man muss es eben erklären, und diese Zeit hat man sich oft nicht genommen, oder sie ist eben auch historisch ein bisschen vorbelastet gewesen, die ganze öffentliche-Gesundheits-Geschichte. Aber das ist ganz wichtig für die Zukunft, dass wir uns dort stärker aufstellen, und auch Punkte wie zum Beispiel Klima und Klimafolgen, aber auch die Folgen von unserem Verkehrssystem, dem Ernährungssystem mit einfließen lassen. Weil, das wirkt alles zusammen und wirkt sich auf unsere Gesundheit aus.
Anna Christmann: Ich würde das gerne unterstützen. Im Medizinbereich, das habt ihr super ausgeführt, haben wir großen Nachholbedarf in Deutschland. Übrigens: Alles basierend auf der Datenschutzgrundverordnung, die wir in Europa haben. Die ist gar nicht das Problem. Dänemark, Estland, Finnland, andere Staaten sind einfach viel weiter als wir und haben genau die gleichen europäischen Rahmenbedingungen. Aber Daten gut nutzbar zu machen, ist in Deutschland noch ein Weg, den wir jetzt gehen müssen. Neben den medizinischen Beispielen gibt es auch ganz viele andere, wie den Klima- und Umweltbereich. Zum Beispiel ist es oft eine politisch riesige Debatte, wo wir ein Windkraftwerk hinstellen. Das kennen wir ja alles. Und wir entscheiden das dann nach politischen Gesichtspunkten. Dabei ist zum Beispiel die Frage: Wo stellt man eigentlich Windkrafträder idealerweise hin, damit die Netzauslastung insgesamt gut funktioniert? Das ist etwas, was man mittlerweile mit KI-Algorithmen ganz gut berechnen kann, wenn man ausreichend Daten über die Netzauslastung hat. Da ist dann immer die Frage: Wie häufig, zeitlich gesehen, kriegt man Daten zur Netzauslastung? Und wie genau regional herunterzubrechen sind die? Das ist ganz unterschiedlich, wie die zur Verfügung stehen und ob man solche Berechnungen machen kann. Diese Frage ist für die Energiewende total wichtig. Oder ein anderes praktisches Beispiel: Fahrradwege in der Stadt. Es gibt jetzt zunehmend Sensoren an Fahrrädern, die man anbringen kann. Und wenn man weiß, wo die Leute mit ihren Fahrrädern entlangfahren und wo Überholabstände von Autos nicht eingehalten werden können, ist das ein tolles Mittel für eine evidenzbasierte Radwege-Politik in einer Kommune. Also das sind relativ kleine, konkrete Beispiele, die auch keinem wehtun, und wo, glaube ich, auch gar nicht die Frage ist: Ist das datenschutzrechtlich problematisch? Sondern die Menschen wollen gerne diese Daten zur Verfügung stellen von ihren Radtouren und Ähnliches und das kann dann alles anonymisiert werden. Da besteht ein Riesenpotenzial, dank der Digitalisierung und der zunehmenden Fülle an Daten, um eine evidenzbasierte Politik auch zu machen, aber das braucht dann eben auch gute Daten - wir haben das im Wahlprogramm deswegen auch „Erneuerung braucht gute Daten“ genannt und dafür braucht es Infrastrukturen, auch Rechenleistung, gemeinsame Standards - das sind dann auch technische Fragen, die auf den Weg gebracht werden müssen. Aber ich hoffe sehr, dass wir das jetzt in den nächsten Jahren weiter verbessern, damit wir diese Daten dann einfach auch für die Klima- oder Gesundheitspolitik oder andere wichtige Bereiche nutzen können.
Paula Piechotta: Genau, und es braucht Datensicherheit, denn das sehen wir jetzt – um noch mal den Schwenk zur Medizin zurück zu machen: Patienten sind bereit, wenn sie den konkreten Nutzen kennen, ihre Daten der Forschung zur Verfügung zu stellen. Aber dann ist es natürlich ein Thema, wenn zunehmend Kliniken digitalen Hacks unterworfen sind, wenn Daten abgezogen werden und nicht sicher sind, und deswegen ist an der Stelle Datensicherheit unglaublich wichtig, damit diese gesellschaftliche Akzeptanz, die da ist, auch erhalten bleibt.
Tim Meyer: Dann würde ich das einmal zusammenfassen: Ja, es ist schwierig, aber wir haben eigentlich genug Daten, die man nur nutzen und verknüpfen muss.
Anna Christmann: Ja, wobei du das „nur“ streichen kannst - das ist nämlich gar keine triviale Aufgabe.
Tim Meyer: Nein, absolut. Das „nur“ war ein überflüssiges Füllwort. Okay, dann bedanke ich mich für eure Meinungen und Einschätzungen. Bevor ich dann jetzt noch ein paar Fragen habe, sollt ihr noch mal die Chance bekommen. Anna: Hast du an die beiden Neuen eine Frage? Wir schließen das Thema evidenzbasierte Politik jetzt erst mal ab und sprechen zum Schluss noch ein bisschen übers Ankommen. Was hast du für eine Frage an Paula und Hannes?
Anna Christmann: Ich glaube, das ist ja eine ganz spannende Zeit für euch - wenn ich an vor vier Jahren zurückdenke, war das für mich so. Und ich fand es immer ganz spannend, den Kontrast von dem, was man vorher gemacht hat, zu der Arbeitsweise, die einem dann im Bundestag blüht. Das würde mich bei euch interessieren. Beide wart ihr ja als Ärztin oder Arzt unterwegs, und das ist ja doch auch ein Job, der sehr energieintensiv ist, wo man irgendwie ständig unter Strom steht und einen ganz besonderen Alltag hat, der sich von vielen anderen Menschen unterscheidet. Und dann jetzt aber ein neuer Alltag im Bundestag, mit vielen Sitzungen, Gremien et cetera - es würde mich interessieren, wie ihr diesen Kontrast, diesen Rollenwechsel erlebt, quasi aus der Klinik in den Bundestag, das finde ich einen spannenden Kontrast.
Paula Piechotta: Hannes zuerst!
Johannes Wagner: Also, gute Frage. Was mir gerade auffällt, in den letzten Wochen – ich hoffe, dass das wieder ein bisschen besser wird –, ist, dass es mir damals im Krankenhaus noch so ging: Klar, es gab manchmal sehr schwere Fälle, bei denen man noch abends dasaß und dachte „Wow, krass, scheiße, das ist doof gelaufen, das ist gut gelaufen, oder das war sehr dramatisch und herzzerreißend“, gerade in der Kinderklinik. Trotzdem ist es mir eigentlich oft gelungen, am Abend oder Wochenende abzuschalten und so ein bisschen was anderes zu machen. Was mir jetzt gerade so ein bisschen schwerfällt, ist dieses Abschalten: Es ist gerade so viel, was passiert, vor allem mit Corona - das ist ein Thema, was mich sehr umtreibt. Ich komme ja aus Bayern und in Bayern ist die Lage auch sehr dramatisch, im Süden von Bayern, aber auch hier bei uns. Wir haben eine der niedrigsten Impfquoten in ganz Deutschland. Und da kommen ständig Informationen rein. Ich möchte einerseits alles verarbeiten, es aber auch weitergeben und irgendwie auch so ein bisschen mit aufklären; was gerade Sache ist, was notwendig wäre. Und das ist gerade etwas, mit dem ich noch Probleme habe: mit dieser dauerhaften Informationsflut und der dauerhaften Möglichkeit, sich irgendwie zu betätigen. Im Krankenhaus war ich in der Arbeit, am Abend war ich zu Hause und dann war es auch vorbei. Ich weiß nicht, wie es dir gerade damit geht, Paula? Das ist der größte Kontrast, die größte Veränderung, dass ich jetzt ständig irgendwas tun könnte oder müsste, gefühlt. Man hat vom Handy aus auf die E-Mails Zugriff, man hat die sozialen Medien, und das finde ich teilweise doch neu, auch anstrengend und bin gespannt, wie das in den nächsten vier Jahren weitergeht.
Paula Piechotta: Bei mir ist das ein bisschen anders als bei Johannes. Da ich schon den Facharzt gemacht habe, hatte ich schon ein bisschen mehr Büroarbeit zu erledigen, in der Klinik. Aber für mich ist der größte Unterschied: Wenn du Ärztin in der Klinik bist, finden dich prinzipiell fast alle Menschen erst mal gut und begegnen dir mit Respekt. Das ist jetzt anders, um es ganz kurz zu sagen. Einer der größten Vorteile ist, dass es in der Politik keine Nachtdienste gibt. Also die gibt es schon auch, aber nicht so, dass du schon drei Tage vorher denkst: „Oh nein.“ Es gibt aber auch unglaublich viele Parallelen. Sowohl die Klinik als auch der Bundestag sind unglaublich hierarchische Organisationen, viel hierarchischer als viele andere Wirtschaftszweige. In der Medizin ist der Frauenanteil ab einer bestimmten Ebene ähnlich gering wie in der Politik. Und auch dieser Punkt, dass viele Menschen unter den teils sehr großen Anforderungen zusammenbrechen, viel Alkohol trinken müssen oder Drogen nehmen, um mit der Situation klarzukommen – auch das ist eine Parallele zwischen Politik auf Bundesebene und großen Kliniken. Das finde ich schon spannend. Auch dieses In-Kontakt-Kommen mit allen möglichen Teilen der Gesellschaft. Also wenn du in der Notaufnahme bist oder wenn du CTs machst für Menschen, die gerade die Notaufnahme kommen: da kann dir jeder begegnen. Vom Menschen ohne Papiere und ohne Wohnsitz, der nicht Deutsch spricht, bis zum Uni-Prof, der abends zu Hause gestürzt ist. Und ähnlich ist es in der Politik, wo du auch mit unglaublich vielen verschiedenen Menschen in Kontakt kommst, und anders, als man es oft sagt, nicht so sehr in einer Bubble bist, zumindest, wenn du im Wahlkreis unterwegs bist. Diese Parallelen zwischen Medizin und Politik finde ich schon auch ziemlich spannend.
Tim Meyer: Und du wirst das auch beibehalten, Paula, oder?
Paula Piechotta: Ja, aber das ist sehr kompliziert.
Tim Meyer: Stimmt es, dass du weiter als Radiologin arbeiten willst? Hast du das wirklich vor?
Paula Piechotta: Ja, ich glaube, das ist unglaublich wichtig. Einerseits, weil gerade Ärztinnen, Ärzte und Pflegende viele Sachen sehen, die schieflaufen. Die haben aber auch so viel zu tun: das braucht viele Jahre, bis die so frustriert sind, dass sie sich mal bei der Politik melden. Und ich glaube, gerade, wenn neue Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen sind, kriegst du die viel schneller mit, wenn du vor Ort bist. Ich weiß nicht, Hannes … du kannst ja vielleicht gleich mal sagen, wie du das siehst. Ich glaube auch, was sehr viele im Politikbetrieb beschreiben: dass man relativ schnell zynisch wird, relativ schnell vergessen kann, warum man das überhaupt mal gemacht hat, was ist die eigene Motivationslage. Und ich glaube, dass man sich besser daran erinnert, wenn man noch Kontakt hat. Und das war für mich ein ganz wichtiger Grund, politisch tätig zu werden, – um halt irgendwas an diesen Arbeitsbedingungen zu ändern. Das Dritte ist, dass ich es immer gut finde, wenn Menschen unabhängig von Mandaten und Politik bleiben. Das ist natürlich einfacher, wenn du auch in deinem Job verankert bist. Aber das irgendwie hinzukriegen, ist natürlich super kompliziert.
Tim Meyer: Dann würde ich jetzt noch mal das Wort an Hannes geben. Hast du denn eine Frage an Anna als erfahrene Bundestagsabgeordnete?
Johannes Wagner: Meine größte Frage an die erfahrenen Menschen ist, wie sie mit Kompromissen umgehen. Das ist natürlich eine schwierige Frage, weil wir jetzt seit 16 Jahren zum ersten Mal wieder regieren werden – wahrscheinlich zumindest. Aber das ist ein Punkt auf Bundesebene, bei dem ich ganz gespannt wäre, wie man damit umgeht. Jetzt komme ich selbst aus der Fridays for Future und Health for Future Bewegung und sehe die Not, die so wahnsinnig groß ist; etwas zu tun fürs Klima, aber auch für ganz viele andere Dinge. Exemplarisch die Corona-Maßnahmen, aber auch die Situation in Belarus, mit den Geflüchteten an der Grenze, wo wir es nicht schaffen, von jetzt auf gleich eine andere Politik zu machen, weil wir noch zwei andere Partner:innen in der Koalition haben. Wie geht man damit um? Wie schafft man es, dass diese ständigen Kompromisse einen nicht zermürben? Das ist meine Hauptfrage und meine Haupt-Challenge für die nächste Zeit. Um noch ganz kurz auf Paula einzugehen: Ich hätte es auch spannend gefunden und hatte auch überlegt, weiter in der Klinik zu bleiben. Genau wie Paula sagt, bietet das viele Vorteile, das zu erleben, im Kontakt zu bleiben, mit Menschen aus Coburg, die hier verankert sind, die hier erleben, wie es in der Klinik läuft. Aber es ist für mich einfach organisatorisch nicht möglich gewesen, mit diesen Schichtdiensten und dann ein, zweimal im Monat dazuzukommen. Das war für mich ganz schwer praktikabel. Deswegen wird es leider erst mal nicht klappen. Aber ich finde es total wichtig und toll, wenn Paula das schafft und auch mir mitteilt, was in der Klinik bei ihr schiefgeht, damit wir zusammen daran arbeiten können.
Anna Christmann: Ja, dann würde ich vielleicht einmal auf die Kompromissfrage antworten. Mir geht es so: Ich bin ganz positiv gegenüber Kompromissen eingestellt, weil das heißt in der Regel, dass was vorangeht, dass man zumindest mal eine Lösung gefunden hat und dass etwas passiert und nicht, dass es Stillstand gibt. Ich habe in der letzten Wahlperiode selber viel in fraktionsübergreifenden Gremien gearbeitet - ich war zum Beispiel in einer Enquetekommission, die über Fraktionsgrenzen hinaus arbeitet, also eine besondere Form von Kommission, wo ja auch Expertinnen und Experten sind und dann ein gemeinsamer Bericht erstellt wird, indem man sich mit allen über den Inhalt einigt. Und ich habe das eigentlich als sehr positiven Prozess empfunden, weil es natürlich auch spannend ist, wenn man sich auf die Argumente der anderen einlässt und nicht immer mit der Erwartung hineingeht: „Ich habe aber eh recht, erzähl du mal, aber ich bleibe bei meiner Meinung.“ Sondern wirklich daraus ein Gespräch, eine Auseinandersetzung mit Argumenten entsteht. Das finde ich eigentlich spannend und wenn daraus ein Kompromiss kommt, finde ich das einen großen Erfolg und das ist, glaube ich, auch das Wesen unserer Demokratie, das ich gut mittragen kann. Für mich ist tatsächlich entscheidend, dass dieser Prozess auch wirklich vorher argumentativ läuft und es wirklich auch ein Stück weit eine offene Auseinandersetzung ist, und nicht nur ein: Jeder trägt sein Statement vor, das er sowieso schon die ganze Zeit in der Tasche hatte. Das habe ich im Bundestag ehrlich gesagt in meiner Anfangszeit eher als ein bisschen zermürbend erlebt - ihr habt jetzt ja noch keine Ausschusssitzungen gehabt, die kommen ja erst. Dort war ich, kann ich sagen, am Anfang ein bisschen enttäuscht, weil meine Erwartung an Ausschüsse höher war, weil man immer gesagt hat: „Das ist jetzt das Wesen des Parlaments, wo dann wirklich gearbeitet und miteinander diskutiert wird.“ Und ich glaube, da sind die Ausschüsse auch sehr unterschiedlich, aber ich fand die Debatte immer ein bisschen zu wenig offen und auch manchmal wie so eine kleine Plenarrunde, wo einfach jedes Statement vorgetragen wird und am Ende ja eben auch klar ist, welche Anträge abgelehnt und welche angenommen werden. Deswegen fand ich die Enquetekommission im Gegensatz dazu so spannend, weil dort eben eher eine inhaltliche Auseinandersetzung möglich war. Insofern würde ich sagen: Für mich ist nicht der Kompromiss die Schwierigkeit, sondern der Weg dahin, dass man es wirklich schafft, in eine offene Auseinandersetzung zu kommen - da fängt Politik wirklich an, Spaß zu machen und Sinn zu ergeben, weil man gemeinsam um die beste Lösung ringt, und ich hoffe, dass wir auch in einer Regierungskonstellation als Grüne zu so einer Auseinandersetzung beitragen können.
Johannes Wagner: Das klingt doch vielversprechend!
Paula Piechotta: Darf ich auch noch eine Frage stellen?
Tim Meyer: Natürlich darfst du noch eine Frage stellen.
Paula Piechotta: Ich stelle jetzt nicht die Frage, die gefühlt während der letzten Wochen am häufigsten kam, nämlich: „Wie schafft man es im Bundestag, irgendwie sein Gewicht zu halten?“ Das kam extrem oft. Abgesehen von dieser Frage würde ich noch fragen: Anna, wie hat dich der Bundestag in einer Art und Weise verändert hat, wie du es nicht hast kommen sehen? Oder gibt es da gar nichts?
Anna Christmann: Das finde ich eine wahnsinnig schwierige Frage, weil das vielleicht andere besser beurteilen können als man selber. Ich selber kann nicht sagen, dass ich das Gefühl habe, ich bin jetzt ein total anderer Mensch geworden, im Vergleich zu vorher. Ich meine, ich fand spannend, wie du es gesagt hast: dass es gut und wichtig ist, noch ein Bein in anderen Dingen zu behalten und möglichst viele Kontakte in nicht-politische Bereiche zu haben. Respekt für dein Vorhaben, deinen Beruf weiter auszuüben. Ich bin gespannt, wie sich das während der nächsten Jahre bei dir ergibt. Ich versuche das eher dadurch, möglichst viele Kontakte auch außerhalb von Grünen-Politiker:innen zu unterhalten, viel mit Menschen zu sprechen, die normalerweise nicht die Grünen wählen würden oder Ähnliches. Das ist etwas, was mir persönlich wichtig ist und was sicher auch eine Schwierigkeit ist … ob einem das immer so gut gelingt. Mein Eindruck ist schon: Je länger man dabei ist, desto mehr Zeit verbringt man natürlich auch in dem Laden hier. Das heißt, ich glaube, es bleibt eine Aufgabe, selber aktiv darauf zu achten und sich dann auch einmal herauszuziehen und zu sagen: „Na gut, jetzt sind da zwar 10 Gremiensitzungen, die alle ganz wichtig sind, aber es ist vielleicht trotzdem mal wichtiger, bei einer Veranstaltung dabei zu sein.“ Sei es nur, im Bekanntenkreis zu sein, der nichts mit grüner Politik zu tun hat, um diese Perspektive beizubehalten und mit in die eigene Arbeit zu nehmen. Diese Betriebsblindheit ist die größte Gefahr, die ich sehe. Vor der versuche ich mich auch etwas zu schützen. Aber das gelingt mir vermutlich immer nur teilweise.
Tim Meyer: Anna hat gerade gesagt, dass sie sich besonders auf Ausschüsse gefreut hatte, als die Herzkammern des Parlamentarismus. Was ist es denn bei euch beiden, Paula und Hannes? Worauf freut ihr euch ganz besonders? Vielleicht Paula zuerst?
Paula Piechotta: Wenn jetzt dann die Verhandlungen durch sind, abgesehen von der Arbeit in der eigenen Fraktion auch mit den Menschen über die Parteigrenzen hinweg, in der eigenen Region zusammenzuarbeiten – für die Region. Ich glaube, da ist extrem viel möglich. Das ist jetzt noch gar nicht groß gestartet, aber darauf freue ich mich sehr, weil man doch bei allen Differenzen, die man aufgrund der verschiedenen Parteien hat, in dieser zweiten Rolle nicht nur als Vertreterin der eigenen Partei, sondern auch als Vertreterin der Region ganz spannende, neue Allianzen schließen kann und für die eigenen Leute vor Ort Sachen herausholen kann.
Johannes Wagner: Ja, für mich war schon die Hoffnung und auch Erwartung, dass in den Ausschüssen ganz viel diskutiert wird und wir am Ende zu ganz vielen Kompromissen kommen, die im Gesundheitssektor viel bewirken - da ist ja nicht erst seit Corona ganz viel Not vorhanden: Arbeitsbedingungen, Finanzierungslücken und Demografie. Also das ist wirklich ein ganz ganz großes Thema, das glaube ich lange Zeit kein grünes Kernthema war, wobei wir auch mal eine Ministerin auf Bundesebene für Gesundheit hatten, aber trotzdem assoziieren viele Menschen nicht direkt mit uns Grünen. Und da glaube ich wirklich, eine Politik zu machen, die eben sehr sozial ist und natürlich auch Klimaaspekte berücksichtigt - also Krankenhäuser sind auch ein großer CO2-Emittent, auch die Pharmaindustrie und so weiter und so fort - aber trotzdem möchten wir dort ein System schaffen, das mit beiden Beinen auf dem Boden steht, das sich trägt, das nachhaltig ist - dazu hätte ich ganz viel Lust und freue mich darauf und habe ganz viel Hoffnung, dass wir das irgendwie schaffen. Aber die Herausforderungen sind auch riesig und natürlich hat es auch Potenziale für Frustrationen, genau wie die Klimapolitik teilweise, aber ich glaube trotzdem, dass wir das jetzt angehen müssen.
Tim Meyer: Dann bleibt mir nur noch der Dank an die Runde. Weiterhin alles Gute beim Ankommen für Paula und Johannes, und dir, Anna, natürlich viel Vergnügen beim Fortsetzen angefangener Projekte. Den heutigen Podcast zeichnen wir am 15. November auf, ausgestrahlt wird er am 17. November. Wir senden nicht aus unserem Studio im Bundestag, sondern haben uns von verschiedenen Orten aus zusammengeschaltet. Bitte entschuldigt, wenn die Tonqualität nicht ganz perfekt ist. Wenn ihr Lob, Kritik oder Fragen loswerden wollt, schreibt uns gerne an podcast@gruene-bundestag.de. Und wenn ihr darüber informiert bleiben wollt, was wir im Bundestag noch alles machen, schaut auf unsere Webseite gruene-bundestag.de, oder folgt uns in den sozialen Netzwerken auf Instagram, Twitter und Facebook. Schaltet gerne beim nächsten Mal wieder ein, wenn unsere Neuen auf die erfahreneren Abgeordneten treffen und gemeinsam ins Gespräch kommen. Vielen Dank fürs Zuhören, macht's gut und bleibt gesund.
Tim Meyer: Und vielen Dank euch. Macht's gut!
Paula Piechotta: Tschüss.
Johannes Wagner: Danke, macht's gut.
Anna Christmann: Danke.
Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.