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Brauchen wir mehr evidenzbasierte Politik?

In unserem Podcast "Uns geht's ums Ganze" sprechen wir mit Paula Piechotta, Anna Christmann und Johannes Wagner über evidenzbasierte Politik. Es geht darum, dass Fakten und Wissenschaft nicht nur die Grundlage für bessere Politik, sondern auch ein Gegenmittel für irrationalen Populismus sein können.
17.11.2021

In unserem Podcast "Uns geht's ums Ganze" sprechen wir mit Paula Piechotta, Anna Christmann und Johannes Wagner über evidenzbasierte Politik. Es geht darum, dass Fakten und Wissenschaft nicht nur die Grundlage für bessere Politik, sondern auch ein Gegenmittel für irrationalen Populismus sein können.


Transkript des Podcasts

Paula Piechotta: Dieser Prozess, der unglaublich schwierig ist und bei dem es natürlich nicht darum geht, dass Wissenschaft Politik diktiert, aber dass wissenschaftliche Fakten Grundlage politischen Handelns sind, ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Prozess für die nächsten Jahre. Und jetzt gerade, wenn wir uns zum Beispiel die Verschwörungstheorien anschauen, wenn es um die Impfungen geht und so weiter – das destabilisiert Gesellschaft und es wird eine ganz zentrale Zukunftsfrage für die Stabilität von Gesellschaften sein, gerade auch bei uns hier im Osten, wie breit die politische Mehrheit ist, die Fakten als grundlegende Basis politischer Entscheidungen akzeptiert.

Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der Grünen Bundestagsfraktion.

Anna Christmann: Mein Name ist Anna Christmann. Ich bin 38 Jahre alt. Mein Wahlkreis ist Stuttgart. Ich bin seit 2017 im Deutschen Bundestag. Und als Bundestagsabgeordnete kann ich mich mit wahnsinnig vielen klugen und spannenden Menschen treffen und daraus - hoffentlich - wichtige Entscheidungen für unser Land treffen, und das macht mir großen Spaß.

Paula Piechotta: Ja, hallo. Ich bin Paula Piechotta. Ich bin 35 Jahre alt, komme aus Sachsen, genauer gesagt aus Leipzig. Ich bin Ärztin und jetzt seit Oktober im Deutschen Bundestag. Als Bundestagsabgeordnete will ich vor allen Dingen die Interessen des Ostens noch deutlich sichtbarer machen, und als Ärztin ist mir natürlich auch wichtig, dass unser Gesundheitssystem noch fitter wird.

Johannes Wagner: Ja, hallo zusammen. Ich bin Hannes, 30 Jahre alt und komme aus Coburg und der Wahlkreis ist auch Coburg/Kronach. Ich bin seit sechs Wochen im Bundestag, genau wie Paula, also seit dieser Wahlperiode. Und als Mitglied im Bundestag möchte ich vor allem die Zusammenhänge von Klima und Gesundheit hervorheben - Klima ist ja unser Kernthema als Grüne Partei. Ich bin auch Mediziner, genau wie Paula. Mir liegt vor allem die Gesundheit von uns allen am Herzen und diese Verbindung finde ich total spannend und wichtig.

Tim Meyer: Ein herzliches Willkommen an die Gäst:innen und an unsere Hörer:innen. Wir sind zurück mit dem Podcast der grünen Bundestagsfraktion, „Uns geht's ums Ganze“. Mein Name ist Tim Meyer. Ich bin Referent in der Öffentlichkeitsarbeit der grünen Bundestagsfraktion. Wie ihr schon gehört habt, sind wir heute eine große Runde. Weil sich unsere Fraktion mit der Bundestagswahl sehr gewandelt hat und jetzt mehr neue als erfahrene unter den 118 Abgeordneten sind, wollen wir diese beiden Gruppen miteinander ins Gespräch bringen, ein Schwerpunktthema vertiefen, aber auch etwas übers Ankommen erfahren. Heute sprechen wir mit unseren Gäst:innen über evidenzbasierte Politik, also inwiefern die Politik gut gestützte, wissenschaftliche Erkenntnisse bei ihren Entscheidungen berücksichtigt. Paula, du schreibst auf deiner Website, wofür du dich konkret einsetzen willst. Unter anderem steht da: „Eine solide wissenschaftliche Datenbasis für alle politischen Entscheidungen. Von Klimapolitik über Corona- und Gesundheitspolitik bis zur Landwirtschaftspolitik.“ Warum ist das aus deiner Sicht so wichtig?

Paula Piechotta: Was, glaube ich, so spannend ist, gerade wenn man hier im Osten – in Thüringen bin ich groß geworden und wohne ja jetzt in Sachsen –, da sieht man ganz stark, was passiert, wenn wissenschaftliche Fakten eben nicht Grundlage politischen Handelns sind. Ich glaube, bei der Klimakrise ist uns allen sehr bewusst, wie unglaublich elementar es ist, dass die Gesellschaft gewisse grundlegende Fakten anerkennt, um überhaupt die Probleme, die existieren, angehen zu können. Und wir sehen jetzt zunehmend, gerade auch mit der Corona-Krise, dass das eigentlich in allen politischen Themenfeldern Grundlage sein muss. Und dieser Prozess, der unglaublich schwierig ist und bei dem es natürlich nicht darum geht, dass Wissenschaft Politik diktiert, aber dass wissenschaftliche Fakten Grundlage politischen Handelns sind, ich glaube, das ist ein ganz, ganz wichtiger Prozess für die nächsten Jahre. Und jetzt gerade, wenn wir uns zum Beispiel die Verschwörungstheorien anschauen, wenn es um die Impfungen geht und so weiter – das destabilisiert Gesellschaft und es wird eine ganz zentrale Zukunftsfrage sein - auch für die Stabilität von Gesellschaften, gerade auch bei uns hier im Osten - wie breit die politische Mehrheit ist, die Fakten als grundlegende Basis politischer Entscheidungen akzeptiert.

Tim Meyer: Glaubst du denn, dass gerade jetzt, wo versucht wird, der vierten Welle mit einer höheren Anzahl von Impfungen entgegenzuwirken, die Fakten auch noch mal weiterhelfen können, oder haben sich die Impfskeptiker und -gegner so fest entschieden, dass das eigentlich gar nicht zu durchbrechen ist?

Paula Piechotta: Dazu gibt es ja verschiedene, wissenschaftliche Studien. Das ist regional sehr unterschiedlich. Ich glaube, die, die in Bremen noch nicht geimpft sind, setzen sich ganz anders zusammen als die, die bei uns in Ostsachsen noch nicht geimpft sind. Es gibt welche, die einfach immer noch unsicher sind, weil auch einfach viele Falschinformationen im Umlauf sind. Und ich glaube, bei denen kann man mit ganz gezielten Aufklärungsgesprächen, zum Beispiel beim Hausarzt oder der Hausärztin neue Sicherheit erzeugen, damit sie sich gut entscheiden können. Und es gibt natürlich Menschen – Reichsbürger:innen –, die fester Teil rechter Netzwerke usw. sind, die natürlich für Fakten nicht erreichbar sind. Wie gesagt, der Kern von Menschen, die Fakten zu großen Teilen nicht anerkennen … wie groß der ist, entscheidet darüber, wie stabil eine demokratische Gesellschaft ist. Wahrscheinlich mache ich das deswegen als Thema auch immer so groß, weil das bei uns in Sachsen ein relativ großer Anteil an der Bevölkerung ist. Deswegen sieht man hier jeden Tag, wie entscheidend es ist, dass dieser Anteil nicht größer wird.

Tim Meyer: Johannes, du schreibst bei Instagram, dass du nicht nur ein Fan von Fahrrädern, sondern auch von evidenzbasierter Politik bist. Wie Paula bist du auch Arzt. Gibt es einen Zusammenhang, warum ihr als Ärzt:innen die evidenzbasierte Politik so stark betont?

Johannes Wagner: Es gibt ja auch die evidenzbasierte Medizin und ich kann Paula in ihren Aussagen voll und ganz zustimmen. Also wir brauchen einfach eine wissenschaftsbasierte Grundlage für politische Entscheidungen, und natürlich auch für medizinische Entscheidungen. Natürlich gibt es, auch wenn man mit einzelnen Patient:innen redet, immer noch die individuelle Abwägung: Was möchte der/die Patient:in? Welche Therapie, welches Vorgehen? Aber wir brauchen eben klare wissenschaftliche Grundlagen und das ist, glaube ich, ein ganz hohes Gut. Und vielleicht kommt es daher, dass gerade wir Mediziner:innen darauf einen Fokus haben. Aber wir sind ja auch nicht alleine. Es gibt viele, die das wichtig finden.

Tim Meyer: Ein Kernauftrag der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina ist die wissenschaftsbasierte Beratung von Politik und Gesellschaft. Es gibt dort auch eine Initiative zur Unterstützung der Evidenzbasierung in der Politik. Sie befasst sich mit den empirischen Grundlagen politischer Entscheidungen. Die Leopoldina hat kürzlich die Bundestagsabgeordneten und ihre Mitarbeitenden gefragt, inwiefern sie wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen und bewerten. Sie benutzen das mehrmals pro Woche, haben sie angegeben. Der Stellenwert für ihre parlamentarische Arbeit wird als hoch bzw. sehr hoch gewertet. Und den Abgeordneten ist wichtig, dass die Nutzung steigt; aber dafür müssen die Erkenntnisse gut verständlich und gut zusammengefasst sein. Anna, du warst ja schon die letzten vier Jahre Abgeordnete im Bundestag: Wie bewertest du diese Ergebnisse der Umfrage aus deiner Innenperspektive?

Anna Christmann: Es ist eine ganz wichtige Frage, wie wir in unserem politischen Alltag in der Lage sind, wissenschaftliche Erkenntnisse in unsere Entscheidungen einzubeziehen. Das ist gar nicht so trivial, weil da ja zwei sehr unterschiedliche Systeme aufeinander treffen. Wissenschaft, die sehr viel langfristiger arbeitet, oftmals für Studien einfach Zeit braucht und wo sich die Ergebnisse eben nicht immer gut auf einer halben Seite zusammenfassen lassen, – was aber eigentlich oft der Bedarf in der Politik ist. Wenn man sich in einer hektischen Sitzungswoche befindet, die von Montag bis Freitag durchgetaktet ist und man dann relativ schnell Entscheidungen treffen soll, hätte man immer gerne diese halbe Seite, die einem sagt: „Schwarz oder weiß? So ist es jetzt.“ So funktioniert es eben in der Wissenschaft nicht immer. Das heißt, wir können nicht erwarten, dass wir aus der Politik uns zu allen Fragen immer eine Studie bestellen können, die dann innerhalb von zwei Wochen da ist und uns eine Antwort auf genau die Frage liefert, die wir stellen. Sondern das ist natürlich eine eigene Arbeitsweise. Und ich glaube, die ist jetzt gerade in Corona-Zeiten noch mal sehr transparent geworden; dass es eben Zeit braucht, bis ausreichend Daten vorliegen. Wenn man mit Patientinnen und Patienten zu tun hat, wie ihr im Medizinbereich, muss man erst mal die Studien durchführen und genug Menschen haben, die im Fall von Corona überhaupt mit dem Virus infiziert sind. Da sind ähnliche Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. Und diese zwei unterschiedlichen Systemvoraussetzungen zusammenzubringen, ist, glaube ich, die Herausforderung für eine gute, evidenzbasierte Politik. Wir haben bereits auch ein paar Instrumente dazu im Parlament. Vielleicht können wir darauf nachher noch kurz eingehen. Ich war zum Beispiel Mitglied der Berichterstatterrunde für das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags, die auch versuchen, wissenschaftliche Erkenntnisse so zusammenzufassen, dass sie für Politik handhabbar werden. Und ich glaube, diesen Weg weiterzugehen und zu gucken „Was sind die Formate, die die wissenschaftliche Qualität haben, die notwendig ist, aber auch für Politik im Alltag handhabbar sind?“, das ist die Herausforderung, die sich uns permanent stellt und wo wir immer noch ein Stückchen besser werden können.

Paula Piechotta: Ich würde noch etwas ergänzen. Das eine, was ich unglaublich spannend fand, ist dieses wissenschaftliche Herunterbrechen von neuen Informationen, die ja bei Corona teils sehr schnell und kurzfristig kamen. Das hat auf Bundesebene noch relativ gut funktioniert, weil es da sehr viele Strukturen der wissenschaftlichen Beratung gibt. Doch schon, wenn du in ein kleineres Bundesland gehst, wo zum Beispiel ein Landeskabinett beraten werden musste – oder sogar auf Landkreis-Ebene – war es oft so, dass die nicht mehr genug Möglichkeiten hatten, an heruntergebrochene, wissenschaftliche Informationen zu kommen. Wir haben gerade in Corona-Zeiten gesehen, wie problematisch das sein kann. Das andere, was ich spannend finde: Dieses Herunterbrechen bringt auch wieder neue Probleme mit sich. Herunterbrechen heißt, dass du Unsicherheiten zur Seite legst, dass du einfache Bilder findest, um Sachen zu erklären, nämlich für Leute, die nicht im Fach sind. Wenn sich dann aber vielleicht eine wissenschaftliche Studie, die relativ viele Annahmen gemacht hat, die sich als nicht richtig herausstellen... wenn die revidiert wird – was in der Wissenschaft ein ganz normaler Prozess ist – und dann das neue Herunterbrechen aber so aussieht, als ob die Wissenschaft vorher einfach nur komplett falsch lag, gehen ganz viele Informationen verloren. Und auch die Möglichkeit von Politik, einzuschätzen: Wie belastbar sind welche Daten und wie wenig belastbar vielleicht andere? Das ist alles etwas, was wir noch nicht perfekt gelöst haben, gerade in Bereichen wie Corona, wo die Halbwertszeit von neuen Informationen oft sehr kurz ist, weil dann schon wieder neue kommen. Das ist beim Klima zum Beispiel einfacher, weil wir da einen viel längeren Zeithorizont haben und deswegen die wissenschaftlichen Daten, die für uns für politische Entscheidungen wichtig sind, gesettelter sind als zum Beispiel bei Corona.

Johannes Wagner: Gleichzeitig, Paula, ist es trotzdem bei der Klimakrise viel schwieriger, weil die Folgen teilweise erst in der Zukunft liegen. Mittlerweile sehen wir zwar schon einige der Folgen der Klimakrise. Aber es hat doch fast 50 Jahre gedauert, seitdem die ersten Warnungen ausgesprochen worden sind – die sehr konkreten Warnungen und Berechnungen, sogar. In den 70er-Jahren gab es die ja schon. Was mir Sorge bereitet, sowohl bei der Klimakrise als auch bei Corona: Muss es erst richtig knallen, bevor die Menschen akzeptieren, dass es gewisse Fakten gibt, die eintreffen, wenn wir uns so oder so verhalten. Es ist genau wie bei Corona auch bei der Klimakrise so, dass wir viele Dinge sicher wissen, – wie sich die Zahlen entwickeln und wie schnell exponentielles Wachstum, bei Corona zum Beispiel, außer Kontrolle gerät; dass es eben kein lineares Wachstum ist, das wir Menschen vielleicht besser einschätzen können, sondern exponentiell. Diese Zeitachsen oder diese Langfristigkeit übersteigen unseren Horizont, dass wir Dinge teilweise noch nicht so richtig sehen, oder nicht so dramatisch spüren, wie vielleicht zukünftige Generationen oder Menschen woanders in der Welt. Da haben, glaube ich, beide Krisen eine Gemeinsamkeit, sowohl Corona als auch die Klima-Krise.

Paula Piechotta: Ja, total richtig. Ich meinte ja auch nur, dass es bei der Klimakrise nicht so ist, dass ein neues Paper herauskommt und dann die wissenschaftliche Beratung komplett andere Entscheidungen empfehlen muss.

Tim Meyer: Der Club of Rome, der in den 70er-Jahren davor gewarnt hat, hat das, finde ich, damals auch mit sehr eindringlichen Beispielen schon gemacht. Der Punkt war ja gerade, gut verständlich wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln. Und jetzt sagt ihr: „Was muss denn erst passieren?“ Die Kommunikation versucht, es mit möglichst drastischen Beispielen und Visionen à la „Wie sieht sie denn aus, die Welt, wenn wir jetzt so weitermachen?“ klarzumachen, aber trotzdem dringt es nicht durch. Woran kann es denn liegen, dass daraus, selbst wenn es gut vermittelt wird, kein politisches Handeln kommt?

Anna Christmann: Ich glaube, wissenschaftliche Erkenntnis ist noch kein politisches Handeln, sondern sie ist die Grundlage, auf der politische Entscheidungen getroffen werden müssen. Und sie löst auch nicht automatisch politischen Konflikte. Es ist die Aufgabe von Politikerinnen, Politikern, von uns allen, diese herbeizuführen. Ich meine, im Falle des Klimas sind das natürlich die Punkte, die uns allen gut bekannt sind. In der Theorie, glaube ich, gibt es mittlerweile sehr viele Menschen, die die Klimakrise anerkennen und sagen: „Das ist eine der größten Herausforderungen, die wir lösen müssen.“ Aber im Konkreten heißt es dann aber: „Was passiert mit der Straßenbahn um die Ecke?“ Oder: „Muss ich dann fürs Benzin mehr Geld bezahlen oder nicht?“ Oder: „Wann schalten wir die Kohlekraftwerke ab?“ Daran hängen dann auch wieder die Jobs von Menschen, die vermutlich auch finden, dass die Klimakrise ein großes Problem darstellt, die aber trotzdem auch eine Perspektive haben wollen, was sie in den nächsten Jahren tun, und die vielleicht ein Stück weit ihren Lebensweg darüber identifizieren; ihre Lebensleistung. Das sind komplexe Fragen, die wir alle kennen, die dann auch auf der Weltbühne im größeren Maßstab diskutiert werden. Und ich glaube, diese wissenschaftliche Basis ist wahnsinnig wichtig und muss laut genug sein. Das, glaube ich, ist die Erwartung, die man an Wissenschaft haben kann. Da erlebe ich manchmal noch – immer weniger im Bereich Klima – Zurückhaltung, dass man als Wissenschaftler:in nicht selbst zum Aktivisten werden möchte, sondern irgendwie seine Ergebnisse möglichst neutral vortragen möchte und dann eben erwartet, dass die Politik handelt. Das kann ich ein Stück weit auch verstehen, aber ich glaube, es braucht beides: Es braucht laute Stimmen aus der Wissenschaft, die ihre Erkenntnisse auch wirklich sehr selbstbewusst vortragen. Und dann fängt der Job der Politik erst an und es ist eben oftmals keine leichte Aufgabe, das in entsprechende Maßnahmen umzusetzen, weil da eben ganz viele soziale, rechtliche Fragen dranhängen, die natürlich alleine mit der wissenschaftlichen Erkenntnis noch nicht gelöst sind.

Tim Meyer: Noch einmal heruntergebrochen: Die Wissenschaft kann nur Handlungsoptionen aufzeigen und die Politik muss dann letztendlich abwägen und Entscheidungen treffen?

Anna Christmann: Ganz genau, so ist es – also das ist ja auch ein bisschen die Arbeitsaufteilung zwischen Wissenschaft und Politik - wir sind ja auch dafür gewählt, um das repräsentativ tun zu können, und das sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht. Wir haben ja auch keine Technokratie, sondern eine Demokratie - diese Unterscheidung ist, glaube ich, schon noch mal wichtig. Aber natürlich ist es ganz immanent, für diese Demokratie eben evidenzbasierte Entscheidungen dadurch treffen zu können, dass die Stimme der Wissenschaft trotzdem eine laute ist und dass wir natürlich auch eine unabhängige Wissenschaft haben - was international im Übrigen gar keine Selbstverständlichkeit ist - das vergisst man immer gerne, wenn man die deutsche Perspektive hat.

Johannes Wagner: Also ich kann Anna in allem, was sie gesagt hat, nur zustimmen. Vielleicht ein Punkt, der mir noch wichtig ist, noch mal vergleichend Corona und die Klimakrise: die Art der Kommunikation. Wir haben bei der Klimakrise oft von dem globalen Süden gesprochen, von den Eisbären, die vielleicht keine Robben mehr finden, oder die Wissenschaft, die Angst hat, um die sich zu sorgen wäre Aber eigentlich geht es ja um uns Menschen, auch hier in Deutschland. Diese Art von Kommunikation ist, glaube ich, ganz, ganz wichtig und ich glaube, gerade da kann die medizinische Perspektive versuchen, mit Gesundheitsaspekten und Argumenten zu argumentieren, vielleicht auch helfen, den Menschen begreifbar zu machen, dass es eben oftmals ein Gewinn ist, Klimaschutz zu machen oder es eigentlich immer ein Gewinn ist, Klimaschutz zu machen, weil die langfristigen Folgen dramatisch sind. Auch für die Gesundheit, für die Wirtschaft und für ganz viele andere Dinge auch, aber eben auch für die Gesundheit - das, glaube ich, ist so eine Geschichte, die ich gerne in den nächsten vier Jahren miterzählen möchte und mit der ich auch Politik machen möchte. Es gibt ein paar bekannte Beispiele, die das ganz gut hinbekommen - Eckart von Hirschhausen ist gerade recht prominent in den Medien, der das immer wieder versucht: „Ja, wir brauchen eine gesunde Erde für uns gesunde Menschen.“ - das mag ein bisschen platt und einfach klingen, aber letztendlich ist das etwas, was Menschen erreicht, die bisher noch nicht so aufmerksam waren bei diesem Thema. Ich glaube schon, dass wir oftmals von anderen Parteien ganz bewusst als die Partei von Verboten, von Verlusten, von „Ihr müsst zurückstecken!“ bezeichnet werden. Und das müssen wir, denke ich mal, mit wissenschaftlichen Fakten, aber auch mit einer bestimmten Erzählung und Kommunikation, die wir in der Politik leisten müssen. Das ist nur zum Teil die wissenschaftliche Kommunikationsarbeit, sondern eigentlich liefern die Fakten und die Daten und – was auch Anna vorhin meinte – wir müssen dann etwas kommunizieren und Entscheidungen ableiten und das ist mir ein ganz wichtiger Punkt. Dann kann es auch gelingen, das glaube ich schon, aber es ist trotzdem oftmals gar nicht so einfach.

Paula Piechotta: Ich möchte noch etwas ergänzen, weil du gerade noch mal über Medizin gesprochen hast: Also das Krasse ist ja, dass es eine unglaublich große zivilisatorische Leistung ist, sich als eine gesamte Gesellschaft auf Sachen vorzubereiten, die in der Zukunft liegen - das musst du als Gesellschaft erst einmal schaffen. Und es bringen ja oft viele an, dass so eine gesamte Gesellschaft einfach auch sehr unterschiedliche Bildungsgrade hat und Menschen mit relativ niedriger formaler Bildung so etwas anders kommuniziert bekommen müssen als Menschen, zum Beispiel mit einem akademischen Abschluss. Wir haben gerade in diesem Kampf innerhalb der Medizin um evidenzbasierte Medizin, der noch nicht so lange geführt wird, gesehen, dass es selbst mit Ärztinnen und Ärzten, die ja alle irgendwie ein super langes Studium hinter sich haben, extrem schwer war, wissenschaftliche Daten wirklich zur Grundlage dessen zu machen, wie man Patientinnen und Patienten behandelt - wir haben ja bis heute auch Ärztinnen und Ärzte, die sich an Leitlinien nicht halten, die zum Beispiel entgegen wissenschaftlicher Evidenz gegen Impfungen Empfehlungen aussprechen und vieles andere mehr. Das zeigt, was für ein unglaublich großer gesellschaftlicher Prozess das ist, der auch in Teilgruppen sehr schwierig ist. Das wichtigste Argument dafür ist dieser Wandel von eminenzbasierter Medizin, wie es noch vor wenigen Jahren der Status quo war, hin zu evidenzbasierter Medizin, dass am Ende im Schnitt die Patienten besser gesund werden und eine längere Lebenserwartung haben, bei höherer Lebensqualität. Also ich mache konkret das Leben und die Gesundheit von Menschen besser, wenn ich mich an wissenschaftliche Daten halte, anstatt an eigene Überzeugungen und so weiter. Und allein in der Medizin war der Prozess super schwer, er dauert immer noch an und für die gesamte Gesellschaft ist er dann natürlich noch ungleich schwerer.

Tim Meyer: Ich würde gerne noch einmal zu Anna kommen und zu einem Antrag, den die grüne Bundestagsfraktion im Juni 2020 eingebracht hat - darin fordert die grüne Bundestagsfraktion, Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus umfassend zu stärken: Anna, wie wurde denn der Antrag diskutiert und was ist daraus geworden?

Anna Christmann: Ja, den haben wir in der letzten Wahlperiode gestellt, aus der Opposition heraus. Das heißt, er wurde im Bundestag nicht fulminant angenommen, ist aber natürlich eine Grundlage, auf der wir hoffentlich über diese Wahlperiode hinweg weiter arbeiten werden. Diese ganze Frage: Wie kann Wissenschaft so kommunizieren, dass sie in der Gesellschaft, in der Breite ankommt? Das ist das, was Paula und Hannes schon gesagt haben: Wie erreichen wir möglichst viele Menschen und nicht nur die, die sowieso jede Woche die ZEIT Wissen lesen, oder andere Medien, die ein relativ hohes Level an Informationsdichte haben. Und da ist es eben so, dass Wissenschaft im Moment vor allem für die Forschung, die sie betreibt, finanziert wird – was ja auch richtig und wichtig ist. Aber es gibt eben so keinen Anreiz, selber kommunizierend tätig zu sein. Dafür gibt es oft keine Budgets. Das ist natürlich eine Schwierigkeit: Wenn ich dafür als Forscher:in weder Geld noch Anerkennung bekomme, ist das natürlich vom System her schon schwierig. Im Gegenteil gibt das ja einen Anreiz dazu, möglichst wenig öffentlich zu kommunizieren, weil man dann von Kolleginnen und Kollegen schief angeguckt wird, „Oh, jetzt ist die schon wieder in den Medien und sitzt nicht im Labor und arbeitet an dem, was eigentlich doch für die Wissenschaft wichtig wäre“.

Tim Meyer: Beispiel Christian Drosten.

Anna Christmann: Ja, Christian Drosten ist ja sogar noch weitergehend. Da ist nicht mehr nur das Thema, sondern dann auch noch zusätzlich, dass man mit öffentlichen Anfeindungen zu tun hat. Ich habe einen riesigen Respekt vor denen, die sich in die erste Reihe trauen, weil man merkt ja wirklich, dass das für deren Leben einschneidend ist. Die werden jetzt auf der Straße erkannt, teils angefeindet. Das ist ja wirklich schon dramatisch und überschreitet teils eine Grenze, die in der Demokratie akzeptabel ist. Es ist zweierlei: Einerseits wird es innerhalb der Wissenschaft nicht goutiert, weil es halt nicht als Aufgabe im Wissenschaftssystem wahrgenommen wird, und zum Zweiten ist es auch nicht hilfreich für das persönliche Leben, eine Person der Öffentlichkeit im Bereich der Wissenschaftsberatung zu sein. Da muss man aus unserer Sicht entgegensteuern, indem man finanzielle und anerkennende Anreize setzt, das zu tun. Zum anderen braucht es die andere Seite, den Wissenschaftsjournalismus, der auch keiner ist, der die Einnahmen von Medien hochtreibt. Zeitungen haben nicht unbedingt immer einen sehr ausführlichen Wissensteil, weil das nicht unbedingt der ist, der die große Leserschaft hervorbringt. Das ist aber ein ganz wesentlicher Teil. Wie man diesen Bereich stärkt, ist also auch eine wichtige Frage, damit wir diese gesellschaftliche Debatte führen können. Dann kommen natürlich noch Institutionen hinzu. Wir haben jetzt in Berlin neu das Futurium, die über Wissenschaft in einer einfachen, ansprechenden Art und Weise, mit Gratis-Eintritt informieren. Es gibt auch andere Forschungsmuseen, die interessante Formate für Familien zum Beispiel machen, wo sie das am Wochenende mit Aktionen verbinden, um Menschen zu erreichen, die vielleicht sonst nicht so wissenschaftsaffin sind. Diese Aktivitäten zu unterstützen, das ist aus meiner und unserer Sicht durchaus eine politische Aufgabe. Und ich hoffe sehr, dass wir da in den nächsten Jahren noch mal einen Schritt vorankommen.

Tim Meyer: Ganz kurz dazu noch mal: Wissenschaftskommunikation von Institution wäre dann die Quelle, die für euch als Politiker:innen relevant ist? Und Wissenschaftsjournalismus für die breite Bevölkerung; dass man da einen einheitlichen Informationsstand herstellt? Oder wie würdest du da den Unterschied erklären?

Anna Christmann: Das hat natürlich unterschiedliche Adressaten. Der Wissenschaftsjournalismus adressiert ganz stark die breite Bevölkerung, am Ende aber auch uns Politikerinnen und Politiker – wir lesen ja auch Medien. Das heißt, es erreicht uns durchaus auch über diese Linie. Journalismus hat natürlich immer noch eine andere Art, es aufzubereiten. Die Wissenschaftler:innen, die kommunizieren meistens recht direkt ihre Forschungsergebnisse. Der Journalismus hat eine andere Möglichkeit, es einzuordnen und an aktuelle politische Debatten anzudocken. Das ist sowohl für die breite Gesellschaft hilfreich, die dadurch mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen konfrontiert wird, als aber auch für den Politikbereich. Auch bei uns haben nicht alle Kolleginnen und Kollegen Zeit, selbst wissenschaftliche Studien zu lesen, sondern Wissenschaftsjournalismus spielt auch für die politische Debatte eine wesentliche Rolle. Er ist, glaube ich, deswegen etwas, das wir nicht aussterben lassen sollten.

Paula Piechotta: Das gilt meistens. Wobei man jetzt in den Corona-Zeiten gesehen hat, dass, wenn es einzelne Abgeordnete oder Menschen in Verantwortung gibt, die in der Lage sind, neue wissenschaftliche Paper selber zu verstehen, wenn es ganz schnell gehen muss, das durchaus Vorteile bietet für Entscheidungen, die in einer Ministerpräsidentenkonferenz nachts um 12 getroffen werden müssen. Also da ist das schon sinnvoll, und deswegen fände ich es super, wenn wir in Zukunft nicht nur darüber reden, dass wir mehr Menschen mit Migrationshintergrund, mehr Frauen und so weiter im Parlament brauchen, sondern durchaus auch mehr Menschen mit forschendem, wissenschaftlichen Hintergrund. Ich glaube, das wäre an der Stelle gut.

Anna Christmann: Wenn ich darauf noch kurz reagieren kann, Paula: Ich unterstütze das natürlich absolut und finde, es ist eigentlich allen zu empfehlen, mal ein Paper in der direkten Version zu lesen, weil das sehr aufschlussreich ist, um die Arbeitsweise von Wissenschaft zu verstehen. Wissenschaftliche Studien, die sind, je nachdem, auf 15 bis 20 Seiten niedergeschrieben und da steht dann halt immer, wie der Studienablauf war, was die Voraussetzungen waren, wie das zu interpretieren ist. Also ich empfehle allen, die gerade zuhören und das noch nicht gemacht haben, sich ruhig mal ein, zwei Studien selber durchzulesen. Das ist auf jeden Fall sehr interessant und lehrreich, um die Arbeitsweise von Wissenschaft zu verstehen. Und es sollte natürlich auch möglichst Politikerinnen und Politiker geben, die das selber tun. Ich glaube, für den Erfolg evidenzbasierter Politik ist es ganz wesentlich, dass wir in der Breite ein Verständnis dafür schaffen, wie Wissenschaft arbeitet. Und ich erlebe schon sehr unterschiedliche Reaktionen auf wissenschaftliche Studien, auch im Bundestag während der letzten vier Jahre. Und nicht überall ist eine Sensibilität dafür vorhanden, wie das einzuordnen ist. Deswegen ist es schon gut, wenn Wissenschaftskommunikation, Journalismus, auch Politikberatung einfach noch ein bisschen besser sowie handhabbarer für Politiker:innen wird und diese noch direkter erreicht. Das hat schon einen zusätzlichen Mehrwert. Denn wenn du eine Handvoll Politiker:innen hast, die Studien selber lesen können und dann den anderen die Welt erklären wollen – um es zu überspitzen –, dann gibt es da eben oft eine Gegenwehr und das ist auch gefährlich, und wir müssen eben versuchen, das in die Breite zu tragen.

Paula Piechotta: Genau, deswegen muss es immer mehr als einer sein, gerade auch bei Corona.

Tim Meyer: Welche Rolle spielt denn eigentlich der wissenschaftliche Dienst des Bundestags? Kannst du dazu vielleicht auch noch etwas sagen, Anna?

Anna Christmann: Das ist interessant. Ich habe vorhin schon das Büro für Technikfolgenabschätzung erwähnt, und dann gibt es den wissenschaftlichen Dienst. Das sind zwei verschiedene Instrumente, die eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben. Ich würde fast sagen, für das Thema evidenzbasierte Politik ist das „TAB-Büro“ – das ist die Abkürzung – fast wesentlicher als der Wissenschaftliche Dienst. Den Wissenschaftlichen Dienst können Abgeordnete anrufen, wenn sie Fragen, zum Beispiel zu einer Rechtseinschätzung haben, juristische Bewertungen brauchen oder ein Zusammentragen von irgendwelchen Fakten – wenn ich wissen will, welche Regelungen in verschiedenen Ländern zu einem bestimmten Thema gelten. Solche Anfragen bearbeitet in der Regel der Wissenschaftliche Dienst. Und das TAB-Büro ist ein sehr spannendes Instrument, dem man zu bestimmten Themen Aufträge erteilen kann, zum Beispiel den aktuellen wissenschaftlichen Stand ausführlich zusammenzutragen. Es sind Metastudien, wie man das nennt, die da erstellt werden. Das bedeutet, die machen keine eigenen wissenschaftlichen Studien, aber sie tragen den Stand aus verschiedenen Studien zusammen oder machen auch verschiedene Gutachten. Das kann zu ganz unterschiedlichen Themen sein. Ein Thema, das besonders Schlagzeilen gemacht hat – das ist schon ein paar Jahre her – war die Frage: Sommer- und Winterzeit, Uhrumstellung. Welche Auswirkungen hat das denn auf die menschliche Gesundheit? Da hat dann das TAB ein Gutachten erstellt, um eine Grundlage für die politische Entscheidung zu haben: Will man noch eine Zeitumstellung haben oder nicht? Aber natürlich auch ganz andere Fragen. Wir hatten jetzt Digitalisierung in der Landwirtschaft, zum Beispiel. Welche technischen Möglichkeiten gibt es, mit digitalen Technologien Landwirtschaft pestizidärmer zu machen und Ähnliches. Das sind Themen, die Fraktionen einbringen können. Und das ist das Spannende. Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag können Themenvorschläge machen und dann werden welche ausgewählt – in der Regel 10 pro Jahr –, zu denen dann diese Gutachten erstellt werden. Und das ist wirklich eine tolle und sehr fundierte Zusammenstellung zu diesen Themen, die die politische Debatte auch weitertreiben kann. Auch da haben wir so ein bisschen die Schwierigkeit der unterschiedlichen Zeitabläufe, denn wenn Fraktionen Themen in Auftrag geben, finden sie die immer ganz wichtig. Dann dauert es aber teils zwei Jahre, bis diese Studie da ist, weil das natürlich auch Zeit in Anspruch nimmt. Und dann ist aber manchmal die politische Agenda schon so fortgeschritten, dass die Ergebnisse nicht immer sofort Eingang finden in Entscheidungen. Da sieht man auch wieder diesen Gap zwischen den verschiedenen zeitlichen Schienen. Dennoch halte ich es für ein ganz wichtiges Instrument und bin auch sehr dafür, dass wir die Arbeit des TAB weiter stärken und auf die Bedürfnisse der Parlamentarier:innen weiter fokussieren.

Tim Meyer: In vielen Bereichen der Politik werden regelmäßig Evaluierungen durchgeführt, etwa im Bereich der Ressortforschung. Es gibt einen Beschluss der Bundesregierung aus dem Jahr 2013, dass insbesondere Vorhaben, deren geschätzte Kosten der Umsetzung jährlich eine Million Euro übersteigen, systematisch evaluiert werden. Passiert das, Anna?

Anna Christmann: „Evaluation“ ist, glaube ich, ein häufig genutzter Begriff in der Politik. Aber diese Evaluationen sind sehr unterschiedlicher Qualität. Insgesamt passiert es zu wenig, würde ich sagen, weil auch dort oft die Zeit zu knapp ist. Dann ist man politisch schon wieder weiter, an einer anderen Stelle, ohne wirklich eine ausführliche Evaluation gemacht zu haben. Die Daten hast du ja gerade vorgetragen – insofern wird das schon gemacht. Die Frage ist, ob immer die Zeit da ist, um aus den Evaluationen auch wirklich die Schlüsse zu ziehen, die notwendig wären, um etwas zu verändern. Manchmal landen solche Evaluationen in Schubladen. Aber ich würde sagen, es gibt schon auch die Evaluationen, die funktionieren, von Gesetzen, wo weiterentwickelt wird. Ich glaube, das Ziel wäre es, dass einfach weiter zum Standard zu machen, auch Evaluationen nach ein paar Jahren. Aber auch zum Standard zu machen, dass diese Evaluationen dann auch politisch auf den Tisch kommen und dass auch etwas daraus folgt. Das wäre, glaube ich, das Wichtige. Sonst bleibt es halt bei Alibi-Geschichte.

Tim Meyer: Genau. Das Ziel müsste sein, dass die Daten wieder zurückfließen und daraus politische Entscheidungen getroffen werden können.

Anna Christmann: Genau. Man bräuchte einen Mechanismus, dass das auch bei den Parlamentarier:innen ankommt. Das passiert, glaube ich, zum Teil, aber eben nicht immer.

Tim Meyer: Wir kommen jetzt in der Mitte unseres Podcasts – obwohl schon zeitlich etwas vorangeschritten sind – zu unserer These. Und zwar habe ich da was herausgesucht: Armin Falk, der ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn und Direktor des briq-Instituts für Verhalten und Ungleichheit. Und der hat in der ZEIT etwas über die Evidenz in der Politik im Land der Kleinmütigen geschrieben. Er sagt: „In Deutschland herrschen Skepsis, Trägheit und Kleinmut sowohl gegenüber sozialen Experimenten als auch bei der Bereitstellung administrativer Datensätze. Die Folge: Deutschland ist notorisch untererforscht. Ein enormer Standortnachteil. Während es anderswo durch die Verknüpfung von Daten beispielsweise möglich ist, zu identifizieren, welche Berufsgruppen besonders gefährdet sind, sich mit Corona zu infizieren, also etwa Busfahrer oder Lehrkräfte, war und ist dies in Deutschland leider nicht machbar.“ Zitat ende. Daraus würde ich jetzt die These ableiten: „In Deutschland ist evidenzbasierte Politik kaum möglich, weil die Datenlage zu gering ist.“ Was sagt ihr dazu? Wer möchte anfangen?

Paula Piechotta: Ich glaube, dass unterschiedliche Gesellschaften einen ganz unterschiedlichen Zugang dazu haben, welche Daten von jedem gespeichert und für allgemeine Forschung zugänglich sein sollten, und welche nicht. Das hat man auch jetzt bei Corona sehr gut gesehen. Allein, wenn wir nach Großbritannien schauen, mit einem Gesundheitswesen, bei dem die Daten von allen Patient:innen im Land in eine Datenbank fließen, oder auch, wenn wir nach Israel schauen, wo wir eine extrem gute Datenübersicht über alle Versicherten haben. Und das natürlich zum Beispiel möglich gemacht hat, dass Corona-Impfstoffe dort mit zuerst eingesetzt wurden. Einfach, weil man dort sicherstellen konnte, dass die Daten zur Verträglichkeit und zu Nebenwirkungen sehr schnell erhoben, ausgewertet und dann auch herauskristallisiert werden konnten. Das wird wahrscheinlich auch bei uns noch dazu führen, dass man sich anschaut: Wie groß sind die Vorteile von solchen Datenbanken, und müssen wir vielleicht nicht auch hier in Deutschland unsere Einstellung dem Gegenüber noch mal anpassen? Ich glaube aber trotzdem, gerade auch mit dem Blick in die historische Vergangenheit, gerade in die historische Vergangenheit vor '89 hier in den neuen Bundesländern, dass das natürlich eine sehr schwierige Debatte ist. Du brauchst das jetzt nicht unbedingt alles für Deutschland, wenn du zum Beispiel gute Daten aus Israel oder Großbritannien hast, was zum Beispiel Impfstoffe oder so angeht, also du musst nicht in jedem Land die immer gleichen Studien machen. Aber, wenn es jetzt darum geht, was er in seiner These angesprochen hat, nämlich was sind ganz spezielle Berufsgruppen-Probleme in Deutschland – das sind Sachen, die hier wahrscheinlich anders sind als vielleicht in einem vergleichbaren Land, - und das ist ja der Unterschied zwischen Impfstoffen - dann macht es natürlich Sinn, das auch hier zu machen. Aber grundsätzlich: Nur, weil wir die Daten in Deutschland nicht erheben, heißt das nicht, dass wir die Daten nicht bekommen, und auch dafür war Corona wieder ein gutes Beispiel.

Tim Meyer: Hannes?

Johannes Wagner: Die These ist sehr weit gefasst und bei manchem kann ich mitgehen - natürlich haben wir trotzdem in vielen Bereichen funktionierende Institutionen und einen funktionierenden Staat, aber generell dieses Thema öffentliche Gesundheit, für dass das ja jetzt wieder ein Beispiel war, mit: Welche Berufsgruppen werden am ehesten krank, auf Englisch "Public Health": Das ist in Deutschland - auch aufgrund unserer Geschichte - eben ganz schlecht ausgebildet. Es gab früher zu den Nazi-Zeiten die Volksgesundheit - da wurde sehr viel Schlimmes gemacht und es war auch nach dem Krieg sehr lange noch sehr negativ konnotiert. Aber mittlerweile wissen wir - und das haben wir jetzt auch während Corona gemerkt - dass unser ÖGD, also der öffentliche Gesundheitsdienst, wahnsinnig schlecht ausgestattet ist, schlecht finanziert ist, dass die Technik sehr, sehr rückständig ist. Im Dezember letzten Jahres war ich auf einer Corona-Station, habe selbst noch Faxe hin und her geschickt, welcher Patient, welche Patientin welchen Virus hatte und so weiter. Und dazu gibt es jetzt Initiativen, um zu verstetigen, dass der ÖGD gestärkt wird, dass wir generell einen öffentlichen Gesundheitsdienst haben, der wirklich auch was kann. In Bayern gibt es fünf Städte, da ist er an die Kommunen angedockt - die haben relativ viele Kompetenzen und sind sehr nah dran. Sonst ist es überall ein eigenständiger Verwaltungsapparat, der gar nicht so genau mitbekommt, was die Kommunen so machen und überhaupt nicht in jede Entscheidung eingebunden ist. Im Wahlkampf habe ich ganz viele E-Mails bekommen von niedergelassenen Ärzt:innen, die wegen der elektronischen Patientenakte Fragen hatten und unzufrieden waren, wie das gelaufen ist. Dazu wurden auch in Krankenhäusern viele Dinge auf den Weg gebracht, die müssen auch erst einmal greifen und da gibt es schon einiges, was in den nächsten Jahren kommt. Dennoch ist es natürlich so, dass wir für wirklich evidenzbasierte Medizin natürlich auch Daten brauchen, genau wie diese These dieses Professors war. Und ich glaube schon, dass wir da noch Aufholbedarf haben. Wir haben in der Medizin ganz viel Überversorgung, Untersuchungen, die noch einmal gemacht werden, weil es mit der heutigen Geräte-Medizin schneller geht, es noch mal zu machen als es noch mal woanders anzufordern. Da entstehen Kosten, da entsteht Strahlenbelastung für Menschen oder man verliert Zeit, was nicht notwendig gewesen wäre. Auch mit den jetzigen Gesetzen wäre schon viel möglich, was die Weitergabe von Daten angeht, was man aber nicht macht. Also wir können auch noch die jetzigen Gesetze nutzen. Trotzdem kann man gucken, ob es in ein paar Bereichen vielleicht noch die eine oder andere Veränderung braucht. Denn wenn die Menschen verstehen, dass es ihnen nutzt, sind sie auch bereit, anonymisiert Daten weiterzugeben. Aber man muss es eben erklären, und diese Zeit hat man sich oft nicht genommen, oder sie ist eben auch historisch ein bisschen vorbelastet gewesen, die ganze öffentliche-Gesundheits-Geschichte. Aber das ist ganz wichtig für die Zukunft, dass wir uns dort stärker aufstellen, und auch Punkte wie zum Beispiel Klima und Klimafolgen, aber auch die Folgen von unserem Verkehrssystem, dem Ernährungssystem mit einfließen lassen. Weil, das wirkt alles zusammen und wirkt sich auf unsere Gesundheit aus.

Anna Christmann: Ich würde das gerne unterstützen. Im Medizinbereich, das habt ihr super ausgeführt, haben wir großen Nachholbedarf in Deutschland. Übrigens: Alles basierend auf der Datenschutzgrundverordnung, die wir in Europa haben. Die ist gar nicht das Problem. Dänemark, Estland, Finnland, andere Staaten sind einfach viel weiter als wir und haben genau die gleichen europäischen Rahmenbedingungen. Aber Daten gut nutzbar zu machen, ist in Deutschland noch ein Weg, den wir jetzt gehen müssen. Neben den medizinischen Beispielen gibt es auch ganz viele andere, wie den Klima- und Umweltbereich. Zum Beispiel ist es oft eine politisch riesige Debatte, wo wir ein Windkraftwerk hinstellen. Das kennen wir ja alles. Und wir entscheiden das dann nach politischen Gesichtspunkten. Dabei ist zum Beispiel die Frage: Wo stellt man eigentlich Windkrafträder idealerweise hin, damit die Netzauslastung insgesamt gut funktioniert? Das ist etwas, was man mittlerweile mit KI-Algorithmen ganz gut berechnen kann, wenn man ausreichend Daten über die Netzauslastung hat. Da ist dann immer die Frage: Wie häufig, zeitlich gesehen, kriegt man Daten zur Netzauslastung? Und wie genau regional herunterzubrechen sind die? Das ist ganz unterschiedlich, wie die zur Verfügung stehen und ob man solche Berechnungen machen kann. Diese Frage ist für die Energiewende total wichtig. Oder ein anderes praktisches Beispiel: Fahrradwege in der Stadt. Es gibt jetzt zunehmend Sensoren an Fahrrädern, die man anbringen kann. Und wenn man weiß, wo die Leute mit ihren Fahrrädern entlangfahren und wo Überholabstände von Autos nicht eingehalten werden können, ist das ein tolles Mittel für eine evidenzbasierte Radwege-Politik in einer Kommune. Also das sind relativ kleine, konkrete Beispiele, die auch keinem wehtun, und wo, glaube ich, auch gar nicht die Frage ist: Ist das datenschutzrechtlich problematisch? Sondern die Menschen wollen gerne diese Daten zur Verfügung stellen von ihren Radtouren und Ähnliches und das kann dann alles anonymisiert werden. Da besteht ein Riesenpotenzial, dank der Digitalisierung und der zunehmenden Fülle an Daten, um eine evidenzbasierte Politik auch zu machen, aber das braucht dann eben auch gute Daten - wir haben das im Wahlprogramm deswegen auch „Erneuerung braucht gute Daten“ genannt und dafür braucht es Infrastrukturen, auch Rechenleistung, gemeinsame Standards - das sind dann auch technische Fragen, die auf den Weg gebracht werden müssen. Aber ich hoffe sehr, dass wir das jetzt in den nächsten Jahren weiter verbessern, damit wir diese Daten dann einfach auch für die Klima- oder Gesundheitspolitik oder andere wichtige Bereiche nutzen können.

Paula Piechotta: Genau, und es braucht Datensicherheit, denn das sehen wir jetzt – um noch mal den Schwenk zur Medizin zurück zu machen: Patienten sind bereit, wenn sie den konkreten Nutzen kennen, ihre Daten der Forschung zur Verfügung zu stellen. Aber dann ist es natürlich ein Thema, wenn zunehmend Kliniken digitalen Hacks unterworfen sind, wenn Daten abgezogen werden und nicht sicher sind, und deswegen ist an der Stelle Datensicherheit unglaublich wichtig, damit diese gesellschaftliche Akzeptanz, die da ist, auch erhalten bleibt.

Tim Meyer: Dann würde ich das einmal zusammenfassen: Ja, es ist schwierig, aber wir haben eigentlich genug Daten, die man nur nutzen und verknüpfen muss.

Anna Christmann: Ja, wobei du das „nur“ streichen kannst - das ist nämlich gar keine triviale Aufgabe.

Tim Meyer: Nein, absolut. Das „nur“ war ein überflüssiges Füllwort. Okay, dann bedanke ich mich für eure Meinungen und Einschätzungen. Bevor ich dann jetzt noch ein paar Fragen habe, sollt ihr noch mal die Chance bekommen. Anna: Hast du an die beiden Neuen eine Frage? Wir schließen das Thema evidenzbasierte Politik jetzt erst mal ab und sprechen zum Schluss noch ein bisschen übers Ankommen. Was hast du für eine Frage an Paula und Hannes?

Anna Christmann: Ich glaube, das ist ja eine ganz spannende Zeit für euch - wenn ich an vor vier Jahren zurückdenke, war das für mich so. Und ich fand es immer ganz spannend, den Kontrast von dem, was man vorher gemacht hat, zu der Arbeitsweise, die einem dann im Bundestag blüht. Das würde mich bei euch interessieren. Beide wart ihr ja als Ärztin oder Arzt unterwegs, und das ist ja doch auch ein Job, der sehr energieintensiv ist, wo man irgendwie ständig unter Strom steht und einen ganz besonderen Alltag hat, der sich von vielen anderen Menschen unterscheidet. Und dann jetzt aber ein neuer Alltag im Bundestag, mit vielen Sitzungen, Gremien et cetera - es würde mich interessieren, wie ihr diesen Kontrast, diesen Rollenwechsel erlebt, quasi aus der Klinik in den Bundestag, das finde ich einen spannenden Kontrast.

Paula Piechotta: Hannes zuerst!

Johannes Wagner: Also, gute Frage. Was mir gerade auffällt, in den letzten Wochen – ich hoffe, dass das wieder ein bisschen besser wird –, ist, dass es mir damals im Krankenhaus noch so ging: Klar, es gab manchmal sehr schwere Fälle, bei denen man noch abends dasaß und dachte „Wow, krass, scheiße, das ist doof gelaufen, das ist gut gelaufen, oder das war sehr dramatisch und herzzerreißend“, gerade in der Kinderklinik. Trotzdem ist es mir eigentlich oft gelungen, am Abend oder Wochenende abzuschalten und so ein bisschen was anderes zu machen. Was mir jetzt gerade so ein bisschen schwerfällt, ist dieses Abschalten: Es ist gerade so viel, was passiert, vor allem mit Corona - das ist ein Thema, was mich sehr umtreibt. Ich komme ja aus Bayern und in Bayern ist die Lage auch sehr dramatisch, im Süden von Bayern, aber auch hier bei uns. Wir haben eine der niedrigsten Impfquoten in ganz Deutschland. Und da kommen ständig Informationen rein. Ich möchte einerseits alles verarbeiten, es aber auch weitergeben und irgendwie auch so ein bisschen mit aufklären; was gerade Sache ist, was notwendig wäre. Und das ist gerade etwas, mit dem ich noch Probleme habe: mit dieser dauerhaften Informationsflut und der dauerhaften Möglichkeit, sich irgendwie zu betätigen. Im Krankenhaus war ich in der Arbeit, am Abend war ich zu Hause und dann war es auch vorbei. Ich weiß nicht, wie es dir gerade damit geht, Paula? Das ist der größte Kontrast, die größte Veränderung, dass ich jetzt ständig irgendwas tun könnte oder müsste, gefühlt. Man hat vom Handy aus auf die E-Mails Zugriff, man hat die sozialen Medien, und das finde ich teilweise doch neu, auch anstrengend und bin gespannt, wie das in den nächsten vier Jahren weitergeht.

Paula Piechotta: Bei mir ist das ein bisschen anders als bei Johannes. Da ich schon den Facharzt gemacht habe, hatte ich schon ein bisschen mehr Büroarbeit zu erledigen, in der Klinik. Aber für mich ist der größte Unterschied: Wenn du Ärztin in der Klinik bist, finden dich prinzipiell fast alle Menschen erst mal gut und begegnen dir mit Respekt. Das ist jetzt anders, um es ganz kurz zu sagen. Einer der größten Vorteile ist, dass es in der Politik keine Nachtdienste gibt. Also die gibt es schon auch, aber nicht so, dass du schon drei Tage vorher denkst: „Oh nein.“ Es gibt aber auch unglaublich viele Parallelen. Sowohl die Klinik als auch der Bundestag sind unglaublich hierarchische Organisationen, viel hierarchischer als viele andere Wirtschaftszweige. In der Medizin ist der Frauenanteil ab einer bestimmten Ebene ähnlich gering wie in der Politik. Und auch dieser Punkt, dass viele Menschen unter den teils sehr großen Anforderungen zusammenbrechen, viel Alkohol trinken müssen oder Drogen nehmen, um mit der Situation klarzukommen – auch das ist eine Parallele zwischen Politik auf Bundesebene und großen Kliniken. Das finde ich schon spannend. Auch dieses In-Kontakt-Kommen mit allen möglichen Teilen der Gesellschaft. Also wenn du in der Notaufnahme bist oder wenn du CTs machst für Menschen, die gerade die Notaufnahme kommen: da kann dir jeder begegnen. Vom Menschen ohne Papiere und ohne Wohnsitz, der nicht Deutsch spricht, bis zum Uni-Prof, der abends zu Hause gestürzt ist. Und ähnlich ist es in der Politik, wo du auch mit unglaublich vielen verschiedenen Menschen in Kontakt kommst, und anders, als man es oft sagt, nicht so sehr in einer Bubble bist, zumindest, wenn du im Wahlkreis unterwegs bist. Diese Parallelen zwischen Medizin und Politik finde ich schon auch ziemlich spannend.

Tim Meyer: Und du wirst das auch beibehalten, Paula, oder?

Paula Piechotta: Ja, aber das ist sehr kompliziert.

Tim Meyer: Stimmt es, dass du weiter als Radiologin arbeiten willst? Hast du das wirklich vor?

Paula Piechotta: Ja, ich glaube, das ist unglaublich wichtig. Einerseits, weil gerade Ärztinnen, Ärzte und Pflegende viele Sachen sehen, die schieflaufen. Die haben aber auch so viel zu tun: das braucht viele Jahre, bis die so frustriert sind, dass sie sich mal bei der Politik melden. Und ich glaube, gerade, wenn neue Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen sind, kriegst du die viel schneller mit, wenn du vor Ort bist. Ich weiß nicht, Hannes … du kannst ja vielleicht gleich mal sagen, wie du das siehst. Ich glaube auch, was sehr viele im Politikbetrieb beschreiben: dass man relativ schnell zynisch wird, relativ schnell vergessen kann, warum man das überhaupt mal gemacht hat, was ist die eigene Motivationslage. Und ich glaube, dass man sich besser daran erinnert, wenn man noch Kontakt hat. Und das war für mich ein ganz wichtiger Grund, politisch tätig zu werden, – um halt irgendwas an diesen Arbeitsbedingungen zu ändern. Das Dritte ist, dass ich es immer gut finde, wenn Menschen unabhängig von Mandaten und Politik bleiben. Das ist natürlich einfacher, wenn du auch in deinem Job verankert bist. Aber das irgendwie hinzukriegen, ist natürlich super kompliziert.

Tim Meyer: Dann würde ich jetzt noch mal das Wort an Hannes geben. Hast du denn eine Frage an Anna als erfahrene Bundestagsabgeordnete?

Johannes Wagner: Meine größte Frage an die erfahrenen Menschen ist, wie sie mit Kompromissen umgehen. Das ist natürlich eine schwierige Frage, weil wir jetzt seit 16 Jahren zum ersten Mal wieder regieren werden – wahrscheinlich zumindest. Aber das ist ein Punkt auf Bundesebene, bei dem ich ganz gespannt wäre, wie man damit umgeht. Jetzt komme ich selbst aus der Fridays for Future und Health for Future Bewegung und sehe die Not, die so wahnsinnig groß ist; etwas zu tun fürs Klima, aber auch für ganz viele andere Dinge. Exemplarisch die Corona-Maßnahmen, aber auch die Situation in Belarus, mit den Geflüchteten an der Grenze, wo wir es nicht schaffen, von jetzt auf gleich eine andere Politik zu machen, weil wir noch zwei andere Partner:innen in der Koalition haben. Wie geht man damit um? Wie schafft man es, dass diese ständigen Kompromisse einen nicht zermürben? Das ist meine Hauptfrage und meine Haupt-Challenge für die nächste Zeit. Um noch ganz kurz auf Paula einzugehen: Ich hätte es auch spannend gefunden und hatte auch überlegt, weiter in der Klinik zu bleiben. Genau wie Paula sagt, bietet das viele Vorteile, das zu erleben, im Kontakt zu bleiben, mit Menschen aus Coburg, die hier verankert sind, die hier erleben, wie es in der Klinik läuft. Aber es ist für mich einfach organisatorisch nicht möglich gewesen, mit diesen Schichtdiensten und dann ein, zweimal im Monat dazuzukommen. Das war für mich ganz schwer praktikabel. Deswegen wird es leider erst mal nicht klappen. Aber ich finde es total wichtig und toll, wenn Paula das schafft und auch mir mitteilt, was in der Klinik bei ihr schiefgeht, damit wir zusammen daran arbeiten können.

Anna Christmann: Ja, dann würde ich vielleicht einmal auf die Kompromissfrage antworten. Mir geht es so: Ich bin ganz positiv gegenüber Kompromissen eingestellt, weil das heißt in der Regel, dass was vorangeht, dass man zumindest mal eine Lösung gefunden hat und dass etwas passiert und nicht, dass es Stillstand gibt. Ich habe in der letzten Wahlperiode selber viel in fraktionsübergreifenden Gremien gearbeitet - ich war zum Beispiel in einer Enquetekommission, die über Fraktionsgrenzen hinaus arbeitet, also eine besondere Form von Kommission, wo ja auch Expertinnen und Experten sind und dann ein gemeinsamer Bericht erstellt wird, indem man sich mit allen über den Inhalt einigt. Und ich habe das eigentlich als sehr positiven Prozess empfunden, weil es natürlich auch spannend ist, wenn man sich auf die Argumente der anderen einlässt und nicht immer mit der Erwartung hineingeht: „Ich habe aber eh recht, erzähl du mal, aber ich bleibe bei meiner Meinung.“ Sondern wirklich daraus ein Gespräch, eine Auseinandersetzung mit Argumenten entsteht. Das finde ich eigentlich spannend und wenn daraus ein Kompromiss kommt, finde ich das einen großen Erfolg und das ist, glaube ich, auch das Wesen unserer Demokratie, das ich gut mittragen kann. Für mich ist tatsächlich entscheidend, dass dieser Prozess auch wirklich vorher argumentativ läuft und es wirklich auch ein Stück weit eine offene Auseinandersetzung ist, und nicht nur ein: Jeder trägt sein Statement vor, das er sowieso schon die ganze Zeit in der Tasche hatte. Das habe ich im Bundestag ehrlich gesagt in meiner Anfangszeit eher als ein bisschen zermürbend erlebt - ihr habt jetzt ja noch keine Ausschusssitzungen gehabt, die kommen ja erst. Dort war ich, kann ich sagen, am Anfang ein bisschen enttäuscht, weil meine Erwartung an Ausschüsse höher war, weil man immer gesagt hat: „Das ist jetzt das Wesen des Parlaments, wo dann wirklich gearbeitet und miteinander diskutiert wird.“ Und ich glaube, da sind die Ausschüsse auch sehr unterschiedlich, aber ich fand die Debatte immer ein bisschen zu wenig offen und auch manchmal wie so eine kleine Plenarrunde, wo einfach jedes Statement vorgetragen wird und am Ende ja eben auch klar ist, welche Anträge abgelehnt und welche angenommen werden. Deswegen fand ich die Enquetekommission im Gegensatz dazu so spannend, weil dort eben eher eine inhaltliche Auseinandersetzung möglich war. Insofern würde ich sagen: Für mich ist nicht der Kompromiss die Schwierigkeit, sondern der Weg dahin, dass man es wirklich schafft, in eine offene Auseinandersetzung zu kommen - da fängt Politik wirklich an, Spaß zu machen und Sinn zu ergeben, weil man gemeinsam um die beste Lösung ringt, und ich hoffe, dass wir auch in einer Regierungskonstellation als Grüne zu so einer Auseinandersetzung beitragen können.

Johannes Wagner: Das klingt doch vielversprechend!

Paula Piechotta: Darf ich auch noch eine Frage stellen?

Tim Meyer: Natürlich darfst du noch eine Frage stellen.

Paula Piechotta: Ich stelle jetzt nicht die Frage, die gefühlt während der letzten Wochen am häufigsten kam, nämlich: „Wie schafft man es im Bundestag, irgendwie sein Gewicht zu halten?“ Das kam extrem oft. Abgesehen von dieser Frage würde ich noch fragen: Anna, wie hat dich der Bundestag in einer Art und Weise verändert hat, wie du es nicht hast kommen sehen? Oder gibt es da gar nichts?

Anna Christmann: Das finde ich eine wahnsinnig schwierige Frage, weil das vielleicht andere besser beurteilen können als man selber. Ich selber kann nicht sagen, dass ich das Gefühl habe, ich bin jetzt ein total anderer Mensch geworden, im Vergleich zu vorher. Ich meine, ich fand spannend, wie du es gesagt hast: dass es gut und wichtig ist, noch ein Bein in anderen Dingen zu behalten und möglichst viele Kontakte in nicht-politische Bereiche zu haben. Respekt für dein Vorhaben, deinen Beruf weiter auszuüben. Ich bin gespannt, wie sich das während der nächsten Jahre bei dir ergibt. Ich versuche das eher dadurch, möglichst viele Kontakte auch außerhalb von Grünen-Politiker:innen zu unterhalten, viel mit Menschen zu sprechen, die normalerweise nicht die Grünen wählen würden oder Ähnliches. Das ist etwas, was mir persönlich wichtig ist und was sicher auch eine Schwierigkeit ist … ob einem das immer so gut gelingt. Mein Eindruck ist schon: Je länger man dabei ist, desto mehr Zeit verbringt man natürlich auch in dem Laden hier. Das heißt, ich glaube, es bleibt eine Aufgabe, selber aktiv darauf zu achten und sich dann auch einmal herauszuziehen und zu sagen: „Na gut, jetzt sind da zwar 10 Gremiensitzungen, die alle ganz wichtig sind, aber es ist vielleicht trotzdem mal wichtiger, bei einer Veranstaltung dabei zu sein.“ Sei es nur, im Bekanntenkreis zu sein, der nichts mit grüner Politik zu tun hat, um diese Perspektive beizubehalten und mit in die eigene Arbeit zu nehmen. Diese Betriebsblindheit ist die größte Gefahr, die ich sehe. Vor der versuche ich mich auch etwas zu schützen. Aber das gelingt mir vermutlich immer nur teilweise.

Tim Meyer: Anna hat gerade gesagt, dass sie sich besonders auf Ausschüsse gefreut hatte, als die Herzkammern des Parlamentarismus. Was ist es denn bei euch beiden, Paula und Hannes? Worauf freut ihr euch ganz besonders? Vielleicht Paula zuerst?

Paula Piechotta: Wenn jetzt dann die Verhandlungen durch sind, abgesehen von der Arbeit in der eigenen Fraktion auch mit den Menschen über die Parteigrenzen hinweg, in der eigenen Region zusammenzuarbeiten – für die Region. Ich glaube, da ist extrem viel möglich. Das ist jetzt noch gar nicht groß gestartet, aber darauf freue ich mich sehr, weil man doch bei allen Differenzen, die man aufgrund der verschiedenen Parteien hat, in dieser zweiten Rolle nicht nur als Vertreterin der eigenen Partei, sondern auch als Vertreterin der Region ganz spannende, neue Allianzen schließen kann und für die eigenen Leute vor Ort Sachen herausholen kann.

Johannes Wagner: Ja, für mich war schon die Hoffnung und auch Erwartung, dass in den Ausschüssen ganz viel diskutiert wird und wir am Ende zu ganz vielen Kompromissen kommen, die im Gesundheitssektor viel bewirken - da ist ja nicht erst seit Corona ganz viel Not vorhanden: Arbeitsbedingungen, Finanzierungslücken und Demografie. Also das ist wirklich ein ganz ganz großes Thema, das glaube ich lange Zeit kein grünes Kernthema war, wobei wir auch mal eine Ministerin auf Bundesebene für Gesundheit hatten, aber trotzdem assoziieren viele Menschen nicht direkt mit uns Grünen. Und da glaube ich wirklich, eine Politik zu machen, die eben sehr sozial ist und natürlich auch Klimaaspekte berücksichtigt - also Krankenhäuser sind auch ein großer CO2-Emittent, auch die Pharmaindustrie und so weiter und so fort - aber trotzdem möchten wir dort ein System schaffen, das mit beiden Beinen auf dem Boden steht, das sich trägt, das nachhaltig ist - dazu hätte ich ganz viel Lust und freue mich darauf und habe ganz viel Hoffnung, dass wir das irgendwie schaffen. Aber die Herausforderungen sind auch riesig und natürlich hat es auch Potenziale für Frustrationen, genau wie die Klimapolitik teilweise, aber ich glaube trotzdem, dass wir das jetzt angehen müssen.

Tim Meyer: Dann bleibt mir nur noch der Dank an die Runde. Weiterhin alles Gute beim Ankommen für Paula und Johannes, und dir, Anna, natürlich viel Vergnügen beim Fortsetzen angefangener Projekte. Den heutigen Podcast zeichnen wir am 15. November auf, ausgestrahlt wird er am 17. November. Wir senden nicht aus unserem Studio im Bundestag, sondern haben uns von verschiedenen Orten aus zusammengeschaltet. Bitte entschuldigt, wenn die Tonqualität nicht ganz perfekt ist. Wenn ihr Lob, Kritik oder Fragen loswerden wollt, schreibt uns gerne an podcast@gruene-bundestag.de. Und wenn ihr darüber informiert bleiben wollt, was wir im Bundestag noch alles machen, schaut auf unsere Webseite gruene-bundestag.de, oder folgt uns in den sozialen Netzwerken auf Instagram, Twitter und Facebook. Schaltet gerne beim nächsten Mal wieder ein, wenn unsere Neuen auf die erfahreneren Abgeordneten treffen und gemeinsam ins Gespräch kommen. Vielen Dank fürs Zuhören, macht's gut und bleibt gesund.

Tim Meyer: Und vielen Dank euch. Macht's gut!

Paula Piechotta: Tschüss.

Johannes Wagner: Danke, macht's gut.

Anna Christmann: Danke.

Intro/Outro: Uns geht's ums Ganze. Der Podcast der grünen Bundestagsfraktion.


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