Maut-Desaster macht Scheuer untragbar

- Verkehrsminister Andreas Scheuer hat sich vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) Maut in wenig glaubwürdige Erinnerungslücken geflüchtet. Der Verdacht, dass er das Parlament belogen hat, wurde sogar erhärtet.
- Wir Grüne im Bundestag haben eine Aktuelle Stunde beantragt, um die Aussagen Scheuers im Plenum des Bundestages zu debattieren.
- Seit Januar 2020 tagt der PUA in jeder Sitzungswoche mit dem Ziel, das Fiasko der gescheiterten Pkw-Maut aufzuklären. Immer deutlicher wird, dass der Minister mit zahlreichen Rechtsverstößen versucht hat, wider besseren Wissens das Projekt Pkw-Maut durchzusetzen.
Ein Minister mit Anstand wäre längst zurückgetreten.
Verkehrsminister Andreas Scheuer gerät durch die Zeugenbefragungen im PUA Maut immer stärker unter Druck. Drei Spitzenvertreter des Maut-Bieterkonsortiums bestätigten unabhängig voneinander, dass es von ihrer Seite am 29. November 2018 das Angebot an den Minister gab, mit der Vertragsunterzeichnung bis nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu warten - das hätte dem Steuerzahler viele Millionen Euro erspart.
Scheuer lehnte das strikt ab, er wollte das Projekt unbedingt durchdrücken. Unter strafbewehrter Wahrheitspflicht schilderten die als Zeugen geladenen Spitzenvertreter ohne Widersprüche alle Einzelheiten der beiden wichtigen Gespräche mit Scheuer - es gibt keinen vernünftigen Grund, an ihrer Aussage zu zweifeln. Für das laufende Schiedsverfahren zwischen Mautfirmen und Bund wegen Schadensersatz spielt dieser Vorschlag keine Rolle.
Unglaubwürdige Erinnerungslücken
Bemerkenswert ist, dass Scheuer im Ausschuss viele Details der Gespräche mit den Vertretern des Bieterkonsortiums bestätigte. Allein an den Vorschlag, die Vertragsunterzeichnung zu verschieben bis Rechtssicherheit bestünde, konnte er sich nicht erinnern.
Auch sein eilig herbei zitierter Staatssekretär Schulz konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Er wirkte allerdings dermaßen nervös, dass kein Amtsrichter ihm geglaubt hätte.
Offensichtlich belog Scheuer auch die Abgeordneten im Bundestag, als er im Parlament sagte, es hätte kein Angebot zum Aufschub der Unterzeichnung gegeben.
Ein Minister, der unter Verstößen gegen Vergabe- und Haushaltsrecht ein europarechtswidriges CSU-Projekt in aller Eile durchzuziehen versucht, dann das Parlament belügt und im Ausschuss Blackouts vortäuscht, ist untragbar.
Erkenntnisse aus den vorherigen PUA-Sitzungen
Seit Januar 2020 tagt in jeder Sitzungswoche der Untersuchungsausschuss, hört Expert*innen an und befragt Zeuginnen und Zeugen:
Rechtsgutachter*innen stellten heraus, dass ein rechtliches Scheitern der Ausländer-Maut deutlich wahrscheinlicher war als die vom Verkehrsministerium (BMVI) angegebenen „15 Prozent“ – nach Einschätzung von Prof. Dr. Mayer (Universität Bielefeld) lag das Risiko des Scheiterns sogar bei 95 Prozent. Das Ende des Vertragsverletzungsverfahrens der EU-Kommission sei politisch begründet gewesen und hätte daher nicht als Indiz für die EU-Rechtskonformität gelten dürfen.
Der Bundesrechnungshof (BRH) bekräftigte, dass Verkehrsminister Scheuer entgegen seiner eigenen Darstellung nicht gezwungen gewesen sei, die Maut-Verträge zu unterschreiben, bevor das EuGH-Urteil feststand und damit Rechtssicherheit bestand – er hätte das Vergabeverfahren aussetzen können. Auch kritisierte der BRH, dass das Verkehrsministerium trotz mehrfacher Nachfragen keine Nachweise über die Bewertung eines negativen EuGH-Urteils mit nur 15 Prozent bewertete Risiko liefern kann.
Der Zeuge Dr. Peter Ramsauer (CSU), Verkehrsminister von 2009 bis 2013, versicherte, Ende 2013 als noch amtierender Minister als Ergebnis seiner Brüsseler Gespräche vor einem Maut-Konzept gewarnt zu haben, das ausschließlich ausländische Pkw-Halter*innen zur Kasse bittet. Ramsauer bestätigt, dass Andreas Scheuer (CSU), seinerseits Staatssekretär unter Ramsauer, über die Brüsseler Gespräche in Kenntnis gesetzt wurde und damit von Anfang an wusste, dass eine Ausländermaut europarechtlich nicht umsetzbar sein wird.
Beamte des Bundesverkehrs- und Bundesjustizministeriums berichteten, dass rechtliche Bedenken an den Mautgesetzen nicht beachtet wurden und sich die Linie entwickelte, das Maut-Gesetz solle „hingenommen“ werden, da offensichtlich alle Kritik, auch aus dem Innen- sowie dem Wirtschaftsministerium, an Bundesminister Dobrindt (Verkehrsminister 2013 – 2017) abprallte. Das von der CSU gesteuerte Verkehrsministerium verordnete damit einen Maulkorb für alle, die an der Pkw-Maut Skepsis vorbrachten.
Beamte des Bundesverkehrsministeriums bestätigten, dass zahlreiche sogenannte Aufklärungsgespräche mit dem Bieter Kapsch/CTS Eventim geführt wurden, um trotz des unwirtschaftlichen Angebots der Unternehmen einen Vertragsabschluss zu erwirken. Gesprächsbitten anderer Bieter*innen zur Abgabe von Angeboten wurden von der Leitung des BMVI aus vergaberechtlichen Gründen dagegen abgelehnt. Eine für die Integration von Toll Collect im BMVI zuständige Zeugin bestätigte, dass Toll Collect als Unterauftragnehmer des Betreibers von anderer Stelle – dem Bund, und damit dem Steuerzahler - Kostenerstattungen erhalten sollte. Hätte Toll Collect den Maut-Betreibern allerdings die wahren Kosten in Rechnung stellen dürfen, hätte dies den Kostenrahmen gesprengt, der dem BMVI haushaltsrechtlich bewilligt wurde.
Der ehemalige CSU-Parteivorsitzende Horst Seehofer, 2013 treibende Kraft für die Ausländer-Maut im Wahlprogramm der CSU, bekundete, dass er in all den Jahren keinerlei Ansagen in Richtung Dobrindt oder Scheuer gemacht habe und die jeweiligen Bundesverkehrsminister „in eigener Verantwortung“ die Vorgaben des Koalitionsvertrages umgesetzt hätten. Über die Warnungen des vormaligen Verkehrsministers Ramsauer während der Koalitionsverhandlungen 2009 sei Seehofer nach eigener Aussage überrascht gewesen und habe dessen „Motivation“ nicht nachvollziehen können. Für Seehofer selbst war es entscheidend, keine Wahlversprechen zu brechen.
Beamte aus der Vergabestelle des Verkehrsministeriums gaben an, dass es sich bei den Treffen mit Kapsch/CTS Eventim nach Abgabe des finalen Angebots nicht um Nach- sondern um „Neuverhandlungen“ gehandelt habe und dass es nicht nötig gewesen sei, alle potentiellen Bieter über Änderung von Leistungsanforderungen (Einräumung der Mitnutzungsmöglichkeit der Toll Collect-Zahlstellen) zu informieren.
Neue E-Mails, die dem Untersuchungsausschuss zunächst wegen eines „Büroversehens“ nicht zur Verfügung gestellt wurden, belegen, dass Verkehrsminister Scheuer die Ausländer-Maut nach dem Urteil des EuGH in eine „Umwelt-Maut“ umwandeln wollte – öffentlich warf er den Maut-Betreibern kurz nach Urteilsverkündung dagegen Betrug und Mängel bei der Vertragserfüllung vor. Das zeigt, dass Scheuer nicht nur politische Alternativen gehabt hätte. Ihm war auch bewusst, dass die Kündigung der Maut-Verträge voreilig war und berechtigte Schadensersatzforderungen der Betreiber bestehen.
Wann kommt für Scheuer die Stunde der Wahrheit?
Die „Ausländer-Maut“ der CSU zeigt eindrücklich, wie Stimmungsmache gegen Ausländer zum teuersten Scheitern eines verkehrspolitischen Projekts in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik geführt hat - und zwar mit Ansage. Am 01. Oktober 2020 kam es im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Zeugenbefragung von Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU).
Vor den Abgeordneten des Untersuchungsausschusses sollte Scheuer zu seinem Agieren bei der betrieblichen Vergabe der Maut Rede und Antwort stehen und auch erklären, mit welchen Mitteln das Bundesverkehrsministerium immer wieder Parlament und Öffentlichkeit glauben lassen wollte, die Maut sei auf einem guten und rechtlich einwandfreien Weg. Scheuer wird von zahlreichen Seiten vorgeworfen, die Risiken eines rechtlichen Scheiterns des Maut-Projekts fahrlässig ignoriert, gegen Vergaberecht verstoßen und Haushaltsrecht verletzt zu haben.
Stutzig macht, dass Verkehrsminister Scheuer seiner Pflicht, alle Vorgänge seines Amtes im Zusammenhang mit der Pkw-Maut offenzulegen, nicht nachkommt, obwohl er gegenüber dem Untersuchungsausschuss eine Vollständigkeitserklärung abgegeben hat. Diese besagt, dass er den Abgeordneten alle Unterlagen, Informationen und Daten zum Handeln des Verkehrsministeriums und seines eigenen Agierens zur Verfügung stellen muss.
Jetzt steht aber im Raum, dass Scheuer verdeckte E-Mail-Kanäle außerhalb des Amtes genutzt hat, um seinen Maut-Deal zu erreichen. Persönliche Treffen zwischen dem Minister und Anbietern wurden nicht protokolliert – ein für die Bundesregierung ungehöriger und äußerst verdächtiger Vorgang. Alle angefallenen Handydaten von Minister Scheuer und seinen Staatssekretären wurden gelöscht - einige davon sogar erst zu einer Zeit, als bereits klar war, dass es einen Untersuchungsausschuss zur Pkw-Maut geben wird.
Die für das Maut-Debakel politisch verantwortlichen Parteivorsitzenden und Minister schieben sich im Untersuchungsausschuss bislang gegenseitig die Verantwortung zu und wiegeln ab – eigene politische Fehler und juristische Fehleinschätzungen gibt bislang niemand zu. Dadurch offenbart sich hinter dem Maut-Desaster der eigentliche und größere Skandal. Populisten beugen die Regeln des Rechtstaats, wenn es den eigenen Interessen dient, versagen jedoch darin, gute politische Lösungen zu schmieden, die das Land tatsächlich voranbringen. Das ganze Theater um die CSU-Maut hat Deutschland bei der wichtigen Fragen der künftigen Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur um keinen Meter Straße und keinen Meter Schiene vorangebracht.
Das CSU-Prestigeprojekt „Ausländer-Maut“ ist politisch grandios gescheitert. Aufgabe des Parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag ist es aufzuklären, welche Fehleinschätzungen und Verfehlungen die Verkehrsminister Dobrindt und Scheuer zu verantworten haben. Scheuer wird auch erklären müssen, wieso er auf diese Weise Steuergelder in Höhe mehrerer hundert Millionen Euro in den Sand gesetzt hat. Er steht im Verdacht, getrickst, getäuscht und gezockt zu haben – und zwar auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger, allein im Interesse seiner Partei.
Nach der Vernehmung von Scheuer sollen im Rahmen des Parlamentarischen Untersuchungsausschuss auch führende Beamte der EU-Kommission, die Geschäftsführer von Toll Collect, die Spitze der beteiligten Unternehmen Kapsch und CTS Eventim, der ehemalige Verkehrsminister und jetzige Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, vorgeladen werden, bevor im Frühjahr 2021 die Beweisaufnahme mit einer weiteren Befragung von Verkehrsminister Scheuer abgeschlossen werden soll.
Rückblick
Wie kam es vom Bayernplan über den Koalitionsvertrag im Bund zu diesem großen Skandal? Welche Rolle spielte der frühere Bundesverkehrsminister Dobrindt (CSU)? Warum wurde der Rat von Expert*innen ignoriert? War die geplante Maut überhaupt vereinbar mit EU-Recht? Wie seriös war die finanzielle Kalkulation? Diese und weitere Fragen beantwortet unser Rückblick im weiteren Verlauf der Seite (bitte aufklappen).
Die lange Genese eines großen Skandals
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Die Idee der CSU, eine Pkw-Maut für Ausländerinnen und Ausländer einzuführen, reicht lange zurück. Vor allem im Süden Deutschlands kennen viele Autofahrer die Pflicht, in den Nachbarländern Schweiz und Österreich ein Pickerl kaufen zu müssen, um auf den dortigen Autobahnen fahren zu dürfen. CSU-Politiker haben es immer als Ungerechtigkeit hingestellt, dass alle Bayern etwa in Österreich eine Autobahn-Maut entrichten müssen, während Österreicher in Deutschland nicht zur Kasse gebeten werden. Dass in Deutschland im Unterschied zur Schweiz und Österreich grundsätzlich unterschiedliche Systeme der Infrastrukturfinanzierung bestehen, hat die CSU dabei ausgeblendet. Dort werden alle Nutzerinnen und Nutzer, also auch einheimische Autofahrerinnen und Autofahrer, in die Nutzerfinanzierung einbezogen – und zwar ohne Kompensation durch Steuerrückerstattungen. Und mit den auf der Straße erzielten Einnahmen treiben Österreich und die Schweiz auch den Ausbau des Schienenverkehrs gezielt voran – ein echtes Erfolgsmodell.
Der CSU ging es weniger um nachhaltige Finanzierung der Verkehrsnetze, als um spontane Stimmungsmache gegen Ausländer. Der damalige CSU-Chef Horst Seehofer holte 2013 die Wahlkampfforderung einer „Ausländer-Maut“ hervor, um im bayerischen Landtags- und Bundestagswahlkampf Stimmung zu machen und Wählerinnen und Wähler für die CSU zu mobilisieren. Der tiefe Griff in die Populismus-Kiste sollte der CSU die Mehrheit sichern.