Rede von Dr. Anna Lührmann 20 Jahre EU-Osterweiterung

Anna Lührmann
25.04.2024

Dr. Anna Lührmann, Staatsministerin im Auswärtigen Amt:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fast genau 20 Jahren, am 1. Mai 2004, stand ich mit einer Europaflagge in der Hand mitten in einer euphorischen Menschenmenge. Ich stand auf der Oderbrücke zwischen Frankfurt und Słubice. Pünktlich um Mitternacht eröffneten der damalige Außenminister Fischer und sein polnischer Amtskollege Cimoszewicz die Grenze zwischen Polen und Deutschland. Zeitgleich feierten Hunderttausende Menschen in ganz Europa diesen bedeutenden Tag, nämlich den Beitritt der zehn neuen EU-Mitglieder Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Zypern und Malta. In dieser Nacht wuchs die EU von 15 auf 25 Mitglieder. Rumänien, Bulgarien und Kroatien folgten wenig später. Wenn ich an diesen 1. Mai 2004 denke, kriege ich immer noch ein bisschen Gänsehaut. Ich werde diesen Tag nie vergessen, und, ich glaube, so geht es Millionen Europäerinnen und Europäern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, die EU-Erweiterung ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Die neuen Mitgliedstaaten haben seit ihrem Beitritt enorm an Wirtschaftskraft hinzugewonnen.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Falsch!)

In Tschechien zum Beispiel hat sich das Bruttoinlandsprodukt nach 20 Jahren EU-Mitgliedschaft fast verdreifacht.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: 20 Jahre!)

Litauen hat seine Wirtschaftskraft pro Kopf im gleichen Zeitraum sogar vervierfacht. Unzählige Menschen haben seitdem über offene Grenzen hinweg Unternehmen aufgebaut, Familien gegründet, Freundschaften geschlossen. Was lernen wir aus dieser Erfolgsgeschichte? Mut zahlt sich aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Es ist ja nicht so, dass die EU-Erweiterung von Anfang an von allen bejubelt wurde; ich höre hier immer noch skeptische Rufe. Zu groß seien die wirtschaftlichen Rückstände der Beitrittsländer. Viele befürchteten, dass die Zuwanderung von Arbeitskräften zu Niedriglohn und Arbeitslosigkeit führen würde. Das hat sich alles nicht bewahrheitet, meine Damen und Herren. Im Gegenteil: Heute sind drei Viertel der EU-Bürgerinnen und -Bürger davon überzeugt, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert. In den neuen Mitgliedstaaten fühlen sich 80 Prozent der Menschen als EU-Bürgerinnen und -Bürger.

Rückblickend muss man wirklich sagen: Der politische Mut, die EU-Erweiterung voranzutreiben, hat sich ausgezahlt. Meine Damen und Herren, die EU-Erweiterung ist eine Erfolgsgeschichte, und diese Erfolgsgeschichte wollen wir jetzt fortschreiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Denn es ist klar: Auch die Zukunft der Ukraine, die Zukunft Moldaus, die Zukunft der Länder des westlichen Balkans und auch Georgiens liegt in der EU.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Ja, der ganzen Welt!)

Für die Menschen in diesen Ländern ist die EU ein Versprechen, ein Versprechen auf ein Leben in Freiheit, ein Versprechen auf ein Leben in Frieden und in Sicherheit. Dieses Versprechen müssen wir einlösen. Wir dürfen uns nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen, während Putin versucht, unsere Nachbarschaft zu destabilisieren. Denn die Erweiterung ist nicht nur gut für die Menschen in den neuen Mitgliedsländern, in den künftigen Mitgliedsländern, sondern sie ist auch in unserem ureigensten Interesse. Wenn unsere Nachbarschaft sicher und stabil ist, dann werden wir alle sicherer und alle stabiler.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Denn es ist klar – und das sage ich hier auch noch mal deutlich –: Der europäische Traum ist Putins Albtraum.

(Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: So ist es!)

Gleichzeitig müssen wir aber auch festhalten: Eine größere EU ist nicht automatisch auch eine stärkere EU. Um ihre Handlungsfähigkeit zu verbessern, müssen wir die EU reformieren. Dafür braucht es jetzt im Juni einen ambitionierten Fahrplan für Reformen. Die Erweiterung und die Reformen müssen wir dann parallel vorantreiben.

Meine Damen und Herren, als der Deutsche Bundestag den Beitritt im Jahr 2003 ratifizierte, sagte Wolfgang Schäuble einen sehr schönen Satz. Er sagte: „Die neuen Mitglieder in der Europäischen Union werden nicht erst jetzt Europäer, sie sind es immer gewesen.“ In Anlehnung daran möchte ich mit Blick auf die kommende Erweiterung heute sagen: Die zukünftigen Mitglieder der Europäischen Union, die Menschen auf dem westlichen Balkan, in der Ukraine, in Moldau und in Georgien, sie werden nicht erst mit dem EU-Beitritt Europäerinnen und Europäer, sie sind es schon immer gewesen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Am 1. Mai dieses Jahres können wir also auf eine 20-jährige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Lassen Sie uns gemeinsam diese Erfolgsgeschichte der EU-Erweiterung fortschreiben und fortführen. Lassen Sie uns Europa größer und stärker machen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Präsidentin Bärbel Bas:

Als Nächste hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion Patricia Lips.

(Beifall bei der CDU/CSU)