Rede von Jürgen Trittin 75 Jahre Marshall-Plan

Foto von Jürgen Trittin MdB
31.03.2023

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Sevim Dağdelen, Sie sollten schon dazusagen, dass die amerikanische Unabhängigkeit unter Führung von Herrn Steuben mit Waffengewalt gegen die Briten erkämpft worden ist.

(Beifall bei der FDP – Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Guter Punkt!)

Ich finde es – entschuldigen Sie, dass ich das so sage – ein bisschen unlogisch, wenn man sich auf der einen Seite zu Recht dafür bedankt, dass wir von den USA vom Faschismus befreit worden sind, aber gleichzeitig die Anwesenheit von US-Truppen, also von Verbündeten, an dieser Stelle als Besatzung denunziert.

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Ja!)

Es ist genau andersherum: Es ist ein historischer Fortschritt, dass die Staaten Europas und die Vereinigten Staaten Sicherheitspolitik und auch Verteidigungspolitik nicht mehr national organisieren, sondern multilateral, und das Format für den Multilateralismus ist die NATO. Ich finde, das ist eine der Lehren, die wir aus der großen Tat der alliierten Truppen, uns befreit zu haben, gezogen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

In der Tat, lieber Kollege Wadephul, es ist ein feierlicher Moment. Aber warum verhalten Sie sich denn so unfeierlich?

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Lesen Sie doch mal unseren Antrag!)

Warum sind Sie nicht bei einem fraktionsübergreifenden Antrag dabei, sondern lassen sich von Ihrem 5-Prozent-Verbündeten erpressen, nichts mehr gemeinsam mit der Regierung zu machen? Das ist doch kleinteilig vor dem Hintergrund einer solchen historischen Herausforderung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP – Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: So viel zum Thema „kleines Karo“, Herr Trittin! Das ist jetzt ganz kleines Karo! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ich würde sagen, diese Rede legen wir der Verfassungsbeschwerde bei!)

Ich glaube, dass wir aus dem Marshallplan einiges lernen könnten. Manche haben gesagt, das sei der Einstieg in den Kalten Krieg gewesen. Ja, das ist ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil ist: George C. Marshall hat damals schon bewiesen, dass Kooperation und Handel, gemeinsames Investieren kein Nullsummenspiel ist. Selbstverständlich war es das Geld der amerikanischen Steuerzahler – erhoben übrigens mit Steuersätzen, bei denen Florian Toncar heftig protestieren würde –,

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

das hier investiert wurde. Aber das war gut investiertes Geld. Das Geld hat dazu geführt, dass auf der einen Seite auch US-Unternehmen gewachsen sind. Auf der anderen Seite wurde die Grundlage für das gelegt, was hier später „Wirtschaftswunder“ genannt wurde. Aber noch wichtiger war: Die Rückkehr der Ökonomie in Europa war eine der Grundlagen dafür, dass wir die Europäische Union, ein gemeinsames Europa mit geschaffen haben. Auch das ist eine Lehre aus dem Aggressionskrieg des deutschen Faschismus: Wir haben in Europa eine Friedensordnung gebaut, in der Wirtschaft und Politik so verknüpft sind, dass kein Land innerhalb der Europäischen Union noch ein Interesse daran hat, gegen ein anderes Land Krieg zu führen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das sind die historischen Errungenschaften dieses Plans gewesen.

Natürlich hat es auch Krisen im Verhältnis gegeben. Während des Vietnamkriegs ist eine ganze Generation, angestiftet von Joan Baez und Jimi Hendrix, auf die Straße gegangen und musste sich von der Vätergeneration, die noch mit der Waffe in der Hand gegen die Amerikaner gekämpft hatte, als Antiamerikaner bezeichnen lassen. Ich habe mich immer gewundert: Warum sprach diese Generation so gut Englisch? Das hatte damit zu tun, dass viele wie ich jeden Tag American Forces Network gehört haben, weil da die richtige Musik gespielt wurde.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir hatten die Auseinandersetzung um den Irakkrieg; aber wir haben immer wieder zu einem Modus Vivendi zurückgefunden. Da zeigt sich, was Agnieszka Brugger bereits angesprochen hat: Es gibt keinen antagonistischen Widerspruch zwischen Interessen und Werten. Selbstverständlich können auch in Demokratien Völkerrechtsstraftaten, Kriegsverbrechen begangen werden. Aber Demokratien haben die Fähigkeit, aus diesen Fehlern zu lernen, sich zu verändern. Ein Beispiel dafür ist Robert McNamara, der während des Vietnamkrieges US-Verteidigungsminister war. Er hat später gesagt: „Das war ein fürchterlicher Irrtum“ und als Präsident der Weltbank jahrelang für eine gerechtere Weltordnung gearbeitet.

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Genau! Genau!)

In diesem Sinne glaube ich, dass die Lehre weiterhin aktuell ist. Wir arbeiten zurzeit in der Frage „Solidarität mit der Ukraine“ sehr gut mit den USA zusammen. Aber ich will eines sagen: Wir leben in einer multipolaren Welt. In dieser multipolaren Welt bedarf es der Zusammenarbeit. Es gibt so viele gemeinsame Interessen, so viele gemeinsame Werte, dass in dieser multipolaren Welt die transatlantische Partnerschaft eine der Säulen für die Sicherheit und den Wohlstand dieses Landes ist. Deswegen freuen wir uns auf die nächsten 75 Jahre.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Jürgen Hardt hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)