Rede von Omid Nouripour Aktuelle Lage in Syrien
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Anlass dieser Debatte ist der Einsatz von Chemiewaffen – wieder einmal – in Ghuta. Es gab mindestens 42 Tote und viele Verletzte. Das war ein weiterer Bruch der zivilisatorischen Decke. Jeder Einsatz von Chemiewaffen ist verheerend. Aber was wir dort erlebt haben, ist nur die Spitze des Eisberges. Es gibt täglich Anlässe, über Syrien zu debattieren:
Januar 2018: Einmarsch der Türkei in Afrin. Mindestens 150 000 Menschen sind vertrieben worden.
Seit Oktober 2017: systematische Zerstörung von Krankenhäusern in der Region Idlib durch Bombardements.
4. April 2017: Saringaseinsatz, sehr wahrscheinlich des syrischen Regimes auf Chan Schaichun, über 100 Tote.
2016 geben die Menschen in Madaya auf, nachdem sie über drei Jahre belagert und bombardiert worden waren.
Die Liste lässt sich endlos fortsetzen, und das alles trotz zahlreicher Beschlüsse des Sicherheitsrats, trotz zahlreicher angeblicher Waffenstillstände, trotz zahlreicher sogenannter Deeskalationszonen, trotz eines Deals, dass die Chemiewaffen in Syrien alle vernichtet werden müssen.
In diesem Zusammenhang, Frau Kollegin Wagenknecht, bin ich ein wenig verwirrt; denn es gab ein Moment des Ausgleichs. Es gab einen Moment, in dem die Amerikaner und die Russen miteinander vereinbart haben, die Chemiewaffen zu vernichten. Die Frage war, ob Deutschland einen Beitrag dazu leistet. Ihre Fraktion hat damals mehrheitlich mit Nein gestimmt. Dafür sind Sie sich ziemlich sicher in dem, was Sie hier sagen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Falsch! Glatte Lüge! Das stimmt nicht! Glatte Lüge!)
Ehrlich gesagt, gibt es ein paar Sachen, die mich sprachlos machen, zum Beispiel, dass man in ein Land fliegt, um sich nur in Palästen umzuschauen. Wenn man sich wirklich umschauen will, dann gibt es Idlib, Ghuta und einige andere Regionen.
Herr Gauland, Sie haben mit einem Satz so dermaßen recht. Sie haben wörtlich gesagt: Sie haben nicht den Schlüssel dafür, wie man aus Syrien wieder ein halbwegs menschenwürdiges Land machen kann. – Sie haben recht. Deshalb ist die Diskussion über die Rückkehr der Flüchtlinge nach Syrien so unfassbar absurd.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Genau deswegen ist es so unglaublich absurd, dass der Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern am 3. April dieses Jahres von einer Neubewertung der Sicherheitslage in Syrien spricht, damit man wieder rückführen könne. Das passt auf keine Kuhhaut.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was macht eigentlich die Bundesregierung? Die Bundesregierung sagt nach den Ereignissen in Duma: Es braucht eine Antwort. – Das ist richtig. Die Bundesregierung sagt, dass man sich an einem militärischen Einsatz nicht beteiligen würde. Das finden wir richtig. Die Bundesregierung sagt aber im Nachhinein, der Einsatz sei angemessen und notwendig gewesen, und das, obwohl es keine Belege und ehrlich gesagt auch keine Indizien dafür gibt, dass das Chemiewaffenarsenal Assads zerstört worden sei, und es eindeutig ist, dass das nicht abschreckend gewirkt hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es weitere Einsätze gibt, die völkerrechtlich keine Grundlage haben.
Kollege Lambsdorff, ich bin verwirrt. Sie haben gerade etwas Falsches zitiert. In UN-Resolution 2118 Ziffer 21 steht: Bei Verletzungen – dessen, was vorher steht und laufend passiert ist – würden die Vereinten Nationen Maßnahmen nach Kapitel VII „beschließen“ – nicht „ergreifen“. – Dieser Beschluss ist nicht gekommen. Deshalb gibt es keine völkerrechtliche Grundlage.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Wenn der Sicherheitsrat blockiert ist!)
– Ja, es ist richtig, dass der Sicherheitsrat blockiert ist. Ich wünschte mir das auch anders. Aber es stellt sich doch die Frage, warum die Bundesregierung das Thema nicht endlich in der Generalversammlung der Vereinten Nationen vorbringt, um dort wenigstens politisch einen Mehrheitsbeschluss herbeizuführen, um ein klares Signal zu setzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE])
Seit Samstag gibt es ganz viele Initiativen aus Deutschland. Es gibt neue politische Initiativen, es gibt Gedanken über neue Formate, man redet darüber, dass man die Machtverhältnisse anerkennen müsse. Alles richtig. Aber es stellt sich die Frage: Warum passierte das nicht vor dem Militärschlag? Wenn wir uns einig sind, dass Militäreinsätze eine Ultima Ratio sein müssen, dann muss man doch alles, was politisch geht, vorher machen, und nicht, nachdem die Waffen eingesetzt worden sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Man muss sich wirklich fragen, was diese Bundesregierung macht. Seit drei Monaten eskaliert die Lage in Ghuta maßgeblich, und es ist absehbar, dass es auch in Idlib oder an der Südfront weitergehen wird. Seit Oktober beispielsweise werden permanent die Krankenhäuser in Idlib bombardiert, allen voran im Januar und im Februar, vor allem durch Russland. Daraufhin haben Sie Gazprom North Stream 2 genehmigt. Da stellt sich die Frage, ob Sie wenigstens auf die Idee gekommen sind, das vielleicht an Bedingungen zu knüpfen, die irgendetwas mit der Lage in Syrien zu tun haben, zum Beispiel in Bezug auf den Einmarsch der Türkei in Afrin, der völkerrechtswidrig war.
Kollege Röttgen – er wird nachher möglicherweise auf viele Zitate antworten müssen – hat am 24. Januar im „Tagesspiegel“ gesagt:
Es handelt sich um eine völkerrechtswidrige Militärintervention in einem Nachbarstaat, von der sich Deutschland, die EU und die NATO distanzieren müssen.
Er hat einfach recht. Es stellt sich die Frage, warum die Bundesregierung das nicht tut. Und es stellt noch viel mehr die Frage, warum nach dem Einmarsch der Türkei noch Waffenlieferungen in Millionenhöhe an die Türkei genehmigt worden sind, obwohl der damalige Außenminister das ausgeschlossen hatte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Möglich wären zum Beispiel Sanktionen individueller Art gegen Kommandeure, die bei uns Urlaub machen. Das ist möglich. Es ist nicht so, dass wir wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen müssten und sagen müssten: Es ist nichts zu machen. – Dieser sogenannte neue Realismus darf doch nicht dazu führen, dass man passiv ist. Man muss vielmehr tun, was man kann. So langsam gewinnt man den Eindruck, dass diese Bundesregierung gar keine Zeit hat, sich mit der Lage in Syrien zu beschäftigen, weil sie mit Hochdruck daran arbeitet, wie man den Familiennachzug einschränken kann.
Weil die Situation in Idlib so fragil ist, weil die nächsten humanitären Notlagen absehbar sind und weil die Lage im Süden des Landes so unglaublich fragil ist – es ist ja richtig, dass eine Auseinandersetzung zwischen Israel und Iran täglich näher rückt –, ist es umso notwendiger, dass die Bundesregierung endlich Antworten gibt, und zwar nicht erst, wenn Chemiewaffen eingesetzt werden.
Herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)