Rede von Kai Gehring Aktuelle Stunde „Beschäftigte in der Wissenschaft“

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24.06.2021

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit und nicht mit dem Ausblenden der Wirklichkeit.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ah!)

Doch genau das macht Ministerin Karliczek. Sie lässt ein Video löschen, weil es ein Twitter-Gewitter über die prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft ausgelöst hat. Wie wäre es eigentlich damit, mehr gegen Kettenbefristungen und gegen die unsicheren Perspektiven für Forschende zu tun? Wir können doch nicht die Erfolge der Impfstoffforschung, von Nobelpreisen und Co hier feiern und dann die Grundlage des Ganzen vergessen: die alltägliche Arbeit, die Neugierde und Kreativität der Forscherinnen und Forscher, die Großartiges leisten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE])

Die heutige Misere war schon 2018 absehbar. Da schrieben Union und SPD ziemlich ambitionslos in den Koalitionsvertrag – Zitat –:

Wir wollen den wichtigen Weg für gute Arbeit … fortsetzen und die Evaluationsergebnisse der letzten Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes auswerten …

Das BMBF hat diese Evaluation dann so lange hinausgezögert, dass diese wichtigen Ergebnisse erst 2022 vorliegen.

(Nicole Gohlke [DIE LINKE]: So ist es!)

Dann hätten Sie auch gleich in den Koalitionsvertrag schreiben können: „Wir sitzen das aus.“ Das wäre zumindest ehrlich gewesen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE])

Jetzt hilft es auch nicht mehr, wenn in der letzten Sitzungswoche des Deutschen Bundestages die SPD-Fraktion ein Positionspapier dazu auflegt. Mit Ihrer Hinhaltetaktik in der Union und in der SPD haben Sie die Glaubwürdigkeit beim Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ systematisch verspielt. Unser Innovationsland braucht verlässliche Berufswege in der Wissenschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Seit Jahren fordern wir Grüne im Bundestag beharrlich, das WissZeitVG weiterzuentwickeln, um die Jobsicherheit in der Wissenschaft zu verbessern, und zwar ganz konkret: klare Regelungen für Familie und Pflege, damit Sorge für die Liebsten und wissenschaftliche Karriere endlich besser vereinbar wären; ausreichende Mindestvertragslaufzeiten, eine klare Definition des Qualifikationsbegriffs und ein Ende der Tarifsperre, um Wissenschaftstarifverträge zu ermöglichen.

Daueraufgaben müssen mit Dauerstellen gesichert werden. Wir brauchen deshalb endlich mehr unbefristete Berufswege neben der Professur und eine wirklich verantwortliche Personalentwicklung in den einzelnen Universitäten für frühere Rückmeldungen über realistische Karriereperspektiven. Vor allem brauchen wir eine auskömmliche Grundfinanzierung, damit wir wegkommen von der übergroßen Drittmittelabhängigkeit. Das Motto muss lauten: Dauerstellen statt Dauerbefristung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Dabei bitte ich nicht zu vergessen: Geforscht und gelehrt wird nicht nur an den Universitäten, sondern auch an Hochschulen für angewandte Wissenschaften. „Ich bin Hanna“ hört man von dort seltener, aber nicht, weil dort alles in Butter ist, sondern, weil der Mittelbau dort noch viel kleiner ist und die Arbeitsbedingungen oft noch viel unsicherer sind.

(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Systembedingt!)

Auch da müssen wir ran. Angela Dorn macht als grüne Ministerin in Hessen gerade vor, wie das geht.

Geben wir auch den Forschenden an Hochschulen für angewandte Wissenschaften endlich die Freiräume und Unterstützung, die sie verdient haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Ein zweiter Punkt, der nicht zu kurz kommen darf: Die Hochschulen bilden die Vielfalt unserer Gesellschaft noch lange nicht ab. Forschende mit Handicap, aus Arbeiterfamilien oder mit Migrationsgeschichte sind nach wie vor die Ausnahme, vor allem unter den Professorinnen und Professoren.

(Martin Reichardt [AfD]: Welche Arbeiterfamilie kennen Sie denn? Kennen Sie überhaupt eine?

Rektorinnen, Präsidentinnen, Frauen in Spitzenpositionen der Wissenschaft sind unterrepräsentiert. Das wollen wir ändern.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Wer hält Sie denn ab?)

Marginalisierte Gruppen twittern auch nicht so oft unter #IchBinHanna“. Aber wenn, dann berichten sie vor allem von den zusätzlichen Hürden, die sie überwinden müssen oder was sie letztlich sogar in den Abbruch treibt; denn auch in der Wissenschaft gibt es Frauenfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit und alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Auch damit finden wir Grüne im Bundestag uns nicht ab und wollen mehr Diversity in der Wissenschaft wagen; denn alle haben das Recht auf gleiche Chancen

(Zuruf von der AfD: Aber nicht auf gleiche Ergebnisse!)

und die gibt es nur mit Respekt und besten Arbeitsbedingungen für alle.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Excellence und Diversity gehören zusammen in Deutschland und international.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Nicht unbedingt!)

Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit und braucht Mut zur Veränderung.

(Martin Reichardt [AfD]: Diversity haben Sie ja, aber Excellence ist bei Ihrer Partei noch nicht angekommen!)

Diesen Geist würden wir uns ab September auch endlich wieder im BMBF wünschen. Wir wollen, dass mit Freiheit und Sicherheit besser geforscht werden kann, damit wir weniger Hannas und mehr Innovationen ernten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat Dr. Astrid Mannes für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)