Rede von Dr. Tobias Lindner Aktuelle Stunde "China"

Foto von Tobias Lindner MdB
30.11.2022

Dr. Tobias Lindner, Staatsminister im Auswärtigen Amt:

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der tragische Tod von zehn Menschen bei einem Wohnhausbrand in der nordwestchinesischen Stadt Ürümqi, die mutmaßlich starben, weil zur besseren Covid-Kontrolle wichtige Notausgänge verschlossen waren, hat eine Welle von Protestkundgebungen in China ausgelöst. Die Unzufriedenheit mit der Null-Covid-Politik der chinesischen Führung ist so groß, dass viele Menschen bereit sind, enorme Risiken auf sich zu nehmen, um ihre Meinung öffentlich zu äußern. Das zeigen die friedlichen Proteste in Peking, in Schanghai, in Wuhan und in vielen anderen chinesischen Städten seit dem vergangenen Wochenende.

Die Menschen in China, darunter viele junge Frauen, machen mit ihren Protesten von ihrem Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch, einem Recht, das wir in freien Gesellschaften wie der unsrigen oft als selbstverständlich erachten und zu dem sich China in seiner Verfassung – es ist bereits erwähnt worden – ebenfalls verpflichtet hat. Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass die immer willkürlicher werdende Durchsetzung der sogenannten Null-Covid-Politik nicht mehr von der Bevölkerung akzeptiert wird. Und sie zeigen auch, meine Damen und Herren, dass es den Menschen in China eben nicht egal ist, was in Xinjiang passiert. Die Solidarisierung zwischen Chinesinnen und Chinesen und den in Xinjiang unterdrückten Uiguren hat sich damit zum ersten Mal innerhalb Chinas öffentlich und für jeden sichtbar manifestiert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz besonders sticht mir dabei ins Auge, dass die Forderungen nach Lockerungen der Covid-Politik vielfach auch mit Forderungen nach politischem Wandel verbunden werden. Wir sehen einmal mehr, dass es in einer Gesellschaft eben nicht möglich ist, jede abweichende Meinung dauerhaft zu unterdrücken. Der Mut der Menschen in China, die es wagen, sich der allgegenwärtigen Überwachung, der Unterdrückung und den Einschüchterungsversuchen durch staatliche Stellen offen entgegenzustellen, verdient unseren Respekt und unsere Hochachtung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Wie leider zu erwarten war, hat die chinesische Führung mit repressiven Maßnahmen, mit Ausweitung der Internetzensur und mit massiver Einschüchterung der Bevölkerung auf diese Proteste reagiert. Wir appellieren daher an die chinesische Regierung, den Wunsch und das Recht der eigenen Bevölkerung nach freier Meinungsäußerung zu achten und sich mit ihren berechtigten Anliegen auseinanderzusetzen. Wir appellieren ferner an die chinesische Regierung, mehr zu tun, um die Freiheit der Presse zu schützen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die kurzzeitige Inhaftierung und Misshandlung eines Journalisten der BBC im Zusammenhang mit seiner Berichterstattung zu den Protesten in Schanghai sendet ein besorgniserregendes Zeichen in alle Welt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich hoffen wir, dass die chinesische Regierung auf die Anliegen der Protestierenden eingehen wird. Wir sehen erste Zeichen für gewisse, sehr vorsichtige Schritte in eine richtige Richtung bei der Anwendung der Null-Covid-Politik. So wurden beispielsweise bestehende bezirksweite Lockdowns in Kanton aufgehoben. Es soll dort keine weiteren Massentests mehr geben. Aber lassen Sie mich klar betonen: Es bleibt abzuwarten, ob dies von Dauer sein wird.

Die chinesische Regierung steht angesichts neuer Varianten, die ansteckender sind als die bisherigen, und stark zunehmender Fallzahlen vor einem Dilemma. Es fällt ihr immer schwerer, ihre gesundheitspolitischen Maßnahmen und die Belange ihrer Bevölkerung und der Wirtschaft in einen vernünftigen Ausgleich zu bringen. Und in diesem Kontext hat unser von Bundeskanzler Scholz gemachtes Angebot zur Zusammenarbeit bei mRNA-Impfungen in China eine herausragende Bedeutung. Die Bundesregierung bekennt sich zu diesem Angebot, und wir hoffen, dass China zügig auf unsere Vorschläge eingehen wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie wissen: Die Bundesregierung arbeitet unter der Federführung des Auswärtigen Amtes derzeit an einer umfassenden Strategie zum zukünftigen Umgang mit China. Wir wollen eine enger koordinierte, mehr an unseren und europäischen Werten und Interessen ausgerichtete China-Politik. Diese Werte und Interessen wollen wir effektiver als bisher verteidigen. Wir müssen daher unsere einseitigen Abhängigkeiten von China reduzieren und somit auch weniger verwundbar werden. Deswegen wollen wir unsere Instrumente der Außenwirtschaftsförderung konkret als Anreiz für Firmen einsetzen, um dort Diversifikation voranzutreiben. Wir schauen auch sehr genau bei ausländischen Investitionen hier in Deutschland hin.

Lassen Sie es mich klar sagen: Deutschland ist eine offene Marktwirtschaft, die Investitionen wünscht und fördert. Aber diese dürfen nicht unsere öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden. Wir haben vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine bitter lernen müssen, welche Folgen einseitige Abhängigkeiten für unsere Volkswirtschaft haben können. Meine Damen und Herren, wir werden unsere Lehren daraus ziehen, und wir werden diesen Fehler kein zweites Mal mehr begehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Gleichzeitig wollen wir uns nicht von China entkoppeln. Wo Dialog und Zusammenarbeit möglich sind, wollen wir diese fortsetzen, sei es in Politik und Wirtschaft, sei es in Wissenschaft und Kultur. Die Europäische Union definiert ihre Beziehungen zu China in einem Dreiklang: Partner, Konkurrent, systemischer Rivale. Wir müssen leider feststellen, dass die systemische Rivalität aktuell immer mehr Raum einnimmt, dass sie zum dominierenden Faktor wird. Vor diesem Hintergrund müssen wir dort, wo Partnerschaft richtig und wichtig ist, Partnerschaft auch entsprechend denken.

Wir sehen aktuell, dass es kein monolithisches China gibt, wie es uns chinesische Staatsmedien glauben machen wollen. Wir tun deshalb in unserer Strategie gut daran, auch weiterhin den Austausch mit chinesischen Partnerinnen und Partnern zu suchen. Lassen Sie mich betonen: Wir müssen uns mit dem China auseinandersetzen, wie wir es tatsächlich vorfinden, nicht mit dem, wie wir es uns wünschen oder wie wir es gerne hätten. Um den Bundeskanzler zu zitieren: „… wenn sich China verändert, muss sich auch unser Umgang mit China verändern.“

Klar ist: Wir wollen trotz aller Differenzen dort, wo wir China brauchen, in Zukunft zusammenarbeiten. Dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche Fragen. Dabei geht es um globale Fragen wie die Klimakrise, wie den Erhalt von Frieden und Sicherheit, wie den Schutz von natürlichen Lebensgrundlagen, wie die Nahrungsmittelsicherheit oder globale Gesundheitsfragen. Diese Herausforderungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir nicht ohne das bevölkerungsreichste Land der Erde als verantwortungsvollen Partner bewältigen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte hier noch einmal das Ergebnis der COP 27 in Erinnerung rufen. Es ist uns dort gelungen, eine Einigung bei dem schwierigen Thema „Loss and Damage“ zu erreichen,

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Aber ohne China!)

eine Einigung, die auch und gerade China als den mit Abstand größten Emittenten von CO2 verpflichtet, für die Bewältigung von Klimaschäden aufzukommen. Diese treffen oft die ärmsten und damit verletzlichsten Länder am stärksten. Deshalb ist es wichtig, dass die größten Verursacher auch in der Verantwortung stehen, die Folgen zu bekämpfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Das ist ein Schönreden!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Zusammenarbeit mit China ist somit weiterhin wichtig. Aber lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: Wir wollen eine Zusammenarbeit nach den Spielregeln und den Grundsätzen der internationalen regelbasierten Ordnung im Einklang mit unseren Interessen und unseren Werten.

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Aha!)

Und es entspricht unseren Werten, dass Kritik an der Regierung und das Recht auf freie Meinungsäußerung möglich sein müssen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD] – Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Ja, auch an dieser!)

Deshalb stehen wir heute solidarisch an der Seite aller Menschen, die ihre elementaren Grundrechte, auch und gerade das Recht auf freie Meinungsäußerung, wahrnehmen wollen – in China und weltweit.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne, einen schönen guten Nachmittag von meiner Seite!

Wir fahren jetzt in der Aktuellen Stunde fort mit der nächsten Rednerin: für die FDP-Fraktion Gyde Jensen.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)