Julian Pahlke MdB
21.09.2023

Julian Pahlke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Demokratinnen und Demokraten! Lassen Sie mich mal so beginnen: Wir alle, die hier in diesem Haus sitzen, sind gewählt worden, weil wir Verantwortung übernehmen wollten – für Menschen, für große Themen, die uns alle beschäftigen –, und natürlich auch, um Antworten zu geben, die – das liegt in der Natur der Sache – natürlich am Ende auch unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welche Partei man fragt, aber die sich am Ende immer an einem Grundsatz messen lassen müssen, nämlich dass sie dem Anspruch von Verantwortung genügen.

(Detlef Seif [CDU/CSU]: Genau! Verantwortung!)

Teil dieser Verantwortung ist eben auch, seine Worte abzuwägen, seine Ideen abzuwägen und sich ganz genau zu überlegen: Welche Folgen könnten meine Vorschläge haben? Wen treffe ich damit? Löst es Probleme, oder gehen davon möglicherweise auch Gefahren aus?

(Detlef Seif [CDU/CSU]: Ist die Belastungsgrenze überschritten?)

Ich habe in den letzten Tagen sehr, sehr genau bei all dem zugehört, was von Friedrich Merz und Markus Söder kam. Mich erinnert vieles davon, ehrlich gesagt, an 1992 und die hetzerischen Debatten.

(Lamya Kaddor [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

Damals brannten in Rostock-Lichtenhagen Häuser.

(Zuruf von der AfD: Damals waren Sie doch noch gar nicht geboren! – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der AfD – Zurufe von der CDU/CSU)

Die Brandanschläge wurden von Rechtsextremen verübt, die die politischen Äußerungen von Konservativen in Taten verwandelt haben.

Es waren brennende Häuser, in denen schutzsuchende Menschen wohnten. Daraus muss man, ehrlich gesagt, einen Schluss ziehen, nämlich dass nicht nur unsere Stimme hier als Abgeordnete mit Macht einhergeht, sondern auch unsere Worte dies tun.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU])

Jedes weitere Verrutschen des Diskurses in der Findungsphase von Friedrich Merz ist am Ende eine Gefahr für die Demokratie. Ich habe sehr genau zugehört, was der Kollege Philipp Amthor gesagt hat, als er Geflüchtete als eine größere Gefahr als die AfD bezeichnet hat.

(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Nein, Ihre Politik! Ihre Politik und nicht die Flüchtlinge!)

Auch solche Sätze werden in die Debatte einfließen und einsickern und den Diskurs nach rechts verschieben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stephan Thomae [FDP])

Ich habe auch ganz genau beim Vorschlag von Markus Söder und anderen zugehört, eine Obergrenze für Flüchtlinge einzuführen. Man muss das auch mal in die Praxis übersetzen. Denken Sie das mal zu Ende, was Sie da eigentlich am Ende reden.

(Jörn König [AfD]: Haben wir schon!)

Wenn nämlich ernsthaft 200 000 Menschen gekommen sind und eine Person mehr an der Grenze steht: Was passiert dann? Haben Sie diese Frage mal zu Ende gedacht?

Ich versuche mal, eine Antwort zu geben: Das würde bedeuten, dass an den Grenzen Gewalt angewendet werden müsste, reale Gewalt, vielleicht mit der Waffe, vielleicht dadurch, dass Sie Presse und andere davon fernhalten müssen.

(Jörn König [AfD]: Das mit der realen Gewalt machen die Eritreer auch so bei uns! – Gegenruf der Abg. Lamya Kaddor [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist Ihre Antwort darauf?)

Das ist eine reale Folge Ihres Vorschlages. Ob sich Markus Söder das für sich zu Ende überlegt hat? Keine Ahnung. Aber ich stelle fest, dass ihm die vielen Bierzelte auf jeden Fall nicht besonders guttun.

Ich habe gestern als Mitglied im Innenausschuss ebenfalls das Schreiben bekommen. Ich habe den Eindruck, dass das viele hier gelesen haben. Die Gewerkschaft der Polizei hat nämlich mal zusammengestellt, was Grenzkontrollen eigentlich für ein fataler Unsinn sind, personell völliger Wahnsinn! Durch Binnengrenzkontrollen macht sich nicht eine Person weniger auf die Flucht,

(Jörn König [AfD]: Machen aber über 200 Länder der Welt, diesen Wahnsinn!)

und Zurückweisungen an der Grenze sind selbstverständlich nicht erlaubt. Und auch das wurde der Vollständigkeit halber noch einmal aufgenommen.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Falsch! Falsch!)

Den Menschen in Bayern geht das Warten an den Grenzübergängen ohnehin seit Jahren tierisch auf die Nerven. Geflüchtete sind nicht das Problem für die miesen Umfrageergebnisse der CSU. Das Problem für sich ist Markus Söder immer noch selber.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist diese Faktenbefreiung als politisches Konzept ein Irrweg, auf dem Sie sich befinden. Ich wünsche Markus Söder eine gute Reise an den rechten Rand.

(Dr. Silke Launert [CDU/CSU]: Sie haben nichts verstanden! Nichts!)

Ich bin den Kommunen und den Landkreisen dankbar, dass sie gerade in dieser schwierigen Situation die Lage in diesem Land so gut meistern. Denn wer zu uns flieht, der sollte nicht an der Grenze mit Gewalt abgewiesen oder mit Sachleistungen abgespeist werden.

Übrigens kommen in den Kommunen von den Menschen, die auf unsere Unterstützung angewiesen sind, über 80 Prozent aus der Ukraine, aus Syrien und Afghanistan. Diese Menschen sind für uns doch kein Problem, auch weil wir pro Jahr über 400 000 Menschen brauchen, die zu uns kommen.

(Lachen bei der CDU/CSU – Detlef Seif [CDU/CSU]: Genau die!)

Das Konsequenteste ist, das Ankommen zu erleichtern und diesen Menschen eine Arbeitserlaubnis zu erteilen. Das Beratungsinstitut McKinsey hat vor ein paar Tagen festgestellt: Der deutschen Wirtschaft gehen 100 Milliarden Euro verloren, weil die Integration und die Teilnahme am Arbeitsleben eben noch nicht so funktioniert, wie sie sollte.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ja! Überlegen Sie sich mal den Grund!)

Folgendes ist für mich ein Grundsatz politischer Verantwortung:

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Wie kann man nur so ignorant sein?)

Es geht bei all den Debatten um Grenzkontrollen oder mehr Abschottung oder weniger Geflüchtete immer um Menschen. Ich war in den letzten Jahren mehrere Male auf dem Mittelmeer: Ich habe gesehen, was für Menschen dort fliehen, und ich habe gesehen, wie Menschen ertrinken. Wir haben versucht, zu retten, wer zu retten war, und wir mussten die Entscheidung treffen, Hunderte zurückzulassen.

Ich kann Ihnen sagen: Der Geruch einer Wasserleiche wird mir mein Leben lang nicht aus dem Kopf gehen. Es war eine junge Frau, die einige Tage vorher ertrunken ist. Alles, was von ihr blieb, war ein anonymer Leichensack.

(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Das ist die Realität von Flucht in aller Härte. Aber was für mich zur politischen und gerade zur konservativen Verantwortung gehört, ist,

(Zuruf von der AfD: Pushback! – Detlef Seif [CDU/CSU]: ... die Pull-Effekte vermeiden und eine bessere Politik zu machen!)

dass Politik immer empathiefähig bleiben muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Julian Pahlke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Deshalb mache ich mir im Jahr 2023 ernsthafte Sorgen, –

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Herr Pahlke, bitte letzter Satz.

Julian Pahlke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

– dass wir ein Rostock-Lichtenhagen erneut erleben könnten.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Simone Borchardt [CDU/CSU]: Voll schwachsinnig!)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Für die FDP-Fraktion hat das Wort Dr. Ann-Veruschka Jurisch.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)