Rede von Claudia Roth Aktuelle Stunde „Menschenrechte in der Türkei“

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24.03.2021

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter, lieber Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie hält die ganze Welt in Atem, überall kämpfen Menschen ums Überleben. Aber wir erleben noch eine andere Pandemie: die Gewalt- und Autoritarismuspandemie, wenn Autokraten und Diktatoren im Windschatten von Covid die elementarsten Menschen- und Freiheitsrechte mit Füßen treten. Und genau das passiert in der Türkei: eine Welle von Repressionen, die Entrechtung des Rechts, der Angriff auf die letzten mickrigen Reste von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einem von Erdogan zerrissenen Land.

Der Austritt aus der Istanbul-Konvention, vor zehn Jahren in Istanbul verabschiedet, ist im allerbittersten Wortsinn ein Schlag ins Gesicht der Frauen in der Türkei – einem Land, das mit an der blutigen Spitze der Femizide steht, und in dem, wie Amnesty International aufzeigt, im vergangenen Jahr 474 Frauen ermordet wurden; einem Land, in dem die Gewalt an und der Hass gegen Frauen brutaler Alltag sind.

Recep Tayyip Erdogan sei gesagt: Gewalt gegen Frauen ist kein Kavaliersdelikt!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Gewalt gegen Frauen ist kein Männervorrecht! Gewalt gegen Frauen ist keine Privatangelegenheit! Sie geht uns alle an, und deswegen stehen wir an der Seite der vielen, vielen mutigen Frauen, die sich gegen diese patriarchale Gewaltdominanz und gegen das unterdrückerische Frauenbild der Islamisten in der AKP wehren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Genauso geht uns das Verbotsverfahren gegen die kurdisch geprägte HDP, die drittgrößte Partei, etwas an; denn es ist der Versuch Erdogans, die Opposition zu spalten, die Mitglieder, aber auch Millionen von Wählerinnen und Wählern der HDP, zu kriminalisieren und damit seinem faschistischen Koalitionspartner, der MHP, entgegenzukommen.

Wir stehen an der Seite der demokratischen Opposition, an der Seite von Künstlerinnen und Künstlern, Journalistinnen und Journalisten und der Zivilgesellschaft. Und wir vergessen sie nicht: Osman Kavala, Ahmed Altan, Selahattin Demirtas, Figen Yüksekdag, Eren Keskin, Ömer Gergerlioglu – stellvertretend für all die Frauen und Männer in türkischen Gefängnissen, die dort einsitzen wegen einer zur Strafverfolgungsbehörde des Präsidenten verkommenen Justiz.

All das geht uns sehr wohl etwas an,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

wie auch die Enteignung und die ideologische Einverleibung des Gezi-Parks, des wohl symbolträchtigsten Platzes der proeuropäischen, der demokratischen Türkei. Es geht uns etwas an; denn wir haben engste, jahrzehntelange Verbindungen in die und mit der Türkei durch unsere gemeinsame 60-jährige Migrationsgeschichte – Verbindungen mit dem NATO-Partner und dem EU-Beitrittskandidaten.

Daraus erwächst Verantwortung: Verantwortung für verantwortungsvolle Politik, nicht aber dafür, das schmutzige Spiel Erdogans mitzuspielen, der von einem „Menschenrechtsplan“ redet und ein „Reset“ in der Beziehung zur EU ankündigt. Wie zynisch ist das denn?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Und wenn Heiko Maas beschönigend von Licht und Schatten spricht, dann frage ich mich: Wo, bitte schön, ist denn das Licht? Wenn die EU jetzt mit Ursula von der Leyen ihre Aufwartung bei Erdogan machen will, der im Mittelmeer, in Syrien, im Nordirak aggressive Außenpolitik betreibt, dann ist das ein Hohn und verrät und enttäuscht alle Erwartungen der Demokratinnen und Demokraten an uns.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Es ist mir unbegreiflich, worauf der Optimismus von EU und Bundesregierung fußten. Schließlich entbehrt der massive autokratische Umbau der Türkei jeden Hauchs eines gemeinsamen Wertefundaments. Wenn Menschenrechte und Demokratie für die Bundesregierung mehr als warme Worte sind, dann muss sie endlich eine Kehrtwende in der Türkeipolitik einleiten und die Hebel wirksamer Maßnahmen auch nutzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Den Beitrittsprozess beenden!)

Dazu gehören deutlich spürbare Sanktionen im politischen wie im wirtschaftlichen Sinn; keine Modernisierung der Zollunion; keine Investitionen, die Erdogans umweltzerstörenden Größenwahnprojekten und seiner Rüstungsindustrie zugutekommen; das Ende des im Kern asylrechtswidrigen und menschenrechtsverachtenden Flüchtlingsdeals und natürlich keine weiteren Rüstungsexporte –

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

und das übrigens in Übereinstimmung mit unseren eigenen Rüstungsexportrichtlinien.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Frau Vizepräsidentin.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns endlich da stehen, wo wir als Bundesrepublik stehen müssten: an der Seite aller Demokratinnen und Demokraten, an der Seite unserer Freunde und unserer Bündnispartner in der Türkei.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Frau Kollegin Roth. Frau Vizepräsidentin, ich darf auch Sie darauf hinweisen – um die Maske geht’s mir gar nicht –, dass die Redezeit in der Aktuellen Stunde exakt fünf Minuten beträgt. Und darauf werde ich künftig achten. – Nächster Redner ist der Kollege Michael Brand, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)