Rede von Markus Kurth Arbeit und Soziales

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24.11.2022

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Dr. Launert, liebe Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, gerne hätte ich hier von dieser Stelle aus über die Höhe des Eingliederungstitels zur Förderung von Langzeitarbeitslosen gesprochen und darüber diskutiert, ob er ausreicht oder nicht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Den Sie kürzen!)

Wir haben ja immerhin 500 Millionen Euro wieder reingeholt. Gerne hätte ich auch über Zahlen zur berufsbezogenen Sprachförderung und dergleichen diskutiert.

Aber was muss ich mir hier stattdessen anhören? Wieder werden Langzeitarbeitslose oder Menschen, die etwa, weil sie alleinerziehend sind und deswegen im Arbeitslosengeld-II-Bezug landen,

(Dr. Silke Launert [CDU/CSU]: Nicht zugehört!)

diffamiert und als Projektionsfläche für Ressentiments, Neid und Missgunst missbraucht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Wieder muss ich mir hier anhören, wie Sie Mindestlohnbeziehende instrumentalisieren – denn nichts anderes tun Sie –, um Differenzen herzustellen.

(Dr. Silke Launert [CDU/CSU]: Nehmen Sie diese Menschen ernst!)

Sie werden den Arbeitenden in diesem Bereich damit überhaupt nicht gerecht; denn Arbeit ist mehr als Geld. Arbeit bedeutet Teilhabe, Austausch und soziale und auch gesundheitliche Stabilität.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wenn es nur um das finanzielle Kalkül ginge, dürfte es ja gar keine arbeitenden Menschen geben, die auf einen Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II verzichten, die sogenannte verdeckte Armut. Dass es sie gibt, zeigt doch, wie viele Menschen stolz sind, dass sie ihre Arbeit haben, die gar nicht auf das Jobcenter angewiesen sein wollen. Auf Kosten dieser Menschen Politik zu machen, ist unerhört!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wo er recht hat, hat er recht!)

Wenn Sie den Mindestlohnbeziehenden und den Geringverdienenden wirklich gerecht werden wollen, dann tun Sie etwas zur Stärkung von Tarifbindung und Tariftreue. Das wäre der ehrliche Ansatz an der Stelle.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Stattdessen arbeiten Sie mit falschen Zahlen, was Sie am Ende auch zugegeben haben. Der Kollege Jens Spahn wird von der „taz“ am 19. November interviewt. Ihm werden die falschen Zahlen vorgehalten. Antwort Jens Spahn: „Standen in der taz noch nie falsche Zahlen?“ Diese Antwort spricht doch wohl für sich. Aber die Interviewerin gibt Jens Spahn noch eine zweite Chance und stellt die Frage: „Wäre da nicht eine Entschuldigung angesagt?“ Antwort Jens Spahn: „Es geht um die Frage, ob sich Arbeiten lohnt oder nicht. Diese Debatte müssen wir führen.“

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)

Das finde ich wirklich unerhört.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] – Beifall bei der CDU/CSU)

– Da klatschen Sie auch noch!

(Zuruf der Abg. Dr. Silke Launert [CDU/CSU])

Es ist von Jens Spahn an der Stelle ja noch nicht mal der Versuch unternommen worden, zu verhehlen, dass falsche Zahlen zur Kampagnenführung verwendet worden sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN)

Wenn man daneben die Äußerung des bayerischen Ministerpräsidenten legt, der gesagt hat: „Wer wie Diogenes faul in der Tonne liegt, der kriegt keine Leistungen“ – das Ganze hat er vor einem grölenden Publikum im Bierzelt von sich gegeben –,

(Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Sie wollen vertuschen! Das wollen Sie!)

dann sieht man, dass dieser Ansatz die Spaltung als politisches Geschäftsmodell hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Reduzierung des Eingliederungstitels! Sagen Sie mal darüber was! Alles Augenwischerei!)

Welche Geister Sie wecken, konnten Sie gerade in der Rede von Frau Schielke-Ziesing hören und in vielen anderen Beiträgen nachlesen. Bevor Sie aus der Union sich so aufregen, sage ich Ihnen: Ich will diese Spaltung nicht. Ich möchte das bewusst nicht.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Nein. Deswegen werde ich Sie auch nicht pauschal verteufeln oder gar in die Nähe der AfD stellen.

(Enrico Komning [AfD]: Aber das Geschäftsmodell ist dasselbe!)

Ich weiß nämlich, dass es bei Ihnen Menschen gibt, die das besser wissen: Stellvertretend will ich Hermann Gröhe und Karl-Josef Laumann nennen.

Vor einem halben Jahr war ich beim kommunalen Jobcenter Münster. Der Leiter des Jobcenters – CDU-Mitglied – ist mit mir und der Sozialdezernentin den Koalitionsvertrag durchgegangen und fand ihn – nicht alles, aber überwiegend – vernünftig. Vor allen Dingen fand er den Ansatz vernünftig, eine Vertrauensbasis aufzubauen, um Motivation und Befähigung zu schaffen. Diesen Grundansatz fand er völlig richtig, und er sagte mir sinngemäß: Das machen wir hier in Münster sowieso schon.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das sind Personen aus der Union, die mir die Hoffnung geben, dass wir zu einem rationalen und vernünftigen Diskurs an der Stelle kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])

Es gibt noch Hoffnung. Das ist der Ansatz, den wir im Haushalt abzubilden versuchen. Das ist die Haltung, die sich im morgen zu verabschiedenden Bürgergeldgesetz wiederfindet, aber eben auch in der finanziellen Hinterlegung, die wir vorgenommen haben.

Wir sehen auch die Vielfalt der Problemlagen, die das Sozialgesetzbuch II oder das Bürgergeld umfassen. Es handelt sich keineswegs überwiegend um Langzeitarbeitslose, sondern zu einem sehr großen Teil um Kinder und Jugendliche und Alleinerziehende. Es geht um Menschen, die vielleicht aus gesundheitlichen Gründen Beeinträchtigungen haben.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pflegende!)

Es geht um Aufstocker. Es geht um die ganze Vielfalt des Lebens. Und diese Vielfalt des Lebens muss man im Umgang mit Personen, die auf Unterstützung angewiesen sind, abbilden. Die Zahlen – das Dürre, was auf dem Papier steht – sind das eine, und das andere ist die Haltung, mit der man diese Zahlen mit Leben füllt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Pascal Kober [FDP])

Das ist am Ende auch Wirtschaftspolitik. Wir haben nämlich eine ganz andere Situation als zu der Zeit, als das SGB II – ich war selbst dabei – ins Leben gerufen wurde. Wir haben jetzt keine Massenarbeitslosigkeit, sondern einen Arbeitskräftemangel; nicht nur einen Fachkräftemangel, sondern einen Arbeitskräftemangel.

(Dr. Ottilie Klein [CDU/CSU]: Dann kürzen Sie die Mittel für die Eingliederung in die Arbeit? – Zuruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es geht nicht nur aus menschlichen Gründen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen darum, diese großartigen Potenziale zu heben, die wir in diesem Land mit allen Menschen haben. Es darf niemand verloren gehen. Das ist unser Ansatz.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsidentin Bärbel Bas:

Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Gesine Lötzsch.

(Beifall bei der LINKEN)