Rede von Markus Kurth Arbeit und Soziales

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08.09.2023

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Gröhe, ich finde die Perspektive, die Sie auf diejenigen haben, die Bürgergeld beziehen, dass Sie junge Menschen und Langzeitarbeitslose als Personen mit Potenzial erkennen und sehen, dass es notwendig ist, diese in Arbeit zu vermitteln, grundsätzlich gut; das sage ich ausdrücklich.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

Ich würde mir nur wünschen, dass das für die gesamte Union repräsentativ wäre.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich glaube, diese Debatte muss man beginnen, indem man vor postfaktischem Populismus

(Zuruf von der CDU/CSU: Das sind Fakten!)

oder vor dem Anbiedern an Wählerinnen und Wähler durch das Verbreiten von Unwahrheiten warnt, so wie es hier an dieser Stelle leider vor zwei Tagen durch den Fraktionsvorsitzenden der Union, Friedrich Merz, geschehen ist,

(Frank Bsirske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Was soll denn das jetzt?)

der insinuiert hatte, dass es sich nicht lohne, zu arbeiten, sondern dass es einfacher wäre – wenn man rechnen könne –, Bürgergeld zu beziehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Genau so!)

– Sie nicken jetzt und rufen mir zu: „Genau so!“

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Herr Lindner weist auf dasselbe Problem hin!)

Das ist nicht wahr. Und um das festzustellen, braucht man keine besonderen intellektuellen Fähigkeiten; dafür reichen die Grundrechenarten. Nehmen Sie den Mindestlohn, multiplizieren ihn mit den 170 Monatsstunden einer Vollzeitstelle, dann ziehen Sie die Abgaben ab und vergleichen das, was rauskommt, mit dem Zahlbetrag nach dem SGB II, dem Bürgergeld. Wenn Sie das tun, dann sehen Sie, dass dazwischen eine beträchtliche Kluft ist. Dann gibt es noch vorgelagerte Sozialleistungen und vieles andere mehr. Das, was Sie sagen, ist so nicht richtig, und das wissen Sie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU)

Sie wissen es auch deshalb, Herr Merz, weil, wie der Minister hier schon sehr richtig festgestellt hat, die von Ihnen regierten und auch die von uns gemeinsam regierten Bundesländer, beispielsweise Nordrhein-Westfalen mit dem Sozialminister Karl-Josef Laumann

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Das ist ja auch ein Sozialminister!)

oder aber Schleswig-Holstein mit unserer Sozialministerin Aminata Touré, diesem Gesetz zugestimmt haben. Sie als Union hätten dem wohl nicht zugestimmt, wenn es denn wirklich so wäre, dass es attraktiver ist, Bürgergeld zu beziehen als zu arbeiten. Also erzählen Sie doch hier nichts.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich weiß allerdings nicht, was ich schlimmer finden soll: dass Sie die Unwahrheit hier gesagt haben oder dass Sie das wissentlich – wissentlich! – getan haben. Das ist auf jeden Fall gefährlich. Ich sage es Ihnen: Das zahlt nicht bei der Union ein, das zahlt bei anderen Leuten ein. Und das zersetzt am Ende des Tages ein Fundament unserer Demokratie, und der Sozialstaat zählt dazu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der CDU/CSU)

Das zeigt auch, dass Sie überhaupt nicht verstanden haben, was der Geist des Bürgergeldes ist. Den hat Herr Gröhe – ich finde, mit berechtigten Einwänden mit Blick auf die Zukunft, die wir auch beachten werden – benannt, dass wir nämlich diese Menschen als Potenziale begreifen, dass wir möglicherweise Motivation wecken wollen, dass wir diese Menschen bei ihrer Motivation, die ja in der Regel da ist, packen und dass wir diese Menschen nicht indirekt als „Faulenzer“ oder als in der Hängematte liegend stigmatisieren.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das hat auch keiner gesagt! – Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Sie entziehen die Hilfe!)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Farle?

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein. – Es ist auch, finde ich, ein Schlag ins Gesicht derer, die mit diesen Menschen arbeiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich habe dieser Tage eine E-Mail gekriegt von einer Teamleiterin in der Arbeitsvermittlung des Jugendberufshauses Dortmund. Sie schreibt:

„Ich bin seit insgesamt 18 Jahren eine sehr engagierte Mitarbeiterin in diesem Bereich des Jobcenters Dortmund. Als Mitarbeiterin des Jugendberufshauses fühle ich mich verpflichtet, für die jungen Menschen, aber auch für meine Kolleg*innen zu kämpfen.“

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Also gegen euch!)

„Wir arbeiten engagiert mit den jungen Menschen zusammen, um der Jugendarbeitslosigkeit und dem Fachkräftemangel etwas entgegenzusetzen.“

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Da muss sie ja gegen euch kämpfen!)

Meine Damen und Herren, diese Person steht stellvertretend für viele Beschäftigte bei Beschäftigungsträgern und Qualifizierungsgesellschaften, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Ausbilderinnen und Ausbilder, Beschäftigte in überbetrieblichen Einrichtungen sowie psychosoziale Beratungspersonen – das sind die Heldinnen und Helden von Deutschland. Das ist Deutschland. Sie bringen Deutschland voran.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich will abschließend darauf hinweisen, dass in dieser E-Mail auch kritische Sachen stehen. Die besagte Teamleiterin bittet mich etwa, mich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Übertragung der Zuständigkeit für die unter 25-Jährigen vom Rechtskreis der Jobcenter – SGB II – auf die Arbeitslosenversicherung einzusetzen.

(Frank Bsirske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat sie recht! – Zuruf des Abg. Thorsten Frei [CDU/CSU])

Ich finde, das müssen wir ernst nehmen.

Ich kann an dieser Stelle all denen, die ich, wie gesagt, für die Heldinnen und Helden Deutschlands halte – ich weiß, dass viele von ihnen jetzt zuschauen –, nicht versprechen, dass ich das alles erreichen werde. Aber ich kann für uns in der Regierungskoalition sagen, dass wir uns für diese Personen einsetzen, dass wir Lebenschancen schaffen wollen, dass wir auf jeden Fall darauf achten werden, egal wie der Streit um die beste Lösung jetzt ausgeht, sie zu befähigen, dass wir den Geist des Bürgergeldes erhalten wollen, um Möglichkeiten zu schaffen.

Ich sage auch noch mal, weil Sie, Herr Gröhe, den Eindruck erweckt haben, das sei ja alles schon klar, was wir da machen:

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Das würde ich nie tun! Das ist eine böse Unterstellung! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das würde er nie behaupten, dass bei Ihnen alles klar ist! Diese Behauptung würden wir nie aussprechen!)

Wir stehen hier am Anfang der Beratungen. Wir sind in der ersten Lesung des Haushalts, und wir werden uns im Haushaltsausschuss und im Fachausschuss für Arbeit und Soziales die neuralgischen Punkte angucken, seien es Eingliederungstitel oder eben auch Rechtskreiswechsel. Aber wir tun es immer an der Seite der Langzeitarbeitslosen,

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Falsch! – Dr. Silke Launert [CDU/CSU]: Bei so vielen anderen Stellen haben Sie nichts erreicht seit Jahren!)

der unter 25-Jährigen und an der Seite der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter und der Beschäftigungsträger.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Hermann Gröhe [CDU/CSU]: War das jetzt die Entschuldigung für den Haushalt? Entschuldigen Sie sich schon für Ihren Haushalt? Prima!)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion René Springer.

(Beifall bei der AfD)