Rede von Markus Kurth Haushalt 2023: Arbeit und Soziales, Epl. 11

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08.09.2022

Markus

Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

So weit ist es noch nicht, und so weit wird es auch nicht kommen, Herr Präsident.

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Nur nicht die Hoffnung aufgeben!)

Ich bin zwar Christ, bleibe aber bei den Grünen.

(Heiterkeit)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gröhe, ich glaube, wir müssen aus gegebenem Anlass mal über das Menschenbild sprechen, das uns

hier offensichtlich trennt – die Ampelkoalition und Sie –, und über die Haltung, mit der wir Menschen gegenübertreten, die unverschuldet in Not sind, die lange

keine Arbeit hatten und – das wissen Sie ganz genau – zum ganz überwiegenden Teil verzweifelt Arbeit suchen.

Wir von der Ampel gehen von unserer Haltung her zunächst mal von Zutrauen, Vertrauen und Befähigung aus. Wir wollen die Talente wecken, die in jedem

Menschen schlummern, und wir wollen ihn befähigen. Wir sehen in den Menschen, die auf Sozialgesetzbuch-II-Leistungen angewiesen sind, keine Kostgänger oder

Betrüger,

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Wir auch nicht! Das wissen Sie auch! Wir auch nicht!)

sondern Personen, die, wenn man sie unterstützt, einen super Beitrag für diese Gesellschaft leisten können!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Wir auch nicht! Das ist doch

Verleumdung!)

Sie treten hier mit Unterstellungen, Missgunst und als Erstes mit der Vermutung an, dass das Personen seien, jedenfalls zu beträchtlichen Teilen, die

gar nicht arbeiten wollten.

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Das hat keiner gesagt!)

– Das ist die Unterstellung, der Subtext, der bei Ihnen mitschwingt. Es gibt andere, die sagen das sogar sehr, sehr deutlich, auf fieseste Art und

Weise: Markus Söder hat diese Woche auf einem Volksfest in Gillamoos gesagt, es solle keiner Geld bekommen, der – wörtliches Zitat – „gerne in der Tonne liegt

und Diogenes spielt“.

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Pfui!)

Also, ich frage mich wirklich: Wie verkommen und wie niederträchtig muss man sein, um vor einem grölenden, schon am Vormittag betrunkenen Publikum auf

Kosten der Schwächsten dumme Pseudowitze zu machen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP – Zuruf des Abg. Stephan Stracke [CDU/CSU])

– Machen Sie das. – Jeder natürlich auf seinem Niveau. Aber die Wahrheit ist: Praktisch niemand im Arbeitslosengeld-II-Bezug liegt gerne in der Tonne

und spielt Diogenes. Im Gegenteil.

(Zurufe der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Hermann Gröhe [CDU/CSU])

Die Realität sieht so aus, dass diese Personen mit jedem Cent rechnen müssen, dass viele von ihnen auch Versagens- oder Misserfolgserfahrungen haben,

zum Beispiel abgelehnte Bewerbungen. Viele von ihnen – der Minister hat es angesprochen – verfügen nicht über eine Berufsausbildung, ein Viertel nicht über

einen Schulabschluss.

Das ist eine schwierige Problemlage, erst recht, wenn Kinder da sind. Personen, die in dieser Weise Probleme haben, sich selbst zu helfen, haben alles

Recht darauf, dass wir sie unterstützen. Das ist auch die Zielsetzung von unserem Bürgergeld. Und diese aufmunternde und unterstützende Haltung eint alle drei

Parteien, die diese Koalition bilden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dafür seid ihr aber geizig! – Stephan Stracke [CDU/CSU]:

Warum war denn Hartz IV so erfolgreich? Was für ein Zerrbild Sie hier zeichnen! Das ist unfassbar!)

Dieses Gerede beruht ja auf einer doppelten Lüge. Die eine ist: Die Grundsicherungsbeziehenden wollen arbeiten, und das wird unterschlagen.

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Aber nicht von mir!)

Das andere ist: Wir werden hier kein bedingungsloses Grundeinkommen einführen und die Sanktionen abschaffen; das stimmt doch gar nicht!

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Kein Sanktionsmoratorium!)

Wir haben in der Koalition eine sechsmonatige Vertrauenszeit vereinbart. Es geht darum, dass man zunächst mal – nicht für ewig – auf der Basis von

Vertrauen eine Arbeitsbeziehung zwischen Jobcenter, Fallmanagerinnen und ‑managern und Hilfebedürftigen beginnt.

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Reden Sie einmal mit Fallmanagern!)

Andere Vereinfachungsregelungen und Verschonungsregelungen sind Bürokratieabbau; das sagen die Jobcenter selbst. Es geht darum, dass man nicht gleich

am ersten Tag oder nach einem halben Jahr die Angemessenheit der Wohnung prüfen muss. Dafür hat man keine Kapazitäten mehr im Jobcenter;

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das haben wir in Berlin 2003 gemacht! Dagegen habt ihr von der CDU geklagt!)

sonst kann man sich nicht um Arbeitsaufnahme und Qualifikation bemühen; das sagen die Jobcenter selbst.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf des Abg. Stephan Stracke [CDU/CSU])

Ich sage Ihnen auch: Fähigkeitsaufbau, Arbeitskräfteentwicklung ist Wirtschaftspolitik. Das Stichwort „Arbeitskräftemangel“ ist hier gefallen. Wir

können es uns nicht leisten, ein signifikantes Erwerbspersonenpotenzial brachliegen zu lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Stephan Stracke [CDU/CSU]: Und warum kürzen Sie dann die Eingliederungstitel?)

An der Stelle muss man sich den Konsolidierungsbeitrag, den dieser vorliegende Haushaltsentwurf erkennbar leistet – die Eingliederungstitel; das Wort

ist gerade seitens der Union als Zwischenruf gefallen –, natürlich daraufhin noch mal genau ansehen, ob das dem Ziel der Mobilisierung des

Erwerbspersonenpotenzials wirklich gerecht wird.

(Lachen bei der AfD – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Was heißt das jetzt?)

Das gilt auch für den Konsolidierungsbeitrag, der im Moment verzeichnet ist bei der berufsbezogenen Sprachförderung von Zuwanderinnen und

Zuwanderern.

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Ach, ein Konsolidierungsbeitrag?)

Das ist eine Entwicklung, die im Haushalt festgeschrieben ist. Das ist gemacht worden, als es den Ukrainekrieg und die Flüchtlinge aus der Ukraine –

überwiegend qualifizierte Frauen – noch nicht gab. Ich glaube, wir würden uns wirklich Schaden zufügen als Bundesrepublik Deutschland, als Volkswirtschaft, wenn

wir diese Arbeitskräfte nicht nur in ihrem eigenen Sinne, sondern auch für unsere Wirtschaft nicht nutzen bzw. – „nutzen“ hört sich gemein an – befähigen

würden, sodass wir hier zu einem guten Zusammenleben in diesem Land kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Stephan Stracke [CDU/CSU]: Dann kürzen Sie die Mittel nicht!)

– Wenn Sie es nicht verstanden haben, wiederhole ich noch mal für Sie: Die berufsbezogene Deutschförderung werden wir uns noch mal genau anschauen;

denn das ist eine wichtige Brücke zur Stärkung von Beschäftigungsfähigkeit. Es wird alles nicht zum Nulltarif zu haben sein. Wir werden auch nicht unendlich

viel tun können; aber wir tun alles, um mit diesem Haushalt die Menschen dabei zu unterstützen, die Würde zu erhalten und dass sie eine Zukunft haben. In diesem

Sinne freue ich mich auf die gemeinsamen Beratungen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Herr Kollege Kurth. Ich bitte nochmals um Nachsicht, dass ich Sie einer falschen politischen Gruppierung zugeordnet habe. – Nächster

Redner ist der Kollege Jürgen Pohl, AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)