Foto von Filiz Polat MdB
20.04.2023

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor 30 Jahren wurde unter dem beschönigenden Titel „Asylkompromiss“ dem Artikel 16 des Grundgesetzes – ich zitiere – „seine Würde genommen“. So formulierte es der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Navid Kermani anlässlich der Feierstunde „65 Jahre Grundgesetz“ hier im Deutschen Bundestag. Mit dieser Einschränkung haben die damaligen Fraktionen die Grundlage dafür geschaffen, dass diejenigen, die über ein EU-Land oder ein anderes Nachbarland hier einreisen, grundsätzlich keinen Anspruch auf Asyl haben sollten und Geflüchtete aus sicheren Herkunftsstaaten per se keinen Anspruch auf Asyl besitzen. Kritik kam damals nicht nur vom Flüchtlingswerk, dem UNHCR, und vom Zentralrat der Juden, sondern – ich erinnere daran – auch viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gaben damals ihr Parteibuch zurück.

Warum schicke ich dies voraus? Aus zwei Gründen.

Erstens. Ja, die Aufnahme von geflüchteten Menschen ist eine Herausforderung. Aber unsere Antwort darauf, dass Verfolgte und Schutzsuchende zu uns kommen, sollte niemals die Einschränkung ihrer Rechte sein, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Denn was Europa und vor allem die EU ausmacht, ja ausmachen muss, sind unsere demokratischen Werte und das Eintreten für die universellen Grundrechte im Bewusstsein unserer deutschen Geschichte. Der Artikel 16a, das Grundrecht auf Asyl, sowie die Genfer Flüchtlingskonvention haben ihre Wurzeln in den Erfahrungen aus zwei Weltkriegen, aus den Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Darum sind wir alle zu jeder Zeit verpflichtet, diese Errungenschaften uneingeschränkt zu verteidigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Zweitens. Die Aufnahme von Geflüchteten bot schon immer Rechtsextremen Anlass, gegen Geflüchtete zu hetzen und Ängste zu schüren. Unsere Antwort auf solche Hetze sollte aber niemals sein, unsererseits Geflüchtete zu kriminalisieren und ihnen Missbrauch vorzuwerfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stephan Thomae [FDP])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Frau Polat, möchten Sie eine Zwischenfrage – –

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das ist Ihre Methode! Zur Sache nicht reden und Fragen nicht zulassen!)

Unsere Reaktion muss vielmehr so aussehen, gegen rechtsextreme Netzwerke und Täter konsequent vorzugehen, Fake News und rechte Narrative zu enttarnen und diese eben nicht zu reproduzieren und zu legitimieren, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir müssen wachsam bleiben, weil es in der Geschichte einander ähnelnde Prozesse und Reflexe gibt, die sich infolge bestimmter Entwicklungen einstellen.

Ich erinnere: Im August 1992, elf Monate vor besagtem Asylkompromiss, brannte in Rostock-Lichtenhagen ein Wohnheim. Dort untergebrachte Asylsuchende wurden tagelang von einem rassistischen Mob unter dem Beifall der Nachbarinnen und Nachbarn terrorisiert. Die große Mehrheit der Täter/-innen ging damals straffrei aus. Die Angegriffenen, die Traumatisierten hingegen erhielten keine Entschädigungen.

(Tino Chrupalla [AfD]: Kommen Sie mal zum Punkt!)

Im Gegenteil: Ihnen wurde sogar teilweise die Abschiebung angedroht. Was für ein Skandal, meine Damen und Herren!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stephan Thomae [FDP])

Der damalige CDU-Bundesinnenminister verkündete jedoch, man müsse – ich zitiere – jetzt „handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben“.

(Tino Chrupalla [AfD]: Recht hat er gehabt!)

Meine Damen und Herren, diese politische Antwort ist die falsche. Sie biedert sich den rechten Narrativen an, statt das zu tun, was notwendig ist: Die Rechte der Opfer und der Schutzsuchenden zu schützen und diese zu verteidigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das ist schon echt frech, wenn Sie nicht einmal Fragen beantworten und uns hier in die rechte Ecke stellen!)

Meine Damen und Herren, heute debattieren wir zum vierten Mal innerhalb weniger Wochen über einen Unionsantrag, der genau in diese reflexhafte Kategorie gehört – deswegen der Beifall auch von der AfD –, das Grundrecht auf Asyl auszuhöhlen und die Verfahrensrechte maximal zu beschränken.

(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Davon spricht doch gar keiner!)

Schon Ende 2018 warnte das Deutsche Institut für Menschenrechte zutreffend, das Konzept sicherer Herkunftsstaaten sei – ich zitiere – „grundsätzlich rechtsstaatlich problematisch, da es einer individuellen und unvoreingenommenen Prüfung des Schutzgesuchs“ zuwiderlaufe.

(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Das Bundesverfassungsgericht sieht das anders! – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Vom Bundesverfassungsgericht zugelassen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt doch überhaupt nicht!)

Meine Damen und Herren, in Tunesien werden seit Wochen Regierungskritiker/-innen drangsaliert. Amnesty International wirft den Behörden Rassismus gegen Migrantinnen und Migranten vor; Herr Lindh hat es gerade erwähnt. In Algerien werden Frauenrechte massiv eingeschränkt. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind ein Straftatbestand. Oppositionelle werden willkürlich wegen vermeintlicher terroristischer Vergehen verfolgt. Ähnlich geht es Menschen in Marokko, wenn die sich kritisch zum Thema Westsahara äußern. In Georgien wird, so Human Rights Watch, hart gegen queere Personen vorgegangen. Reporter ohne Grenzen beklagt einen massiven Rückgang der Pressefreiheit

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Es gibt doch trotzdem noch Asylrecht bei sicheren Herkunftsstaaten!)

sowie eine Rekordzahl an Journalistinnen und Journalisten in Haft, meine Damen und Herren.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Sie stellen das bewusst falsch dar und haben Angst, eine Zwischenfrage zuzulassen!)

Liebe Union, solchen Ländern einen Persilschein auszustellen, dass sie sicher wären, wäre verfehlt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wirken Sie stattdessen auf die von Ihnen geführten Bundesländer ein,

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Linke Narrative! Wahnsinn!)

dass Verwaltungsgerichte angemessen personell ausgestattet werden. Geben Sie der unabhängigen Asylverfahrensberatung, die wir auf den Weg gebracht haben, eine Chance

Meine Damen und Herren, ich greife zum Schluss noch mal die Worte von Navid Kermani auf – ich zitiere –:

(Tino Chrupalla [AfD]: Das letzte Mal!)

Möge das Grundgesetz spätestens bis zum 70. Jahrestag seiner Verkündung von diesem hässlichen, herzlosen Fleck gereinigt sein ...

Er sprach vom sogenannten Asylkompromiss, und seine Hoffnung richtete sich damals auf den Mai 2019.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Völlig an der Sache vorbei! – Zuruf des Abg. Philipp Amthor [CDU/CSU])

Kermanis Wunsch ist leider nicht aufgegangen.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Eine Sonntagspredigt! Unerträglich!)

Lassen Sie es uns zur Aufgabe machen, dem Grundgesetz seine Würde zurückzugeben. Im nächsten Jahr feiern wir sein 75-jähriges Jubiläum.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und des Abg. Bernd Riexinger [DIE LINKE] – Erhard Grundl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bravo! Sehr gute Rede!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt Gökay Akbulut das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)