07.07.2022

Bernhard Herrmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Strompreise sind in diesem Land beileibe nicht so stark gestiegen, wie die Gaspreise explodiert sind. Die haben sich verdreifacht, vervierfacht, teilweise versechs- bis verachtfacht.

(Karsten Hilse [AfD]: Durch Ihre Politik!)

Sonne und Wind dämpfen den Preisanstieg im Stromsektor.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Rainer Kraft [AfD]: Und warum verheizen Sie das Gas dann?)

Und wenn Sie heute feststellen, dass in Frankreich die Preise zurzeit bei 40 Cent liegen und in Deutschland nur bei 28 Cent,

(Dr. Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)

dann ist das das Ergebnis einer verfehlten Atompolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE] – Dr. Rainer Kraft [AfD]: Wer zahlt denn 28 Cent? – Karsten Hilse [AfD]: Wer zahlt denn nur 28 Cent? Die zahlen 78, 80 Cent! Die Bürger zahlen 80 Cent!)

– Schreien Sie ruhig weiter! Das zeigt, dass Sie unsicher sind. – Als Antragsteller verkennen Sie komplett, dass wir keine Stromkrise, sondern eine Gaskrise haben. Der Antrag verkennt die rechtlichen, finanziellen, energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Martin Reichardt [AfD]: Sie haben eine Intellektskrise in der Regierung!)

Sie haben keine Ahnung. Sie verkennen auch die geopolitischen Abhängigkeiten bei angereichertem Uran und Brennelementen. Sie ignorieren neue Gefährdungen durch Einwirkungen Dritter. Die Geschichte der Kernenergie ist eine Geschichte der falschen Versprechen.

(Zuruf des Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD])

Derzeit erleben wir eine Wiedervorlage. Jetzt legt uns leider auch die CDU/CSU einen zweiten Rückzug vom Rückzug vor. Der erste Rückzug hat die öffentliche Hand sehr, sehr viel Geld gekostet.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Über 11 Milliarden hat uns das gekostet!)

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat bereits im März alle rechtlichen und energiewirtschaftlichen Fragen sehr grundlegend geprüft. Das Ergebnis ist längst öffentlich; aber natürlich interessieren technische und rechtliche Fragen diese AfD doch nicht, Sicherheit schon gar nicht und Wirtschaftlichkeit – das haben wir gerade gehört; siehe auch die Preise in Frankreich – erst recht nicht.

(Dr. Rainer Kraft [AfD]: Bananenrepublik!)

Atomkraftwerke sind eine Hochrisikotechnologie,

(Karsten Hilse [AfD]: Ja, für euch! Risiko für eure Ideologie! So ein Blödsinn!)

die aus gutem Grund weltweit niemand versichern will und die niemals ein rein privater Betreiber ohne steuerliche Subventionen gebaut und betrieben hat und es auch niemals wird.

(Stephan Brandner [AfD]: Was ist denn bei Windrädern? Die laufen alle ohne Subventionen, oder wie?)

Die drei noch am Netz befindlichen Anlagen wurden zuletzt vor 13 Jahren einer gründlichen Überprüfung unterzogen, die eigentlich alle 10 Jahre nötig wäre. Die Neubewertung der Sicherheitslage würde Monate in Anspruch nehmen.

(Karsten Hilse [AfD]: Immer die gleichen Märchen von Ihnen!)

Darauf würden tiefgreifende Nachrüstungen folgen, sofern technisch und betriebswirtschaftlich überhaupt möglich.

(Martin Reichardt [AfD]: Sie reden doch die Risiken herbei, die Sie brauchen!)

Maßstab der Sicherheitsanforderungen ist der aktuelle Stand der Wissenschaft und Technik. Wollen Sie da Abstriche machen? Sie auch? Dann sagen Sie den Menschen auch, dass Sie Abstriche an der Sicherheit machen würden! Sagen Sie das!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Stephan Brandner [AfD]: Sie schüren die Angst! – Dr. Rainer Kraft [AfD]: Das ist doch Ihre Politik! Sie schüren Angst!)

Die Sicherheitsanforderungen müssten zudem neu bewertet werden. Es ist Krieg in Europa. Dafür sind Atomkraftwerke nicht ausgelegt, nirgendwo auf der Welt und auch nicht in Deutschland. Wir sehen aktuell, wie in der Ukraine Atomanlagen zu strategischen und militärischen Zielen werden,

(Zuruf des Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD])

und auch im Westen haben in den vergangenen Monaten Cyberangriffe auf kritische Infrastruktur zugenommen.

In solch einer Lage bedeutet jeder Atomreaktor eine strategische Schwäche und eine reale Gefahr.

(Martin Reichardt [AfD]: Wollen Sie auch alle Chemiefabriken zumachen, oder was? Quatsch!)

Der Schutz dieser Anlagen vor Angriffen von außen, die sogenannte Sicherung, und die damit zusammenhängenden Sicherheitsanforderungen müssten im Falle von Laufzeitverlängerungen grundlegend überdacht werden. Einem minimalen Beitrag in der aktuellen Lage würden sehr hohe wirtschaftliche Kosten und übermäßige Risiken gegenüberstehen. Zu diesem Schluss sind die Bundesministerien – keineswegs das BMWK allein – bereits im März unter Berücksichtigung aller wichtigen energiewirtschaftlichen Faktoren gekommen.

(Karsten Hilse [AfD]: Nach zwei Tagen Prüfung!)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Etwa 85 Prozent des in Deutschland genutzten Erdgases wird im Wärmebereich von Raumheizungen und von der Industrie genutzt.

(Dr. Rainer Kraft [AfD]: 7 Megawatt am Dienstag!)

Wir haben also ein Problem bei der Gas- und damit der Wärmeversorgung, nicht beim Strom. Atomkraftwerke produzieren Strom, verschwenden Wärme und heizen nur die Landschaft. Die Vorstellung, dass Atomkraftwerke uns bei der Überwindung dieser Gaskrise helfen werden, ist abenteuerlich und verkennt die energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wir führen hier eine Geisterdebatte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE])

Gegen Atomkraftwerke spricht auch ihre absolut mangelnde Flexibilität. Sie können nur kontinuierlich Strom liefern. Sie müssen Grundlast sein. Sie laufen im Prinzip durchweg mit gleicher Leistung, während Gaskraftwerke hochflexibel sind und bei Spitzenlasten schnell mehr Strom liefern können oder bei geringerem Energiebedarf weniger.

(Karsten Hilse [AfD]: Sie haben keine Ahnung von Technik!)

Wir brauchen diese Flexibilität, um das Netz stabil zu halten. – Herr Hilse, Sie dürfen hinterher reden; Sie dürfen sich gern mal melden. – Auch deshalb können Atomkraftwerke Gaskraftwerke rein technisch nicht ersetzen. Sie drängen im Gegenteil andere Erzeuger wie Windkraftanlagen aus dem Netz. Im Ergebnis würden wir unsere Abhängigkeit von russischem Gas kurzfristig keinesfalls reduzieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dafür würden wir aber das Geschäft des russischen Staatskonzerns Rosatom weiter befeuern. Ich frage mich: Wollen Sie nicht in Wirklichkeit das und die bestehende Abhängigkeit von Russland in diesem Bereich fortsetzen?

(Stephan Brandner [AfD]: Ist Gazprom besser? – Zuruf des Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD])

Fakt ist: Bei Uran und Brennelementen sind wir in der EU noch abhängiger von Russland als bei Gas.

(Karsten Hilse [AfD]: Blödsinn! Nur Unsinn, was Sie erzählen!)

2020 stammten über 20 Prozent des in der EU eingesetzten Natururans aus Russland. – Ach, Sie schreien so schön, weil Sie aufgeregt sind. Danke schön! – 19 Prozent stammten aus Kasachstan, einem Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion. Darüber hinaus stellte Russland im selben Jahr 26 Prozent des in der EU benötigten angereicherten Urans zur Verfügung. Der EU stehen dagegen nur begrenzte Kapazitäten zur Verfügung, mit denen die russische Anreicherungsleistung kurzfristig nicht ersetzt werden kann.

Das Abhängigkeitsverhältnis ist auch in der Herstellung von Brennelementen besonders stark, wie es die weitere Versorgung der Brennelementefabrik in Lingen in Niedersachsen mit angereichertem Uran und Uranpellets von Rosatom veranschaulicht. Weil die EU in diesem Bereich auf absehbare Zeit besonders verwundbar bleibt, fällt die russische Nuklearindustrie bislang nicht unter die EU-Sanktionen, sehr geehrte Damen und Herren der Union: nicht unter EU-Sanktionen. Der Kauf dort ist Sanktionsumgehung.

Europas Abhängigkeit im Nuklearbereich ist sogar noch größer als die bei Gas. Über mehr Atomstrom in Europa freut sich vor allem ein Mann, und der sitzt im Kreml; denn auch hier verdient er kräftig mit und hält uns in Abhängigkeit.

Eine Laufzeitverlängerung in Deutschland führt uns nicht aus dieser Abhängigkeit, hilft uns nicht bei der Wärme und birgt gleichzeitig immense Kosten und Risiken. Sie ist schlichtweg sinn- und verantwortungslos. Deshalb konzentrieren wir uns auf die wirklichen Aufgaben. – Sie lenken uns davon nicht ab!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Stephan Brandner [AfD]: Was sind das für Horrorfantasien?)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Als Nächstes folgt Dr. Klaus Wiener für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)