Foto von Filiz Polat MdB
25.05.2023

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast auf den Tag genau vor vier Jahren, zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes, haben wir im Plenum über das sogenannte Geordnete-Rückkehr-Gesetz debattiert, und an genau dessen vergiftetes Erbe knüpfen Sie jetzt mit Ihrem Gesetzentwurf an.

(Lachen des Abg. Alexander Throm [CDU/CSU] – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das war ein super Gesetz! Jedenfalls das beste, was mit der SPD halt möglich war!)

Dieses Erbe darf sich jedoch nicht fortsetzen. Im Gegenteil: Wir müssen mit dem Erbe brechen, um die Fortsetzung der Ausgrenzungspolitik der Union zu verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Alexander Throm [CDU/CSU]: Heizungsgesetz 2.0 der Koalition!)

Ohne jede Evidenz wurde damals wie heute die Bekämpfung eines vermeintlichen Abschiebungsdefizits zum Allheilmittel für alle Herausforderungen bei der Aufnahme von Geflüchteten erklärt, um dann im Eiltempo unverhältnismäßige Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte von Geflüchteten zu beschließen.

Schon damals hagelte es von allen Seiten fundamentale Kritik – die SPD weiß das; schmerzlich hat sie es erfahren –: von den Kirchen, den Wohlfahrts- und den Menschenrechtsorganisationen; auch die Justizminister/-innen der Länder machten verfassungsrechtliche und rechtspolitische Bedenken geltend.

Meine Damen und Herren, Abschottung und Abschreckung haben nichts mit den tatsächlichen Herausforderungen bei der Aufnahme, Versorgung und Integration von Schutzsuchenden zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Anke Hennig [SPD])

Wer glaubt, mit dem pauschalen Ruf nach mehr Abschiebungen Kapazitäten zu schaffen, der macht Politik, ohne die Fakten zu kennen, oder er blendet sie bewusst aus.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Aber mit gesundem Menschenverstand! – Abg. Alexander Hoffmann [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Wir brauchen, Herr Hoffmann, weniger Demokratinnen und Demokraten, die mit ihrer Flüchtlingspolitik Ängste gegenüber Geflüchteten schüren; denn wir müssen mittlerweile aufpassen, wes Lied einige in diesem Land in diesen Tagen singen und mit wem sie sich politisch gemeinmachen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE] – Dr. Götz Frömming [AfD]: Auweia!)

Präsidentin Bärbel Bas:

Frau Polat, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein. – Wer sagt, wir hätten ein Abschiebungsdefizit, verkennt, wer die Menschen sind, die in unseren Kommunen unter der Ausreisepflicht leben müssen. Es handelt sich auch hier immer wieder um ein geschicktes Spiel mit Zahlen, bei dem verschwiegen wird, dass die Duldungsgründe so vielfältig sind wie die Lebensgeschichten dieser Menschen, zum Beispiel, weil sie sich in einer Ausbildungsduldung befinden oder weil es von den Bundesländern selbst einen faktischen Stopp von Abschiebungen, etwa nach Syrien, in den Iran oder nach Afghanistan, gibt. Allein 70 000 Menschen sind aus diesen Herkunftsländern noch unter Duldung.

Was bleibt? Anfang dieser Woche stimmten Sie mit viel Enthusiasmus in die Lobeshymnen auf unser Grundgesetz ein, und das zu Recht. Aber es reicht eben nicht, das Grundgesetz einmal im Jahr zu feiern. Sie müssen es ernsthaft verteidigen, und das jeden Tag, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das gilt auch für das Grundrecht auf Freiheit. Menschen sollen für fast einen Monat inhaftiert werden können – im Übrigen auch Jugendliche –,

(Zuruf des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU])

ohne jemals eine Straftat begangen zu haben. Schon bei Einführung der Regelung der Möglichkeit zu Gewahrsamnahme von bis zu vier Tagen und der späteren Erhöhung auf zehn Tage traf die Regelung auf harte Kritik. Meine Damen und Herren, einem Menschen die Freiheit mit der Begründung, organisatorische Abläufe bei der Abschiebung vereinfachen zu wollen, zu entziehen, ist mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz eben nicht vereinbar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist ein Vorschlag des Bundeskanzlers, Frau Polat!)

Die Inhaftierung ist einer der stärksten Eingriffe des Staates in die Rechte eines Menschen. Daher ist es geboten, dass jede Form von Haft immer nur als letztes Mittel angewendet wird. Ich möchte Sie daran erinnern, dass das Grundrecht auf persönliche Freiheit und der daraus abzuleitende Schutz vor unrechtmäßiger und willkürlicher Freiheitsentziehung für alle gilt, egal ob sie deutsche Staatsbürger/-innen sind, egal welchen Aufenthaltsstatus sie haben.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Es gibt aber kein Menschenrecht auf deutsche Sozialleistungen!)

Meine Damen und Herren, wir brauchen eine politische Antwort, die Chancen bietet und letztendlich doch für uns alle Perspektiven eröffnet – für alle von uns. Das Chancen-Aufenthaltsrecht war hier eine große Hilfe. Weitere Reformen beim Spurwechsel müssen und werden folgen. Die Integrationsminister/-innen der Länder haben auf ihrer letzten Konferenz betont, wie notwendig eine Integrationsoffensive ist.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Integration scheitert Tag für Tag!)

Viele Geflüchtete wollen arbeiten, dürfen es aber nicht. Das Arbeitsverbot gehört endlich abgeschafft. Warum machen Sie da eigentlich nicht mit?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE] – Alexander Throm [CDU/CSU]: Wo gibt’s denn noch Arbeitsverbote? – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Erzählen Sie mal, wen das betrifft! Identitätstäuschung!)

Auch der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz ändert an der Notwendigkeit eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nichts. MPK-Beschlüsse ersetzen das parlamentarische Verfahren nicht,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE]] – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das stimmt, wenn es Ihnen so passt!)

vor allem, wenn sie massive Eingriffe in Grund- und Menschenrechte enthalten.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Tränendrüse!)

Meine Damen und Herren, dass Sie dann, auch mit Ihrem Antrag auf sofortige Abstimmung, sprichwörtlich mit dem Grundrecht auf Freiheit von Geflüchteten kurzen Prozess machen wollen,

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Das sind Personen, die sich rechtswidrig in Deutschland aufhalten!)

zeigt einmal mehr, wie Sie es mit unserer Verfassung halten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Zuruf des Abg. Dr. Götz Frömming [AfD] – Alexander Throm [CDU/CSU]: Der Aufenthalt ist rechtswidrig! – Gegenruf der Abg. Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass Sie das aufregt: klar!)

Präsidentin Bärbel Bas:

Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Clara Bünger.

(Beifall bei der LINKEN)