Rede von Kordula Schulz-Asche Beitragsanpassung der Pflegeversicherung

29.11.2018

Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Pflege ist unzweifelhaft von fundamentaler Bedeutung für unser gesellschaftliches Miteinander. Und ihre Relevanz nimmt zu, je stärker unsere Gesellschaft altert. Es wird prognostiziert, dass die Zahl der pflegebedürftigen Menschen bis zum Jahr 2035 um fast 50 Prozent steigt.

Heute werden zwei Drittel aller Pflegebedürftigen von Angehörigen zu Hause gepflegt – oftmals von Frauen, die nicht oder nicht mehr berufstätig sind. Die Babyboomer-Generation konnte diese Aufgabe noch bewältigen. Jüngere Generationen werden wohl überfordert sein; denn sie sind weniger, sie wohnen seltener im gleichen Haus oder gar der gleichen Stadt wie ihre Eltern, und der Anteil berufstätiger Frauen ist gestiegen.

Viele Menschen fragen sich angesichts des heutigen Notstandes in der professionellen Pflege: Wie kann die Pflege in Zukunft sichergestellt werden? Die Antwort darauf ist eine Mammutaufgabe, vor der wir gemeinsam stehen. Um die zu stemmen, braucht es drei Dinge:

Zum einen braucht es eine solide Finanzierung der Pflege. Bereits jetzt sind deshalb 0,3 der 0,5 Beitragspunkte der von Ihnen geplanten Erhöhung nötig, um die Mehrkosten der Pflegereformen der vergangenen Wahlperiode abzudecken. Wir wissen, dass die übrigen 0,2 Beitragspunkte kaum ausreichen werden, um die zukünftigen Kosten für gute Pflege zu decken, die durch die Alterung der Bevölkerung auf unsere Gesellschaft zukommen werden. Und wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie das auch. Schauen Sie sich an, welche Kosten auf uns zukommen, aufgrund des steigenden Pflegebedarfs, erhöhter Qualitätsanforderungen und – hoffentlich – besserer Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte. Wenn Sie dann behaupten, mit dieser Beitragserhöhung eine solide Finanzierung im Blick zu haben, wird eines klar: Sie betreiben Augenwischerei.

Ein Zweites: Es braucht eine gerechte Finanzierung der Pflegeleistungen, beispielsweise in der stationären Langzeitpflege. Hier haben pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen derzeit beim Eigenanteil mit immer weiter steigenden, unberechenbaren Kosten zu kämpfen. Es ist unerträglich, dass rund ein Drittel der Menschen, die in einer Pflegeeinrichtung leben, auf die Unterstützung durch Sozialhilfe angewiesen sind. Pflegebedürftigkeit darf nicht zu Armut führen. Wir müssen die Pflege endlich als gesamtgesellschaftliche Herausforderung betrachten. Die Finanzierung der Pflegeversicherung und der mit Pflege verbundenen Kosten muss dringend neu organisiert werden. Stattdessen machen Sie so weiter und weiter und weiter.

Drittens: Es braucht Mut, um die Veränderungen zu schaffen, die notwendig sind. Uns bleiben höchstens zehn Jahre, um unsere Gesellschaft auf diesen Wandel vorzubereiten. Es gilt, neue Versorgungstrukturen in Stadt und Land zu schaffen, die sich mehr an den Bedürfnissen der Menschen orientieren. Es gilt, die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege so zu stärken, dass all jene, die dies möchten, ihre Angehörigen auch versorgen können. Und es gilt, mehr Menschen für die professionelle Pflege zu gewinnen. Das ist möglich, aber man muss es endlich tun. Sie tun so, als wären mit einer Beitragserhöhung heute die Probleme von morgen gelöst. Aber das ist zu kurz gedacht. Wir müssen uns ehrlich machen, wenn es darum geht, was Pflegebedürftige und Pflegende an Infrastruktur und Unterstützung brauchen. Stellen Sie sich den Herausforderungen und zeigen Sie Mut.

Herr Gesundheitsminister, Mut zeigt sich auch darin, gute Vorschläge aufzugreifen und umzusetzen, wenn sie von anderen kommen – auch von uns. Deshalb fordern wir Sie auf: Prüfen Sie, welche Aufgaben der Daseinsvorsorge von der gesamten Gesellschaft zu tragen sind, wie das bei unseren europäischen Nachbarn längst gang und gäbe ist. Pflegebedürftigkeit ist ein Risiko, das mit einer Versicherung abgedeckt wird, aber gutes Leben im Alter ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Bauen Sie die Pflegeversicherung um, sodass alle Einkommensarten von allen Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern berücksichtigt werden. Verteilen Sie die Kosten für alle auf breitere Schultern, denn nur so kann eine solide und gerechtere Finanzierung steigender Ausgaben gewährleistet werden, ohne die jüngeren Generationen immer höheren finanziellen Belastungen auszusetzen.

Eine gute Pflegeversorgung in einer älter werdenden Gesellschaft sichert nur eine Pflege-Bürgerversicherung, zu der alle Bürgerinnen und Bürger ihren Beitrag leisten.