Rede von Dr. Anja Reinalter Berufliche Bildung

Prof. Dr. Anja Reinalter
26.01.2023

Dr. Anja Reinalter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! 2,3, 10 und 4, das sind die Zahlen, die den Zustand der beruflichen Bildung in Deutschland beschreiben: 2,3 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren hatten im Jahr 2020 keinen Berufsabschluss. 10 Prozent weniger junge Menschen haben seit 2019 einen Ausbildungsvertrag abgeschlossen. Und jede vierte Ausbildung wurde wieder abgebrochen. – Das sind 2,3 Millionen Menschen, die ihre Lebenschancen nicht nutzen können. Das ist ein echtes Problem für Deutschland, und das dürfen wir nicht als Normalzustand akzeptieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ihre Anträge, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und Linke, zeigen mir, dass wir in der Problembeschreibung sehr nahe beieinanderliegen. Wir erkennen alle: In Zeiten des Fachkräftemangels müssen wir alle Potenziale nutzen und dürfen niemanden zurücklassen. Wir müssen aber auch ehrlich sein; denn es handelt sich hierbei um ein strukturelles Problem, das in den letzten 10 bis 20 Jahren gewachsen ist. Das Thema kam also nicht von gestern auf heute, und es wird auch nicht – so ehrlich müssen wir sein – von heute auf morgen verschwinden.

Berufsorientierung ist wichtig; aber etwas mehr Berufsorientierung, der DQR oder KI, wie Sie in Ihren Anträgen vorschlagen, werden das Problem nicht lösen. Wir alle müssen an einem Strang ziehen: Jugendliche, Eltern, Lehrkräfte, Unternehmen, Berufsschulen, Arbeitsagenturen. Es sind einfach alle Beteiligten gefragt. Und, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Ampel zieht hier an einem Strang.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

In den Ministerien für Wirtschaft, Arbeit und Bildung werden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Mit der Ausbildungsgarantie nehmen wir die 2,3 Millionen jungen Menschen ohne Berufsabschluss in den Fokus. Darum kümmert sich das Arbeitsministerium. Es geht darum, junge Menschen dabei zu unterstützen, einen Ausbildungsplatz zu finden, eine Ausbildung abzuschließen, und sie auf ihrem Weg in den Arbeitsmarkt zu begleiten.

Aber Ausbildung ist nicht mehr nur ein Thema für junge Menschen unter 20 Jahren. Die Transformation unserer Wirtschaft bedeutet auch, dass sich neue Berufsbilder und damit neue Jobs eröffnen und dass Menschen in den 30ern und 40ern auch noch mal einen neuen Berufsweg einschlagen können. Darum geben wir mit der Bildungszeit den Menschen, die vom Strukturwandel betroffen sind, eine neue Chance auf dem Arbeitsmarkt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

An dieser Stelle vielen Dank an die Kammern, an die Innungen, an die Verbände für ihren täglichen Einsatz für die berufliche Aus- und Weiterbildung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Und ja, wir haben nicht nur die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Blick, sondern schauen natürlich auch auf die Unternehmen, insbesondere auf die kleinen und mittleren. Mit den Förderprogrammen „Passgenaue Besetzung“ und „Willkommenslotsen“ – die Namen sind Programm – haben wir zwei sehr gute Instrumente, um die KMUs bei der Besetzung von freien Ausbildungsstellen zu unterstützen, auch mit Geflüchteten. Vielen Dank an dieser Stelle unserem Vizekanzler Robert Habeck und seinem Haus, die sich auch im Rahmen der Fachkräftestrategie dafür einsetzen, dass mehr Menschen in die duale Ausbildung kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Und wir machen die berufliche Bildung attraktiver, indem das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit der Exzellenzinitiative die individuelle Berufsorientierung ausbaut, innovatives Lernen fördert und internationale Perspektiven eröffnet. Also, merken Sie sich diese drei i: Wir machen die berufliche Bildung individueller, innovativer und internationaler.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Das alles wird aber noch nicht reichen; denn der demografische Wandel zeigt uns ganz unmissverständlich: Wir brauchen Unterstützung von Fach- und Arbeitskräften aus dem Ausland. Dazu ein Beispiel: Emily, eine junge Frau aus Südafrika – da oben sitzt sie –, ist seit einer Woche als IPS-Stipendiatin bei mir und bereichert unser Team mit ihrer freundlichen Art und ihren interessierten Fragen. Sie hat mir erzählt – das müssen Sie sich mal auf der Zunge zergehen lassen –, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Südafrika bei sage und schreibe 64 Prozent liegt. Selbst die Schlauesten und Fleißigsten stehen dort ohne Job auf der Straße. In Südafrika – und nicht nur dort – gibt es also viel mehr Menschen und viel weniger Arbeit, und bei uns gibt es viel mehr Arbeit und so wenig Menschen. Meine jüngste Tochter würde dazu sagen: Merksch selber?

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kollegen der Union, ich will Sie nicht beraten, aber ich denke, Sie täten gut daran, auf Ihren Daniel Günther zu hören und Zuwanderung als etwas Positives zu begreifen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Stephan Albani [CDU/CSU]: Darum geht es doch die ganze Zeit! – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das habe ich doch gerade gesagt in meiner Rede!)

Taktisches Blinken nach rechts schadet unserem Ansehen und unserer Wirtschaft. Wir brauchen nämlich nicht nur Zuwanderung. Wir brauchen auch ein wirklich freundliches Gesicht,

(Kerstin Radomski [CDU/CSU]: Fachkräfte!)

das den Menschen sagt: Ihr seid hier willkommen. Wir möchten, dass ihr euch bei uns wohlfühlt und dass wir mit euch zusammen in die Zukunft arbeiten.

(Stephan Albani [CDU/CSU]: Es geht um Berufsorientierung!)

Genau dieser Blick über den Tellerrand fehlt Ihren Anträgen, und darum lehnen wir sie ab.

(Stephan Albani [CDU/CSU]: Daneben!)

Wir machen die berufliche Bildung individueller, innovativer und internationaler. Jeder und jede hat ein Recht auf diese Chance.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Nicole Gohlke hat das Wort für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)