Lamya Kaddor
19.10.2022

Lamya Kaddor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe eine gute Nachricht: Wir sind im Hier und Jetzt angekommen. Mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht gehen wir die erste in einer Reihe von modernen Einwanderungsregelungen an und machen Schluss mit einer Politik der Angst.

Die zurückliegenden Legislaturperioden waren vor allem geprägt von Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts. Wir wenden uns dem Thema dagegen mit einer positiven Grundhaltung zu und vollziehen somit nichts weniger als einen Paradigmenwechsel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Wir schauen auf die Chancen von Migration, nicht mehr nur auf die Probleme. Wir stellen die Weichen für eine Integrationspolitik der Zukunft – eine, die um die Herausforderungen weiß, die ein Einwanderungsland mit sich bringt. Wir machen das gut und gerne, auch wenn es nicht leicht ist.

Sobald das Wort „Migration“ fällt, gibt es Fragen, Ängste, Sorgen. Dabei ist Migration eine historische Normalität seit Menschengedenken. Sie ist nichts Außergewöhnliches, das wie eine Katastrophe über uns kommt. Nicht die Migration ist folglich das Problem, sondern der Umgang damit, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Aha!)

Schauen wir aber ins Land, wissen wir: Die Gesellschaft, die Menschen sind schon oft weiter, viel weiter. Jede vierte Person in diesem Land hat eine internationale Familienbiografie.

Das Thema wird stets benutzt für Populismus. Es steckt voller Angstmacherei, Mythen, Halbwahrheiten und Lügen – fragen Sie Herrn Merz! Wenn Sie von der Union nun statt von „Sozialtourismus“ über sogenannte Pull-Faktoren sprechen, dann sollten wir noch einmal klarstellen

(Beatrix von Storch [AfD]: Was sagen Sie denn zu Ludwigshafen?)

– ich spreche Sie gar nicht an; ist aber auch egal –: Das Chancen- Aufenthaltsrecht lockt sicherlich niemanden mehr hinterm Ofen hervor; denn das würde bedeuten, erst mal fünf Jahre in der Duldung zu leben, möglicherweise die Familie nicht hierzuhaben und danach ein Jahr lang auf Probe Teil dieser Gesellschaft zu sein.

(Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

Es geht also darum, Menschen, die bereits hier sind, eine Chance zu geben.

Die Süssmuth-Kommission hat im Übrigen in ihrem Bericht im Jahre 2001 die Abschaffung der Kettenduldung gefordert. Das ist jetzt 21 Jahre her, und nun machen wir endlich einen großen Schritt in die richtige Richtung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Ich komme aus Duisburg, und wir sind Industriestadt. Spreche ich vor Ort mit Vertreterinnen und Vertretern der Stahlbranche oder der IHK, kommen zahlreiche Beispiele von gutausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die plötzlich in der Abschiebung landen, nachdem sie und ihre Unternehmen sich um Arbeitsplatz, Wohnung oder Kinderbetreuung gekümmert haben. Das hier, das können wir uns nicht mehr leisten – weder moralisch noch wirtschaftlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht erhalten geduldete Personen, die seit fünf Jahren straffrei in Deutschland leben,

(Beatrix von Storch [AfD]: Illegal in Deutschland leben! – Thomas Ehrhorn [AfD]: Wovon leben die denn fünf Jahre lang?)

endlich eine menschenrechtskonforme Perspektive. Das betrifft über 240 000 Menschen, deren Asylanträge abgelehnt wurden, die aber auch nicht in ihre Heimat zurückkehren können, weil dort beispielsweise Krieg herrscht, die Taliban oder Diktatoren herrschen und regieren. Das bedeutet, sie sind in der Regel für wenige Monate vor einer Abschiebung geschützt; danach wird erneut geprüft. Diese entwürdigende Praxis werden wir gemeinsam in der Ampel endlich beenden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Mit diesem Aufenthaltsrecht auf Probe haben die Betroffenen die Chance, die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis auf Dauer zu erbringen. Das ist ein langersehnter Meilenstein in der Asylpolitik; denn damit ermöglichen wir einen Spurwechsel: Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben, aber bisher kein Asyl erhalten haben,

(Beatrix von Storch [AfD]: Weil sie kein Recht auf Asyl haben!)

bekommen eine Chance.

Ganz nebenbei gewinnen wir somit auch zehntausend motivierte Arbeitskräfte, die unser Land so dringend benötigt.

(Beatrix von Storch [AfD]: Genau! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Und wie viele in den sozialen Sicherungssystemen?)

– Sie können so lange reinschreien, wie Sie wollen; es nützt Ihnen nur nichts. – Mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht leisten wir also einen Beitrag gegen den Arbeitskräftemangel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Gerade Handwerksbetriebe und mittelständische Unternehmen werden von der Neuregelung profitieren.

(Beatrix von Storch [AfD]: Ja, das sehen wir ja auch schon die ganze Zeit! Klappt super!)

Viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber müssen sich nicht mehr fragen, ob ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Duldung womöglich von heute auf morgen abgeschoben werden müssen. Rund 130 000 Menschen, die länger als fünf Jahre hier leben und geduldet sind, können direkt von dieser Regelung profitieren. Viele Geduldete, die jahrelang in Angst vor einer Abschiebung leben mussten, erhalten endlich die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Warum schieben Sie sie nicht ab?)

Zu einem pragmatischen Verfahren im Aufenthaltsrecht gehört dann eben auch das Prinzip „Ausbildung statt Abschiebung“ – eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Am Ende noch ein Wort zu all jenen

(Zuruf von der AfD)

– jetzt bin ich mal dran –, die Migration für rechten Populismus missbrauchen; also fühlen Sie sich ruhig angesprochen. Als weiteren großen Schritt braucht es ein gutfunktionierendes Einwanderungsgesetz, wie es die Ampelkoalition ebenso anstoßen wird. Deshalb werden wir unter anderem sowohl das Staatsangehörigkeits- als auch das Familien- und auch das Einwanderungsrecht reformieren. Wir wollen auch das Asylprozessrecht reformieren und damit eine unabhängige Asylverfahrensberatung einführen. Wir verstehen Vielfalt als Chance und gleichzeitig als Ressource auf dem Arbeitsmarkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Und ja, wir wissen um die krisenhafte Zeit, in der wir uns gerade befinden. Aber eine Bewältigung dieser Zeit auf Kosten von Humanität ist für uns inakzeptabel und menschenverachtend.

(Beatrix von Storch [AfD]: Sie sind menschenverachtend den Menschen in diesem Land gegenüber!)

Ich freue mich also, dass wir in der Gegenwart angekommen sind und uns endlich zu unserem Einwanderungsland bekennen – einfach, weil wir eines sind.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gottfried Curio für die AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD sowie des Abg. Matthias Helferich [fraktionslos])