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02.12.2022

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht und der Verbesserung der bestehenden Bleiberechtsregelung für gut integrierte Geduldete, der Einführung – endlich – einer bundesfinanzierten, behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung, der Erleichterung des Familiennachzugs mit Wegfall der Spracherfordernis vor der Einreise, der Öffnung der Integrationskurse in einem ersten Schritt und der Abschaffung der anlasslosen Widerrufsprüfung setzen wir unsere ersten zentralen flüchtlingspolitischen Vorhaben um, für die wir Grüne lange gekämpft haben. Das ist ein Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es geht um Reformen, die von der Zivilgesellschaft, den Kirchen, Herr Frei, Gewerkschaften und nicht zuletzt der Wirtschaft seit Jahren als längst überfällig erachtet wurden. Wer daran noch gezweifelt haben sollte, den muss die Sachverständigenanhörung zum Chancen-Aufenthaltsrecht vom vergangenen Montag, liebe Frau Lindholz, nun wirklich eines Besseren belehrt haben.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Auf welcher Veranstaltung waren Sie? – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Was schaffen wir mit dieser Reform? Wir ziehen die Konsequenz daraus, dass die bisherigen Bleiberechtsregelungen aus 16 Jahren unionsgeführter Innenpolitik ins Leere gelaufen sind. Deshalb schaffen wir das Chancen-Aufenthaltsrecht. Mehr als 137 000 Menschen sollen vom kommenden Jahr an aus dem System der entwürdigenden Kettenduldung geholt werden und endlich eine Perspektive in Deutschland bekommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Alle, die seit fünf Jahren geduldet oder gestattet hier leben, bekommen in dem Chancenjahr einen gesicherten Status, um die Voraussetzungen für ein dauerhaftes Bleiberecht zu erfüllen, zu arbeiten, wenn sie bisher keine Beschäftigungserlaubnis hatten, Sprachkenntnis zu erwerben, wo ihnen bisher der Zugang zum Integrationskurs verwehrt wurde, und sich Identitätsnachweise zu besorgen, soweit die Herkunftsländer diese überhaupt ausstellen.

Von was für Menschen sprechen wir, meine Damen und Herren? Beispiele haben uns und Ihnen allen Flüchtlingsräte, Kirchen, Handwerkskammern, Handelskammern zugeschickt: der junge Eritreer, der schon fünf Jahre in Deutschland gelebt, erfolgreich eine Lehre zum Koch abgeschlossen hatte und dessen Arbeitgeber alles tat, um eine befristete Arbeitserlaubnis zu beschaffen. Am Ende verhängten die Behörden die unsägliche „Duldung light“, und ihm wurde eine Beschäftigung dauerhaft verweigert.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Genau das Richtige! – Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Weil seine Identität nicht geklärt war!)

Oder der Afghane, seit sieben Jahren bei uns, erfolgreich die Ausbildung zum Metallbauer abgeschlossen, von seiner Firma übernommen, Sozialbeiträge bezahlt, im örtlichen Fußballverein spielend, engagiert in der Kirchengemeinde:

(Beatrix von Storch [AfD]: Der Herzchirurg!)

Den mündlichen Sprachnachweis packt er, aber nicht den schriftlichen, weil er Legastheniker ist, belegt durch Atteste und Gutachten. Meine Damen und Herren, das ist entwürdigend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN)

Dagegen helfen keine Dauerparolen der Abgrenzung, der Diffamierung und der Spaltung, sondern eine Antwort, die Chancen bietet und – letztendlich doch für uns alle – Perspektiven eröffnet. Daher laden wir Sie herzlich ein, mitzumachen. Auch in Ihren Wahlkreisen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, gibt es unzählige Betriebe, die das alles genauso sehen und Ihnen die Frage stellen werden, warum Sie diese Reform abgelehnt haben,

(Dr. Alice Weidel [AfD]: Nee! Weil die mit denen nämlich gar nichts anfangen können!)

warum die junge Geduldete aus Hannover, als Intensivpflegerin tätig, abgeschoben werden soll.

(Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! Genau! – Konstantin Kuhle [FDP]: So ist es!)

Für die Wirtschaft, den Deutschen Industrie- und Handelskammertag, das Bündnis aus Unternehmen für ein Bleiberecht aus Baden-Württemberg und auch für uns ist klar: Ausbildung statt Abschiebung!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren, die Koalition wird das Chancenjahr nach den wichtigen Hinweisen aus der Anhörung nun auf 18 Monate verlängern. Die Verschiebung des Stichtags um zehn Monate wird dazu führen, dass mehr Menschen von der Regelung profitieren können. Wir werden außerdem mit den Verbesserungen bei den bestehenden Bleiberechtsregelungen weitere Möglichkeiten für Geduldete eröffnen. Beim bisherigen Bleiberecht ermöglichen wir für gut integrierte Jugendliche bereits nach drei Jahren, für Familien nach vier Jahren und für alleinstehende Erwachsene nach sechs Jahren den Spurwechsel zusätzlich zum Chancen-Aufenthaltsrecht und einen gesicherten Aufenthaltstitel. Die Altersgrenze von 21 Jahren – ebenfalls lange gefordert – beim Bleiberecht für gut Integrierte setzen wir auf 27 Jahre hoch. Auch das ist ein ganz wichtiger Beitrag, um aus den unsäglichen Kettenduldungen rauszukommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Mit den Änderungen, die wir Ihnen zu diesem Gesetz heute vorlegen, werden wir auch eine einjährige Vorduldung für Jugendliche und junge Erwachsene nach dem Bleiberecht für gut Integrierte einführen. Wir halten diese Vorduldungsfrist für falsch, tragen sie aber als Kompromiss mit.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und FDP, wir sollten aber schon jetzt prüfen, ob nicht alternative Möglichkeiten im Migrationspaket bestehen. Denn wenn junge Menschen, die sich trotz eines langen Asylverfahrens gut integriert oder ihren Aufenthaltstitel verloren haben, weil sie ihren eingeschlagenen Bildungsweg ändern müssen oder mussten, nicht abgeschoben werden sollen, müssen wir das gesetzlich sicherstellen und nicht über Härtefallkommissionen heilen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Abschließend zwei wichtige Punkte zu den Änderungen im Asylgesetz. Endlich kommt sie, die gesetzliche Verankerung für eine flächendeckende behördenunabhängige Asylverfahrensberatung – das wird in jedem Fall zu einer höheren Qualität der Asylbescheide führen –, und außerdem ist eine Rechtsberatung vor der Anhörung für uns unglaublich wichtig und auch europarechtlich geboten.

Last, but not least: Die Praxis der anlasslosen Widerrufsprüfung positiver Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge war und ist ebenso unverhältnismäßig wie aufwendig. Beim BAMF wurden unzählige Personalkapazitäten gebunden, die an anderer Stelle für die Beschleunigung der Asylverfahren benötigt werden. Die Neuregelung wird zu einer enormen Entlastung beim BAMF führen.

Am Ende möchte ich mich ganz herzlich beim Innenministerium, heute stellvertretend bei Herrn Özdemir, und den Kolleginnen und Kollegen für die guten Beratungen bedanken. Ich empfehle dem Hohen Haus die Zustimmung zu diesen beiden Gesetzen.

Ich bedanke mich für Ihre und eure Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsidentin Bärbel Bas:

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Bernd Baumann.

(Beifall bei der AfD)