Rede von Annalena Baerbock Familie, Senioren, Frauen und Jugend

22.03.2018

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, herzlichen Glückwunsch zum Amt! Es freut uns, eine Frau vom Fach zu haben. Das hätte manchen Männern auch ganz gut angestanden.

(Beifall der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])

Nichtsdestotrotz möchte ich darauf hinweisen, dass warme Worte allein die großen Probleme in diesem Bereich nicht lösen können. Anknüpfend an das, was Norbert Müller gerade vorgetragen hat, sage ich: Sie müssen sich den Koalitionsvertrag noch einmal genau vornehmen. Die Bundeskanzlerin hat hier gestern zu Recht gesagt: Wir alle sind Deutschland. – Dann kann es nicht sein, dass sie damit nur das Kind in Schwabing oder in Berlin-Mitte meint. Alle Kinder gehören zu Deutschland, ganz egal, wo sie leben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Koalitionsvertrag grenzt 2,7 Millionen Kinder kategorisch aus, weil die Familienförderung da nicht ankommt. Das ist eine Schande, sehr verehrte Damen und Herren!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Die geplante Kindergelderhöhung – das wurde hier schon mehrfach angesprochen, aber ich möchte es noch einmal sagen; denn Sie können gegen Kinderarmut nichts tun, wenn Sie den Koalitionsvertrag an dieser Stelle nicht ändern – bringt ALG-II-Empfängern gar nichts. Es wird auch auf den Unterhaltsvorschuss angerechnet.

Was bedeutet das? Jeder hier, der Kinder hat, weiß ganz genau: Wenn ein Kind zum Kindergeburtstag geht, dann nimmt es ein Geschenk mit. Wenn in einer Familie das Geld am Ende des Monats dafür nicht reicht, dann geht das Kind nicht zum Kindergeburtstag. Das bedeutet, dass manche Kinder auf dem Schulhof spielen, weil sie eben nicht am Mittagessen teilhaben können. Und es bedeutet auch, dass Kinder nicht zum Abiball gehen oder auf Schulfahrten mitfahren. Das kann nicht sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Die größte Schande in unserem Land ist die unsichtbare Armut. Da müssen Sie ran, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Ich komme zum Kinderzuschlag. Sie haben zu Recht gesagt, Sie haben da etwas getan. Das ist auch schön und gut. Aber bitte, Frau Ministerin, schauen Sie sich auch hier noch einmal den Koalitionsvertrag an; denn das Geld im Koalitionsvertrag spricht eine ganz andere Sprache. Sie manifestieren im Koalitionsvertrag die Ausgrenzung von Kindern. Sie stellen nämlich wieder nur 1 Milliarde Euro für den Kinderzuschlag bereit. Allerdings beträgt der Bedarf 3 Milliarden Euro. Was bedeutet das im Hinblick auf die 2 Milliarden Euro, die für die Kinder eigentlich nötig wären, die diesen Kinderzuschlag noch nicht erhalten? Es bedeutet: Sie wollen hier gar nichts ändern. Deswegen müssen Sie erneut an den Kinderzuschlag ran.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Zum Bildungs- und Teilhabepaket. Das Schulessen ist ein guter erster Punkt. Aber es geht eben nicht nur um das Schulessen. Jeder, der schon einmal ein entsprechendes Formular ausgefüllt hat, weiß – Sie haben die Patenschaften angesprochen; ich selbst habe eine syrische Patenfamilie –, wie kompliziert das ist. Ich habe es einmal versucht. Bei der Schulklassenfahrt ist es mir noch gelungen. Aber bei den Stiften und Büchern musste ich sagen: Sorry, ich kann leider nicht jeden Fisselkram beantragen. – Das geht nicht, sehr verehrte Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie müssen das Bildungs- und Teilhabepaket so gestalten, wie das Bundesverfassungsgericht es Ihnen vorschreibt. Auch da müssen Sie ran, liebe Ministerin.

Wir unterstützen das Festschreiben von Kinderrechten im Grundgesetz; denn, liebe AfD, Kinder sind keine kleinen Erwachsenen: Kinder sind Kinder und haben eigene Rechte in diesem Land.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Aber diese Kinderrechte bringen gar nichts, wenn sie nicht zur Wirkung kommen, wenn die Bürokratie dazu führt, dass sie von Kindern nicht gelebt werden können. Daher brauchen wir in diesem Bereich eine Änderung. Das müssen Investitionen in Institutionen sein, wo man nicht erst versetzungsgefährdet sein muss, um Nachhilfe beantragen zu können. Wie absurd ist das denn?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Im Bereich des Kitaausbaus und der Kitaqualität wünsche ich mir, dass Sie etwas Neues vorlegen; das haben Sie gesagt. Wir werden Sie mit allem unterstützen, was wir haben. Das muss dann aber auch eine Ansage an das Finanzministerium sein;

(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: An die Länder!)

denn Sie können den Familien nicht einen Apfel für eine Birne verkaufen. Das geht einfach nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schauen Sie sich an, was da eingestellt ist. Auch die Länder hatten einen Beschluss zum Qualitätsentwicklungsgesetz für Kitas. Sie haben Ihnen vorgerechnet, wie viel das kostet. Sie haben gesagt: Zu Beginn des Jahres 2018 brauchen wir 1 Milliarde Euro. 2022 brauchen wir schon 5 Milliarden Euro zusätzlich, damit die Kinder in den Kitas so unterstützt werden können, dass sie nicht nur einfach aufbewahrt werden, sondern dass man auch mit ihnen spricht, dass man das Kind begrüßt, wenn es ankommt, und es auf den Arm nimmt, wenn es nach seiner Mutter weint, dass man ihm auch einmal etwas vorlesen kann. Dafür brauchen wir Erzieherinnen und Erzieher. Es kann nicht sein, dass sich nur eine Erzieherin um sechs oder sieben zweijährige Kinder kümmert. Wer kleine Kinder hat, der weiß: Man ist manchmal schon mit zweien überfordert. Deswegen müssen Sie da genau hingucken. Und Sie müssen Geld nachlegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Länder haben gesagt: Für die Kitaqualität brauchen wir zusätzlich 9 Milliarden Euro. Was stellen Sie in Ihren Haushalt ein? 3,5 Milliarden Euro. Und Sie setzen dem Ganzen noch die Krone auf, indem Sie sagen: Zauber, Zauber, Fidibus, von diesen 3,5 Milliarden Euro wollen wir auch noch die Beitragsfinanzierung kostenfrei stellen. – Das geht nicht. Deswegen müssen Sie endlich an die Kitafinanzierung ran.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Zuletzt möchte ich einen Punkt erwähnen – die Kollegin Frau Suding hat ihn auch schon angesprochen –, um den ich mich auch ein bisschen sorge. Gestern im Ausschuss haben Sie ein einziges Wort zu Frauen gesagt. Und auch hier ist das Thema wieder ein bisschen hinten runtergefallen. Das geht nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie sind Ministerin für Familie, Senioren, Kinder, aber auch für Frauen. Dass wir eine laute Familienministerin und eine laute Frauenministerin brauchen, haben wir im Hinblick auf den Kollegen Herrn Spahn gesehen. Es kann nicht sein, dass wir bei solchen Themen einfach nur so daherreden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – ­Grigorios Aggelidis [FDP]: Können Sie das Mikro leiser stellen?)

Wir machen alle Politik und kennen uns manchmal nicht aus. Natürlich kann ein Mann nicht wissen, wie es ist, wenn man schwanger ist. Er kann sich aber darüber informieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man in der Situation ist und nicht weiß, ob man eine Abtreibung vornehmen lassen soll oder nicht, dann braucht man keine klugen Ratschläge, dann braucht man Informationen und eine Frauenärztin, die einem hilft.

(Jürgen Braun [AfD]: Hören Sie mal auf mit Ihrer Brüllorgie!)

Und aus den Erfahrungen in einem Flächenlandes kann ich Ihnen sagen: Wenn die nächste Praxis einer Frauenärztin 50 Kilometer weit entfernt ist, dann brauche ich eine Liste, um zu wissen, welche Frauenärztin das macht. Deswegen bitte ich Sie: Gehen Sie das Thema § 219a an.

(Jürgen Braun [AfD]: Warum brüllen Sie so rum? – Dr. Alice Weidel [AfD]: Stellen Sie mal das Mikro leiser!)

Das erwarten die Frauen in diesem Land.

Herzlichen Dank. Auf eine gute Zusammenarbeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Alte Männer sehen das anders! – Jürgen Braun [AfD]: Lärmbelästigung am Arbeitsplatz ist das!)