Rede von Sascha Müller Familiensplitting

Sascha Müller MdB
01.12.2022

Sascha Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Richtig ist: Familien leiden besonders unter der aktuellen Situation, unter den hohen Inflationsraten. Deswegen reagieren die Bundesregierung und wir als Ampelfraktionen darauf und entlasten die Familien in der Krise gezielt durch die Anhebung des Kindergeldes auf 250 Euro für alle kindergeldberechtigten Kinder ab dem kommenden Jahr, durch die ebenfalls im Inflationsausgleichsgesetz angepassten Kinderfreibeträge rückwirkend ab 2022, durch den Kinderbonus in Höhe von 100 Euro in diesem Jahr, durch 20 Euro im Monat für von Armut betroffene Kinder als Kindersofortzuschlag und auch durch im Zuge der Einführung des Bürgergeldes gestiegene Regelsätze für Kinder.

Ganz aktuell: Im Jahressteuergesetz steht morgen die Anhebung des Entlastungsbetrages für Alleinerziehende um 252 Euro auf 4 260 Euro zur Abstimmung.

(Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Gut gemacht! – Johannes Steiniger [CDU/CSU]: Endlich der CDU gefolgt!)

Parallel arbeiten wir an einer Steuergutschrift für diesen Personenkreis. Rund 20 Prozent der Kinder in Deutschland werden bei Alleinerziehenden groß; das ist also gewiss kein Nischenthema. Wir werden diese Eltern in die Lage versetzen, ihre Familien zu ernähren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Das sind Entlastungen, die wir schon auf den Weg gebracht haben und auf den Weg bringen werden. Das sind Entlastungen, die gebraucht werden. Das sind Entlastungen, die ankommen und die schließlich helfen.

Jetzt kommt die AfD mit dem Antrag zum Familiensplitting und will uns ein Familiensplitting im Einkommensteuertarif unterjubeln, als Maßnahme, um Familien zu unterstützen bzw., wie ich im Antrag lese, wohl auch, um die Geburtenrate zu erhöhen. Also, die Zahl der Geburten in Deutschland in den letzten Jahren liegt laut Statistischem Bundesamt konstant bei über 700 000 Geburten im Jahr und ist eher gestiegen – aber gut.

(Martin Reichardt [AfD]: Ja, es sterben aber auch 1 Million!)

– Auf diesen Zwischenruf habe ich gewartet. Danke. Er zeigt Ihr Menschenbild.

Was genau würde so ein Familiensplitting denn bewirken? Wer profitiert davon? Ist das eine Maßnahme, die Familien zielgerichtet entlasten soll? Das DIW hat dazu schon 2013 festgestellt, dass die hohen Kosten einer solchen Maßnahme in keinem Verhältnis zum geringen Nutzen für die Familien, die von dieser Maßnahme profitieren sollen, und zu den politischen Zielen stehen. Das gilt auch heute noch.

Die Kindergrundsicherung, die unsere Fortschrittskoalition auf den Weg bringen wird, ist die eindeutig effektivere Maßnahme, um Kindern aus Familien mit geringen Einkommen zu besseren Startchancen und mehr Chancengleichheit zu verhelfen. So viele Jahre haben wir dafür gekämpft. Ich freue mich darauf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Hinzu kommt: Das Familiensplitting folgt dem Ehegattensplitting. Damit kann diese Debatte auch nicht geführt werden, ohne darauf hinzuweisen, dass die Idee des Ehegattensplittings auf dem aus der Zeit gefallenen Leitbild der klassischen Alleinverdienerehe basiert, da so die traditionelle Arbeitsteilung und innerfamiliäre Rollenzuweisung steuerlich subventioniert werden.

(Sebastian Brehm [CDU/CSU]: „Aus der Zeit gefallen“!)

Seit vielen Jahren setzt sich meine Fraktion dafür ein, dass das Ehegattensplitting für künftige neugeschlossene Ehen zugunsten einer Individualbesteuerung mit übertragbarem Freibetrag entfallen soll Das würde der heutigen Lebenswirklichkeit viel besser entsprechen und Menschen deutlich mehr Freiheiten in Bezug auf ihr gewünschtes Lebensmodell geben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Koalitionsvertrag konnten wir uns leider noch nicht auf diese grundlegende Reform einigen. Ich glaube, die Zeit dafür wäre reif. Was wir aber in dieser Koalition angehen werden und was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, ist, dass wir für den Lohnsteuerabzug die Steuerklassen III und V in das Faktorverfahren der Steuerklasse IV überführen werden. Das hebt die starke Benachteiligung gerade von Frauen bei Lohnersatzleistungen auf. Eigenständige Existenzsicherung als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben von Frauen und Männern ist noch ein entferntes Ziel, das diese Koalition mit ihrer Gleichstellungsstrategie aber angeht.

Familien brauchen viel mehr als nur Geld. Sie brauchen unter anderem flexible Arbeitszeitmodelle. Auch ich denke, dass wir dahin kommen müssen, dass beispielsweise eine 30-Stunden-Woche irgendwann in der nicht allzu fernen Zukunft für Eltern von Kleinkindern ein Leitbild wird und für kein Elternteil als Karrierehindernis gilt. Mehr als 60 Stunden bezahlte und unbezahlte Arbeit verrichten die Eltern kleiner Kinder jüngsten Erhebungen zufolge. Das zeigt, dass diese Idee einer kürzeren Erwerbsarbeitszeit pro Woche nicht nur Utopie sein darf.

(Jörn König [AfD]: Gute Idee! Kann man machen!)

Und ja, das sagt sich leicht am Redepult dieses Hohen Hauses, und diese Forderung klingt angesichts der Realität in der Politik, die nun wirklich keine familienfreundlichen Arbeitszeiten kennt und von diesem Leitbild sehr weit entfernt ist, aus dem Mund eines Abgeordneten zugegebenermaßen auch ein Stück weit paradox. Auch uns Politikerinnen und Politikern täte ein Perspektivwechsel hier wirklich gut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Was noch nötig ist, ist, das Caresystem massiv auszubauen. Dazu gehört eine gute und flächendeckend verfügbare Kinderbetreuung. Leider hat gerade mein Bundesland Bayern hier erheblichen Nachholbedarf. Die Bertelsmann-Stiftung hat erst vor wenigen Wochen ihren Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme 2022 veröffentlicht, und sie kommt darin zu dem Schluss, dass insbesondere in Bayern erheblicher Handlungsbedarf besteht. Die Zahlen sind alarmierend. Es müssten demzufolge 61 900 Plätze geschaffen werden, um den Rechtsanspruch für alle Kinder, deren Eltern einen Betreuungsbedarf haben, erfüllen zu können. Und laut dem aktuellen Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule der Stiftung sieht es für das Ganztagsangebot an Grundschulen auch nicht gerade gut aus. Hier rechnet sie mit einer erheblichen Fachkräftelücke bei der Kinderbetreuung. Das erfordert dringend einen Perspektivwechsel. Hier müssen wir einfach besser werden.

Noch einmal: Nicht alle Menschen haben die gleichen Bedürfnisse; aber Familien in all ihrer Unterschiedlichkeit verdienen unseren Respekt und unsere Unterstützung.

Zurück zum Antrag der AfD. Er greift zu kurz, er ist nicht finanzierbar, er setzt auf ein untaugliches Instrument, und vor allem atmet er den Geist eines überholten Familienbildes. Wir werden diesen Antrag ablehnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Für die Fraktion Die Linke hat Janine Wissler das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)