Rede von Dr. Franziska Brantner Freizügigkeit in Europa

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09.10.2020

Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über die Freizügigkeit in der Europäischen Union. Sie ist ein hohes Gut. Sie bietet uns die weltweit einzigartige Freiheit, sich überall in der EU frei zu bewegen, zu wohnen, zu studieren, eine Ausbildung zu machen, zu arbeiten, zu leben und zu lieben. Dieses Gesetz macht dies auch zukünftig für die hier schon lebenden Briten möglich, und das ist richtig und wichtig; denn sie können ja nicht die Leidtragenden des Brexit sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es ist auch gut, dass Sie jetzt endlich die Freizügigkeitsrichtlinie richtig umsetzen; Sie haben das Vertragsverletzungsverfahren schon angesprochen. Es ist richtig, dass auch auf Druck der Opposition und aufgrund der Kritik der Verbände der Sozialleistungsausschluss wieder herausgeflogen ist. Es geht hier schließlich um EU-Bürgerinnen und EU-Bürger und ihre Freizügigkeit. Es ist auch besser, dass nahestehende Personen wie Pflegekinder, Lebenspartner, Geschwister, Tanten und Onkel nur noch glaubhaft darlegen müssen, dass sie zur Familie gehören. Noch besser wäre es gewesen, man würde sie einfach zu dem zählen, was sie sind: Familie.

Und an die AfD gerichtet: Es ist interessant, dass für Sie Tante und Onkel keine Familie sind, Pflegekinder nicht relevant sind.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Das habe ich nicht gesagt! – Beatrix von Storch [AfD]: Dummes Zeug!)

Es ist schon sehr bezeichnend, was für einen begrenzten Familienbegriff Sie haben, wonach selbst Pflegekinder nicht dazugehören. Das muss man mal in aller Deutlichkeit sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wir sollten in diesem Moment auch daran erinnern, dass die Kampagne zum Brexit durch die Angst vor osteuropäischen Arbeitskräften und Attacken gegen sie geschürt wurde. Lassen Sie uns hier alle daraus lernen, gerade auch mit Blick auf das, was die AfD hier gesagt hat. Wir wissen doch, dass osteuropäische Arbeitskräfte unsere Familien in Deutschland stabilisieren. Was wären denn unsere Familien, unsere Älteren in dieser Gesellschaft ohne osteuropäische Pflegekräfte?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir wissen doch, dass sie bei uns auf den Äckern die Erdbeeren pflücken. Wir wissen doch, wo sie arbeiten und wie stark sie unsere Wirtschaft voranbringen. Freizügigkeit ist eben kein Almosen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

sondern sie liegt in unserem ureigenen Interesse und ist ein Fundament der Europäischen Union, das wir zu verteidigen haben und mit stolzer Brust verteidigen können. Das ist nichts, was wir preisgeben wollen.

Erlauben Sie mir, am Ende noch mal auf eines zu kommen.

Vizepräsident Thomas Oppermann:

Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kleinwächter?

Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja.

(Manuel Höferlin [FDP]: Redezeitverlängerung! Prima!)

Norbert Kleinwächter (AfD):

Werte Frau Kollegin, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – Zunächst einmal: Die Pflegekinder hatte ich nicht in meine Rede aufgenommen; das möchte ich an dieser Stelle korrigieren.

Aber Sie haben viel von Almosen und vom Leistungsausschluss für potenzielle EU-Bürger gesprochen, den Sie kritisiert haben. Sie haben ausgeführt, dass EU-Bürger, die in Deutschland leben, insbesondere osteuropäische Arbeitnehmer, grundsätzlich die Wirtschaft fördern, und die Frage aufgeworfen: Was wären unsere Familien ohne sie?

Sie haben sicherlich auch die Sachverständigengutachten gelesen, die in der Anhörung vorlagen. Dort gibt es mehrere Beispiele – ich möchte noch mal auf das Beispiel zurückkommen, das ich genannt hatte – von Menschen, die eben keineswegs viel arbeiten, sondern zum Beispiel ein unzureichendes Einkommen haben, um sich selbst zu unterhalten. Sind Sie der Ansicht, dass Menschen, die hier auf Sozialleistung leben, darauf angewiesen sind und auch teilweise explizit in dieses Land kommen, um Sozialleistungen zu beziehen, die Wirtschaft in unserem Land stärken?

Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Zu Ihrem ersten Punkt. Sie haben vorhin gesagt, dass Nahestehende keine Familie sind, und darunter fallen die Pflegekinder.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Von daher haben Sie das explizit so gesagt. Es ist wirklich tragisch, dass Sie so eine enge Definition von „Familie“ haben. Das ist überhaupt nicht mehr der Spiegel dessen, wie wir als Gesellschaft leben und auch leben wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Zu Ihrem zweiten Punkt. Der Bürger, von dem Sie gesprochen haben, hat Arbeit. Das ist das Zentrale: Er arbeitet hier, und natürlich darf dann auch seine Familie hier sein. Das gehört in der Europäischen Union zusammen. Wir sind kein Land, das sagt: „Der Mann darf kommen, aber seine Frau nicht“;

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Zurufe von der AfD)

das gilt erst recht für europäische Bürgerinnen und Bürger. Wenn wir das infrage stellen, dann ist doch genau Ihr Punkt, dass die Ehe heilig ist, überhaupt nicht abgedeckt.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Die sind ja nicht verheiratet!)

Jetzt würde ich gerne am Ende noch auf die unverheirateten internationalen Paare zu sprechen kommen.

(Konstantin Kuhle [FDP]: Sehr gut!)

Herr Seehofer hat jetzt schon wieder mit dem Finger nach Brüssel gezeigt – fast einen Monat später – und nichts getan.

(Konstantin Kuhle [FDP]: Unglaublich!)

In Brüssel sitzt aber niemand, der da was tun kann, sondern auch auf Innenministerebene hat die rollierende Ratspräsidentschaft die Verantwortung inne, und es ist nun mal Herr Seehofer, der als Teil der deutschen Ratspräsidentschaft dafür verantwortlich ist. Es ist unglaublich, dass Seehofer sich hier der Verantwortung entzieht und diese Menschen einfach im Stich lässt. Ich kann es nur noch mal sagen: „Love Is Not Tourism“, Liebe ist kein Tourismus. Herr Seehofer, tun Sie endlich was! Diese Menschen haben sich seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Das ist unerträglich, und das kann man mit keiner Coronaregel mehr begründen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Vizepräsident Thomas Oppermann:

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Marian Wendt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)