Rede von Erhard Grundl Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs
Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 7. Dezember jährt sich zum 50. Mal der Tag, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt am Mahnmal des Warschauer Ghettos stumm auf die Knie niedersank, demütig die Schuld annehmend, die Deutsche mit dem beispiellosen Vernichtungskrieg über Europa gebracht haben.
60 Millionen Menschen wurden Opfer dieses Vernichtungskriegs. Polen, wo die rassistische nationalsozialistische Lebensraumideologie und der Holocaust unfassbares Leid verursacht haben, wurde Opfer der deutschen Massenmörder. Allein beim Warschauer Aufstand wurden 10 000 Widerstandskämpferinnen und ‑kämpfer und 100 000 polnische Zivilistinnen und Zivilisten getötet. Und schließlich die Verbrechen an der russischen Bevölkerung: 1 Million Menschen starben bei der Hungerblockade von Leningrad. 6 Millionen Menschen wurden Opfer des Menschheitsverbrechens an den europäischen Juden. 60 Millionen Menschen als Opfer dieses beispiellosen Vernichtungskriegs.
Sie alle kennen diese Zahlen. Sich zu vergegenwärtigen, dass hinter jeder Zahl ein Mensch mit seinem Leid, seiner Angst, seinen Tränen stand, ist so ungeheuerlich, dass sich der Verstand eigentlich verweigert. Es ist unsere Verantwortung, heute und in Zukunft dafür zu sorgen, dass die Taten nicht vergessen und nicht zu den Akten gelegt werden,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
gerade weil der gruppenbezogene Hass sich heute in Europa und auch in Deutschland wieder breitmacht. Und nein, wir Deutsche sind nicht die Musterknaben der Erinnerungskultur, solange sich völkische Biedermänner und Brandstifter in unseren Parlamenten suhlen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust sind der real gewordene Albtraum, der bis heute wirkt – in Europa, in Deutschland, in den Familien der Nachkommen von Überlebenden. Umso dankbarer können wir sein, dass die Beziehungen zu unseren europäischen Nachbarn, gerade auch zur Zivilgesellschaft in Polen, so gut und eng sind, auf kultureller, wirtschaftlicher und menschlicher Ebene. Möglich wurde das auch dadurch, dass die Zivilgesellschaften, nicht zuletzt die 68er-Generation, für die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen gekämpft haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Entscheidend ist – um es mit Walter Benjamin zu sagen –, ob uns der Ruf aus der Vergangenheit erreicht. Es ist unsere historische Verantwortung, die Erinnerung an diese Verbrechen wachzuhalten und sie weiter aufzuarbeiten. Einen Schlussstrich wird es mit uns Grünen nicht geben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Darum bin ich froh um diesen Antrag.
Dass Sie, meine Damen und Herren von Union und SPD, unseren Wunsch, diesen Antrag interfraktionell einzubringen, ausgeschlagen haben, ist, gelinde gesagt, kleingeistig,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
nicht so sehr, weil große Teile des Antrags aus der Feder meines Kollegen Manuel Sarrazin stammen, sondern vor allem, weil es dem Geist der einstigen Vorkämpferinnen und Vorkämpfer für Versöhnung aus Ihren Reihen nicht gerecht wird.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:
Eckhard Pols, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
(Beifall bei der CDU/CSU)