Rede von Filiz Polat Gemeinsames Europäisches Asylsystem

Foto von Filiz Polat MdB
15.06.2023

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention fußen auf den Erfahrungen aus zwei Weltkriegen, aus den Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Und das muss, wie die Kollegin Schierenbeck gesagt hat, der Kompass bei allen Entscheidungen in Europa sein, damit Europa als Werte- und Verantwortungsgemeinschaft beim Eintreten für Menschenrechte weltweit glaubwürdig bleibt.

Meine Damen und Herren, umso irritierter stellen wir fest, dass die Union die Axt an die Genfer Flüchtlingskonvention anlegen will; Herr Seif hat es gerade gesagt. In Zeiten, in denen Autokraten die Menschenrechte und das Völkerrecht mit Füßen treten, will die Union, will Herr Spahn die Genfer Flüchtlingskonvention neu verhandeln. Das sind Positionen, die einer demokratischen Opposition nicht würdig sind, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Solche Debatten befeuern die Forderungen rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien und Regierungen nach einer faktischen Abschaffung des Flüchtlingsschutzes nur weiter.

(Detlef Seif [CDU/CSU]: Ihre Politik belastet das!)

Meine Damen und Herren, das Kinderhilfswerk Terre des Hommes nennt die Einigung vom vergangenen Donnerstag einen – ich zitiere – „monumentalen Dammbruch für den Schutz geflüchteter Kinder und Jugendlicher in der EU“.

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Den haben Sie zu verantworten, Frau Polat! Ihre Regierung hat das zu verantworten!)

Es ist doch ein fundamentaler Trugschluss, zu glauben, dass es durch die Inhaftierung von Schutzsuchenden – ich empfehle wirklich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der nämlich sagt: Haft bleibt Haft, auch wenn man in das Land wieder zurückgehen kann, aus dem man eingereist ist –, durch die Auslagerung von Asylverantwortlichkeiten, wie Herr Seif es beschrieben hat, gelingt, das Leid an den Außengrenzen zu beenden.

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Das hat Ihre Regierung verhandelt!)

Die Innenminister argumentierten wie üblich: Je schärfer die Verfahren, desto weniger Menschen würden sich auf den Weg nach Europa machen. – Dem muss auf Basis wissenschaftlicher Evidenz und der Erfahrung der letzten Jahre deutlich widersprochen werden. Je schärfer, je härter und abgeschotteter Europas Umgang mit Schutzsuchenden, desto höher das Risiko für all jene, deren Flucht alternativlos ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn man solche Kompromisse schließt, an denen obendrein noch EU-Gegner/-innen und Postfaschisten beteiligt sind, dann würde ich sie nicht als historisch bezeichnen. Als Flüchtlingspolitikerin teile ich die Auffassung, dass Ihre historische Einigung auf eine Verstetigung von Leid und Chaos hinausläuft. Der Beschluss macht Haftlager an den EU-Außengrenzen zur Durchführung verbindlicher Grenzverfahren zur Norm und legitimiert sie für alle Mitgliedstaaten. Der Zugang zu einem Asylverfahren im Schutzraum der EU wird dadurch erschwert, indem ein Ring um Europa gezogen wird, und zwar von Staaten, die als vermeintlich sicher erklärt werden.

Es ist auch höchst fraglich, meine Damen und Herren, liebe Frau Kollegin Yüksel, ob die Einigung von Luxemburg das Versprechen einlöst, mehr Solidarität unter den EU-Staaten herzustellen. Denn einen verbindlichen Verteilmechanismus gibt es eben nicht, stattdessen die Fortsetzung einer Politik, die Autokraten sowie Regimen, die die Menschenrechte mit Füßen treten, sehr viel Geld dafür zahlt, den Türsteher für Europa zu geben, ein Europa der Menschenrechte wohlgemerkt.

Meine Damen und Herren, die logische Folge ist: Die Durchsetzung der Rechte von Geflüchteten wird massiv erschwert; es wird immer mehr Menschen geben, die sich dem Schicksal entziehen wollen. Die Folgen sind gefährliche und tödlichere Fluchtrouten, mehr Sekundärmigration statt weniger. Am Ende gewinnen die Orbans und Melonis. Europas Werte werden zunehmend von der Agenda von Konservativen und Rechtspopulisten diktiert, von Leuten, die unser Land und unseren Kontinent seit Jahren beim Thema Migration spalten.

(Martin Reichardt [AfD]: Menschen, die vom Volk gewählt sind!)

Das sollten wir nicht zulassen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Daher empfehlen wir dem Rat –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Frau Kollegin.

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

– ich komme zu meinem letzten Satz – und dem EU-Parlament, diesem Beschluss so nicht zuzustimmen. Ich hoffe sehr, dass das Europäische Parlament –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Frau Kollegin!

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

– hier im Trilogverfahren Haltung zeigt. Vor allem setze ich darauf, –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Frau Kollegin!

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

– dass die Bundesregierung auf Verbesserung dieses Kompromisses dringt.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Das Wort hat der Kollege Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)