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03.07.2020

Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Schock über den Gewaltausbruch von Stuttgart sitzt tief. Alle Gewalttäter gehören gerecht bestraft. Zu den Anstiftern – das möchte ich schon ausdrücklich sagen – gehören für mich auch all diejenigen, die die Gewalttaten – die Kollegin Vogt hat das bereits erwähnt – im Netz gefeiert haben, als ob es eine Heldentat wäre, Schaufenster zu zerstören oder auf Polizisten einzuprügeln.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE LINKE])

Ich möchte ausdrücklich – ich nehme an: im Namen aller demokratischen Kräfte hier im Bundestag – unseren Einsatzkräften von der Polizei, unserer Feuerwehr, unserem THW und unseren Sanitätern für ihre Arbeit danken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Es ist aber auch unsäglich, wenn der Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten im Zusammenhang mit Stuttgart von einer – ich darf zitieren – „Bundeskristallnacht“ spricht. Was für eine unglaubliche Verharmlosung des NS-Terrors! Was für eine Verhöhnung der Opfer der NS-Gewalt!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Thomas Seitz [AfD]: Dann hätte er die Klappe halten sollen!)

Ich habe nach den Krawallen mit vielen Betroffenen gesprochen: mit unserer Polizei, mit Ladenbesitzerinnen und Ladenbesitzern, mit Mitarbeitern der mobilen Jugendarbeit. Jetzt geht es erst mal darum, dafür zu sorgen, dass sich so was nicht wiederholt. Wir werden unsere Probleme so regeln, wie wir das in Stuttgart seit Langem überparteilich in gutem Geiste machen: Wir setzen uns zusammen und stellen uns auch selbstkritische Fragen. Das muss man ja machen, wenn so was passiert; das ist gar keine Frage. Wir hören einander zu, und dann ergreifen wir Maßnahmen, um einerseits die Sicherheit zu erhöhen und gleichzeitig auch an die Wurzel des Problems zu gehen.

Nur, das, bitte schön, hat nichts mit dem zu tun, worum es Ihnen geht, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP])

Denn Ihr Geschäftsmodell ist nicht das Lösen von Problemen, sondern das Verbreiten von Angst und Hass. Das wissen Sie, und wenn Sie ehrlich sind, geben Sie es zu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN und der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD] – Zuruf des Abg. Martin Hess [AfD])

Sie machen es sich mal wieder sehr einfach: Für Sie sind einfach die Migranten schuld.

(Jürgen Braun [AfD]: Sie haben die Verantwortung für Stuttgart!)

Niemand verschweigt hier – ich glaube, alle sind sich hier einig –, dass es unter den Randalierern auch Männer mit migrantischem Hintergrund gab.

(Jürgen Braun [AfD]: Sie haben die Verantwortung für Stuttgart, Herr Özdemir!)

Vor allem aber waren es junge Männer – das ist doch das Entscheidende –, viele davon stark alkoholisiert. Dass man dazu von Ihnen nichts hört, das wundert jetzt, glaube ich, niemanden hier.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD] – Jürgen Braun [AfD]: Sie haben die Verantwortung!)

Es sind unsere Jugendlichen, und jeder Einzelne von ihnen, den wir verlieren, ist einer zu viel.

Besonders perfide wird es, wenn in die Debatte eine neue Kategorie eingeführt wird, nämlich die sogenannten Passdeutschen. Was soll das denn bitte sein? Jemand, mit dem wir zwar die Staatsbürgerschaft teilen, aber dessen Vorfahren vielleicht nicht in der Schlacht im Teutoburger Wald gegen die Römer mitgekämpft haben? Meine Damen und Herren, merken Sie eigentlich, auf welch unsägliche Tradition Sie sich hier berufen? Schon einmal wurden in Deutschland Bürger ausgebürgert und wurde ihnen die Zugehörigkeit abgesprochen. Das wird es mit uns nie wieder geben in diesem Land, meine Damen und Herren! Ihr identitäres Geschwätz widert mich an.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der AfD)

Als Identitätsbeschaffungsmaßnahme reicht mir unser Grundgesetz vollkommen aus. Das ist die Geschäftsgrundlage unserer Republik und nichts anderes, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Es muss uns Sorgen bereiten, wenn junge Menschen unserer Polizei misstrauen. Ich weiß selber, wie sich Rassismus anfühlt.

(Lachen bei der AfD – Gegenruf der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was lachen Sie denn da so blöd? Jetzt reicht es aber! Schämen Sie sich! – Weiterer Gegenruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie kann man da lachen?)

– Ich hoffe, dass Ihr Gelächter hier möglichst wenig junge Leute hören. – NSU und rechte Umtriebe beim KSK haben uns gezeigt, dass wir Probleme mit Rassismus bei Uniformträgern, aber auch bei Menschen ohne Uniform haben. Aber ich sage auch in aller Deutlichkeit: Die deutsche Polizei ist nicht die US-Polizei. Das darf und kann man nicht gleichsetzen, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Bei uns darf man exekutives Handeln, auch der Polizei, kritisieren. Ja, man darf es sogar juristisch überprüfen. Aber erst mal leistet man bitte schön den Anweisungen des Polizisten und übrigens auch der Polizistin Folge. Das muss die Regel sein.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Diejenigen, die den Glauben daran verlieren, dass man es durch eigenen Fleiß und durch die Hilfe der Gemeinschaft zu etwas bringen kann, müssen wir gewinnen. Das dürfen wir nicht an die Polizei delegieren, sondern da sind wir alle als Gesellschaft gefordert.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Alle Opfer!)

Meine Damen, meine Herren, „Gewalt beginnt, wo das Reden aufhört“, sagt Hannah Arendt. In diesem Geiste arbeiten wir in Stuttgart: liberal, respektvoll und erstklassig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU])

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Axel Müller, CDU/CSU, ist der nächste Redner.

(Beifall bei der CDU/CSU)