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12.03.2020

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dass Sie hier als Rechtsaußen die größte Lehre aus unserer Geschichte kaputtmachen wollen, Demokratie, die allgemeine Verbindlichkeit von Menschenrechten, das wissen wir leider alle.

(Armin-Paulus Hampel [AfD]: Reden Sie keinen Quatsch, Frau Baerbock! Reden Sie keinen Blödsinn!)

Wir hier gemeinsam im Parlament – das ist der Auftrag unseres Grundgesetzes – wollen genau das Gegenteil:

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Lesen Sie das Grundgesetz!)

dieses gemeinsame Europa als Einheit in Vielfalt, als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bewahren und schützen. Aber dafür, meine sehr verehrten Damen und Herren, reicht es in diesen Tagen auch in einer solchen Debatte nicht, sich selber auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Es ist schon alles gut. – Nichts ist gut, gerade an der europäischen Außengrenze.

Schauen Sie sich die Bilder an – ja, man muss sie sich anschauen –: Nicht nur die griechischen Inseln, sondern auch das Wertefundament dieser gemeinsamen Europäischen Union stehen dieser Tage in Flammen. Das Gewaltmonopol des Staates ist ausgesetzt, und zwar auf der Grundlage dessen, dass Versprechen, die wir als Deutsche, als Europäer zu geordneten Strukturen gegeben haben, nicht eingehalten wurden. Die Zusage von 2016, von den griechischen Inseln immer wieder Kontingente zu übernehmen, wurde nicht eingehalten. Das ist Teil dieses Problems der heutigen Tage.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Journalisten, NGOs, Geflüchtete werden auf Lesbos angegriffen.

(Armin-Paulus Hampel [AfD]: Nein! Nein!)

Wenn die Polizei angerufen wird, dann wird aufgelegt. „One Happy Family“, ein Familienzentrum, in dem Schulbildung, Gesundheitsversorgung geleistet wurde, stand vor Tagen in Flammen.

(Karsten Hilse [AfD]: Wer hat es angezündet?)

In Moria auf Lesbos leben 20 000 Menschen im Dreck, ausgelegt war das Lager für 3 000 Menschen. Traumatisierte Kinder spielen zwischen Müllbergen, etliche sind suizidgefährdet. Eigentlich müsste diese ganze Insel angesichts der dortigen Sicherheitslage evakuiert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zuruf von der AfD: In ihre Heimat!)

Wir haben daher hier letzte Woche vorgeschlagen, 5 000 Kinder als deutschen Anteil aufzunehmen, und zwar nicht nur aus Gründen der Humanität – alle zitieren hier ja gerne „Humanität und Ordnung“ –, sondern auch aus Gründen der Sicherheit, der Rechtsstaatlichkeit und der geordneten Strukturen vor Ort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der AfD)

Humanität und Ordnung: Das ist kein Gegensatz, das bedingt einander. Das sehen wir nicht nur auf Lesbos, das sehen wir auch an der griechisch-türkischen Grenze. Das menschenverachtende Spiel von Herrn Erdogan funktioniert doch vor allem, weil die EU deswegen in Angst und Schrecken verfällt und weil sie in einer solchen Situation mit Tränengas und Blendgranaten auf Männer, Frauen und Kinder schießt. Das ist das Gegenteil von Ordnung. Das ist Chaos, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist ein massiver Verstoß gegen Grundrechte. Das ist beschämend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ja, ich sage es hier ganz deutlich, weil Sie – auch in Teilen der Regierungsfraktionen – gerne die intellektuelle Fähigkeit nicht nur von uns Grünen – das können wir verkraften –, sondern auch von vielen Menschen in diesem Land offensichtlich unterschätzen.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das können wir nicht unterschätzen! – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Bei Ihnen können wir gar nichts unterschätzen!)

Niemand sagt: Das heißt offene Grenzen. – Grenzschutz ist wichtig und richtig. Europa ohne Binnengrenzen funktioniert nur mit einer Kontrolle der gemeinsamen Außengrenze.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist das Wesen einer Grenze, dass es legale Grenzübergänge gibt. Es wird ja dieser Tage auch vonseiten der Regierung hier immer wieder das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zitiert. Bitte lesen Sie das einmal genau! Wir sind ein Rechtsstaat. Da kann man das Recht nicht auslegen, wie es einem gerade passt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das machen Sie doch permanent in Ihrer Gutmenschenpolitik!)

– Können Sie einmal den Mund halten, meine Güte?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das müssen Sie sich anhören, Frau Baerbock!)

Dieses Urteil macht mehr als deutlich: Schutzbedürftigkeit nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention bedeutet einen effektiven Zugang über Einreisewege. Lesen Sie die Randnummern 201 und 212! Da steht ganz explizit drin: Auch an der europäischen Außengrenze darf es kein Niemandsland und rechtsfreie Räume geben, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Daher hätte ich von Ihnen als Regierungsfraktion in dieser Debatte erwartet, hätte ich von dieser Bundesregierung erwartet, dass sie klar und deutlich macht: Eine komplette Abriegelung der Grenzübergänge, systematische Push-Backs, Aussetzung des Asylrechts, da sagt man nicht: Da stehen wir in Sympathie daneben, sondern: Das ist nicht vereinbar mit dem Grundsatz der Zurückweisung aus der Genfer Flüchtlingskonvention.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die Europäische Menschenrechtskonvention wird hier gebrochen. Es ist nicht vereinbar mit der EU-Grundrechtecharta.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Kollegin Baerbock, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von Storch?

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein. – Und es ist nicht vereinbar mit Ihrer viel zitierten Frontex. Artikel 36 und 43 der Frontex-Verordnung basieren darauf, dass die Europäische Menschenrechtskonvention eingehalten wird, meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Ich sage an dieser Stelle auch deutlich: Wer das Recht ignoriert, weil es politisch nicht opportun ist, der verabschiedet sich von einem Rechtsstaat und stärkt den Rechtsstaat an dieser Stelle nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Diese Äußerung hätte ich mir von der EU-Kommissionspräsidentin gewünscht, von Ihnen als Regierungsfraktionen gewünscht.

Was sagt der, der heute Artikel 18 der Europäischen Grundrechtecharta aussetzt, wenn morgen Artikel 14 oder Artikel 12 ausgesetzt wird, wenn das Recht auf Meinungsfreiheit ausgesetzt wird? Wir können den viel beschworenen Rechtsstaatsmechanismus der EU in die Tonne treten, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir anfangen, Grundrechte einseitig auszusetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wir haben zahlreiche Vorschläge gemacht, heute zu handeln. Es reicht nicht, ein neues Asylsystem zu beschwören. Sie müssen im Hier und Heute mit der Türkei darüber sprechen, dass die Versorgung vor Ort gesichert wird, dass wir fixe Kontingente aufnehmen und dass wir zu unserem Grundrecht stehen.

Ich sage an dieser Stelle abschließend auch sehr deutlich: Dieses Wegschauen hat auch dramatische innenpolitische Sicherheitsfolgen. Es sind gerade Rechtsextreme auf die Inseln nach Griechenland gefahren. Einer hat auf Facebook gepostet: Gebt mir ein M60 und ausreichend Munition. Ich werde den ganzen menschlichen Abschaum an der Grenze abknallen.

Liebe Bundesregierung, wie kann es sein, dass Identitäre, dass Rechtsextreme in diesen Tagen nach Lesbos ausreisen dürfen?

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dafür ist die Bundesregierung aber nicht verantwortlich!)

Wir brauchen in diesen Tagen Ausreisesperren für Extremisten, die gewaltbereit sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Immer!)

Das ist unsere Verantwortung als Deutscher Bundestag und als deutsche Bundesregierung.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Detlef Seif, CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)