Rede von Sven-Christian Kindler Haushalt 2021 - allgemeine Finanzdebatte

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08.12.2020

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn wir diesen Haushalt in vielen Punkten kritisieren und ihn am Freitag bei der namentlichen Abstimmung ablehnen werden, ist für uns klar: Dass der Bundeshaushalt in dieser schweren Krise, in dieser schweren Pandemie, die so existenziell ist für unser Gesundheitssystem, für die Wirtschaft, für die Beschäftigten, für die Bevölkerung, im nächsten Jahr knapp 180 Milliarden Euro an Kredit aufnehmen kann, ist verständlich, und das ist richtig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir kritisieren gleichzeitig die viel zu kurzen Tilgungsfristen; deswegen werden wir uns heute bei der namentlichen Abstimmung enthalten. Aber wir sagen ganz klar: Man darf in eine Krise nicht noch hineinsparen. Am Ende würde alles viel, viel teurer werden. Der Staat kann sich die Bekämpfung der Pandemie finanziell leisten, und er muss sie sich leisten; daran darf es keinen Zweifel geben.

Umso verstörender finde ich deswegen die Debatten innerhalb der Union in den letzten Tagen und auch Ihre Äußerungen, Frau Bundeskanzlerin, die jetzt daran konkret Zweifel säen und eine Debatte zur Unzeit anfangen über angebliche finanzielle Grenzen des Staates bei der Pandemiebekämpfung,

(Peter Boehringer [AfD]: Angebliche finanzielle Grenzen des Staates? Unglaublich!)

und das losgelöst von der Sachlage. Wir haben gerade negative Zinsen. Wir haben eine extrem geringe Schuldenquote im Vergleich zu anderen Industrieländern. Und wer jetzt bei CDU/CSU sagt, wir können uns die Pandemiebekämpfung und die damit einhergehenden notwendigen Hilfen nicht mehr leisten, der erzeugt Unsicherheit, der zerstört Vertrauen, und damit sinkt auch die Akzeptanz der notwendigen Einschränkungen. Ich halte diese Debatte in der Union für brandgefährlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Christian Dürr [FDP]: Deswegen machen sich die Menschen Sorgen! Wegen solcher Aussagen!)

Für uns ist klar: Natürlich müssen sich auch die Bundesländer an der Finanzierung der Coronahilfen stärker beteiligen. Wir sagen aber auch: Wir wollen natürlich zielgerichtete Unternehmenshilfen haben.

(Otto Fricke [FDP]: Das sind doch Sirenengesänge!)

Wir wollen gerechte Unternehmenshilfen, und sie müssen bei denen ankommen, die sie wirklich brauchen. Deswegen halten wir eine Weiterentwicklung für sinnvoll, die sich an einer vollständigen Übernahme der Betriebskosten orientiert und die endlich auch die Einrichtung eines Unternehmerlohns vorsieht. Der Unternehmerlohn wird seit Monaten gefordert, seit Monaten hier diskutiert. Er muss jetzt endlich auch kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es fehlt auch in diesem Haushalt ein befristeter Krisenaufschlag für ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger, für Erwachsene und für Kinder. Das haben wir im Haushaltsausschuss konkret beantragt. Konkret haben es Union und SPD abgelehnt. Ich halte diese Entscheidung für falsch. Ich halte sie für unsozial und kaltherzig. Diese Koalition lässt gerade die Ärmsten der Armen in dieser Krise im Stich, und deswegen hat dieser Haushalt leider eine soziale Schieflage.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Jedes Jahr die gleiche Rede! Erzählt doch mal was Neues!)

Doch wie geht es nach Corona weiter? Auch diese entscheidende Frage müssen wir jetzt diskutieren. Dazu gibt es wenige Antworten im Finanzplan. Olaf Scholz, Sie wollen als Finanzminister 2022 unbedingt zur unveränderten Schuldenbremse zurück, und das hat Konsequenzen für die Finanzplanung. Sie haben momentan eine Lücke von fast 60 Milliarden Euro von 2022 bis 2024 durch sogenannte globale Minderausgaben. Das kann einen gefährlichen Spardruck nach Corona auslösen, den wir unbedingt verhindern müssen. Deswegen sagen wir sehr deutlich: Wir brauchen jetzt politisch verbindliche Garantien in Deutschland, aber auch in Europa, dass man nach der Krise nicht einen harten Sparkurs einschlägt. Man muss dafür sorgen, dass nach Corona nicht der Rotstift angesetzt wird. Das wäre Gift für die wirtschaftliche Erholung, und das wäre auch Gift für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen schlagen wir vor, dass es deutlich längere Tilgungsfristen bei den Coronakrediten gibt. FDP und CDU in NRW haben zum Beispiel Fristen von 50 Jahren vorgeschlagen und beschlossen.

(Otto Fricke [FDP]: Da waren aber die Grünen dagegen!)

Wir schlagen auch vor, dass klimaschädigende Subventionen gestrichen werden, zum Beispiel beim schmutzigen Diesel, bei der Flugindustrie, beim Lkw oder bei der Plastikproduktion. Wir wollen auch, dass Menschen mit hohen Einkommen, Menschen mit hohen Vermögen sich fair an der Finanzierung unseres Gemeinwesens beteiligen.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Wenn die Linken das wollen!)

Denn wir sagen klar: Starke Schultern können mehr tragen, und sie sollten das auch tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Ist das der Vorschlag der Linken?)

Aber wir dürfen nicht vergessen, dass parallel zu Corona weitere sehr große Aufgaben anstehen. Der November dieses Jahres war der heißeste November aller Zeiten. Die Polkappen schmelzen dramatisch.

(Lachen bei Abgeordneten der AfD)

– Da müssen Sie gar nicht lachen. Wenn Sie die Wissenschaft ernstnehmen würden, dann würden Sie wissen, dass die Klimakrise sehr real ist und dass wir jetzt handeln müssen. Denn die Klimakrise war während Corona nicht im Lockdown.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Stephan Brandner [AfD]: Sie schüren Angst! Sie instrumentalisieren das Klima!)

Was jetzt notwendig ist und was viele Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen und die Wirtschaft auch wissen, ist, dass eine große Transformation der Wirtschaft ansteht. Wer hier glaubt, dass eine klimaneutrale Stahlindustrie, eine klimaneutrale Chemieindustrie, der ökologische Umbau der Autoindustrie, der massive Ausbau der Schieneninfrastruktur einfach so nebenbei aus der Portokasse zu finanzieren wären, der irrt. Das ist doch wahnsinnig! Es wäre weltfremd, wenn wir nicht sagen würden: Wir müssen jetzt eine große Investitionsoffensive nach vorne bringen. – Das steht jetzt nach Corona an.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das sehen wir aber leider nicht im Haushalt, Herr Scholz. Bei Ihnen werden Investitionen bei 48 Milliarden Euro in der Finanzplanung eingefroren. Jetzt schon ist klar: Das wird vorne und hinten nicht reichen. Deswegen sagen wir: Wir brauchen einen großen Investitionsfonds über die nächsten zehn Jahre. Bis 2030 wollen wir pro Jahr 50 Milliarden Euro zusätzlich investieren, 500 Milliarden Euro bis 2030.

(Lachen der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD])

In Zeiten von historisch niedrigen Zinsen können wir das auch finanzieren. Wir wollen die Schuldenbremse nicht abschaffen; das ist klar. Wir wollen sie aber weiterentwickeln.

(Stephan Brandner [AfD]: Aussetzen! Sie wollen sie aussetzen!)

Wir wollen sie reformieren, sodass Nettoinvestitionen zukünftig konkret über Kredite finanziert werden können.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Sie wollen die Schuldenbremse abschaffen!)

Denn aktuell verdient der Staat Geld an der Ausgabe neuer Kredite. In so einer Situation, wo wir einen riesigen Investitionsstau haben, wo der klimaneutrale Umbau der Wirtschaft ansteht, wo wir bei der Digitalisierung massiv hinterherhinken, zu sagen: „Wir machen diese Investitionen nicht, weil wir keine Kredite dafür aufnehmen würden“, das wäre weltfremd und eine schwere Fehlentscheidung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Warum versuchen Sie, zu verschleiern, was Sie wollen? Sagen Sie doch: „Abschaffen der Schuldenbremse“!)

Wir sollten die Chancen für die Transformation, die es gibt, jetzt konkret nutzen. Wir haben in der Weltwirtschaft, in der Entwicklung der Industrieländer seit den 80er-Jahren den Trend, dass die Zinsen sinken. Sie werden auch mittelfristig weiterhin so gering bleiben; dafür gibt es viele ökonomische Gründe. Gleichzeitig eskaliert die Klimakrise immer weiter. Wir müssen jetzt handeln. Wir müssen jetzt konkret etwas tun, um das zu stoppen. Deswegen sagen wir klar: Unsere Kinder und Enkel haben nichts davon, wenn Union und SPD sich einer Reform der Schuldenbremse verweigern, wenn gleichzeitig die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten weiter zerstört werden.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war sehr gut! – Gegenruf des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das war nix! Das war echt nix! Erstens kannte ich die Rede schon, und zweitens bleibt er unehrlich und sagt nicht, dass er die Schuldenbremse abschaffen will!)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Jetzt erteile ich das Wort dem Bundesfinanzminister Olaf Scholz.

(Zurufe von der AfD: Maske!)