Rede von Sven-Christian Kindler Haushalt 2021 - Schlussrunde

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02.10.2020

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Woche auch die Finanzplanung diskutiert. Herr Scholz, Sie haben eine Finanzplanung vorgelegt, mit der Sie ab 2022 zur unveränderten Schuldenbremse zurückkehren wollen. Das hat Konsequenzen, weil Sie damit gleichzeitig einen gefährlichen Spardruck erzeugen. Sie haben insgesamt für die Jahre 2022 bis 2024 eine Deckungslücke von rund 60 Milliarden Euro, 20 Milliarden Euro pro Jahr nach der Wahl. Wir fordern Sie auf, sich endlich diesen Problemen auch hier konkret im Bundestag und in den Haushaltsberatungen zu stellen. Es darf kein Kaputtsparen nach Corona geben!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Scholz, Sie haben auf die Erfahrungen nach der letzten Finanzkrise in Deutschland verwiesen und die Hoffnung geäußert, dass es ökonomisch und haushaltspolitisch jetzt ähnlich laufen könnte. Nur ist der Vergleich mit der Finanzkrise und der Situation jetzt wenig zielführend; André Berghegger ist schon auf ein paar Punkte eingegangen.

Erstens hat die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung deutlich mehr Neuverschuldung in den Jahren danach eingeplant und keinen so steilen Abbruch wie Sie jetzt.

Zweitens hat der Bundeshaushalt massiv vom Sinken der Zinsausgaben profitiert. Dort ist der Spielraum weitgehend ausgereizt.

Drittens wird sich Deutschland auch nicht so einfach aus dieser Situation herausexportieren können; dafür sind die Pandemie und die Krise zu global. Es sind zu viele Sektoren, zu viele Länder weltweit betroffen. Da sind die Spielräume auch enger.

Und viertens steckt die deutsche Wirtschaft, anders als vor zehn Jahren, in einer schwerwiegenden, massiven Strukturkrise: bei der Digitalisierung, der klimaneutrale Umbau ist nicht vorangekommen; da besteht massiver Handlungsbedarf.

In einer solchen Situation mit so vielen Herausforderungen darf man nicht einfach sagen: Wir setzen auf das Prinzip Hoffnung. – Das ist zu wenig; da braucht man konkrete Antworten, konkrete Handlungen, man muss jetzt mutig investieren, einen großen Plan für die Zukunft vorlegen. Das erwarten wir jetzt!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn die deutsche Wirtschaft steht vor riesigen Herausforderungen, genau wie die Gesellschaft. Bei der Digitalisierung liegt Deutschland weit hinter China und den USA zurück. Gleichzeitig verschärft sich die Klimakrise massiv, und das jetzt schon bei 1 Grad. Das heißt, wir stehen vor einer großen Zeit der Transformation, ökologisch wie sozial. Die Herausforderung für uns besteht darin, diese Volkswirtschaft, die massiv auf der Ausbeutung, der Verschwendung von fossilen Ressourcen beruht, möglichst schnell umzubauen, das heißt auf erneuerbare Energien umzustellen, um zu 100 Prozent klimaneutral zu werden. Diese Aufgabe ist gigantisch. Wer glaubt, das könnte man irgendwie nebenbei machen, wer glaubt, das könnte man irgendwie aus der Portokasse bezahlen, der irrt gewaltig, der hat diese Aufgabe und die Herausforderung nicht verstanden, um die es jetzt geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen sagen wir – wie das auch der DGB und der BDI, Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen, gesagt haben –: Wir brauchen jetzt einen großen Investitionsfonds für die nächsten zehn Jahre. Wir schlagen vor, dass man dafür 500 Milliarden Euro bereitstellt und in klimaneutralen Stahl, in eine klimaneutrale Chemieindustrie, in klimaneutrale Mobilität, in eine Wirtschaft, die 100 Prozent erneuerbare Energien nutzt, investiert, und das in allen Sektoren. Das steht jetzt an, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gleichzeitig haben wir aber auch Glück. Die Zinslage ist anders als vor zehn Jahren: Die Zinsen sind extrem niedrig, zurzeit sogar negativ. Dadurch gibt es eine Win-win-Situation. Warum soll man in so einer Situation – riesiger Transformations- und Investitionsbedarf und gleichzeitig historisch niedrige Zinsen – diese Chance nicht auch nutzen? Ich finde es verantwortungslos, wenn man aus ideologischen Gründen sagen würde: Wir wollen diese Chance nicht nutzen; wir wollen keine neuen Kredite aufnehmen. – Das ist nicht nachhaltig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen schlagen wir vor, in diesen Haushaltsberatungen auch darüber zu reden, wie wir eine Reform – ich sage bewusst „Reform“ und nicht „Abschaffung“ – der Schuldenbremse voranbringen können. Wir schlagen vor, einen großen Investitionsfonds einzurichten und Nettoinvestitionen über neue Kredite finanzieren zu können.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Also noch mehr Schulden! Donnerwetter!)

Wir können uns sehr genau anschauen, was bei der Schuldenbremse funktioniert hat und was nicht funktioniert hat. Wo ist eine neue Situation eingetreten? Wo haben wir Weiterentwicklungsbedarf? Ich finde, wir sollten hier offen und ehrlich darüber reden, wie wir eine kluge, ehrliche, pragmatische Investitions- und Haushaltspolitik machen können. Hier darf es keine Dogmen geben. Ich fordere SPD und Union auf, sich dieser Debatte zu stellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wollen Sie jetzt mehr Schulden oder nicht?)

Herr Scholz, ein guter Haushalt braucht auch gute Einnahmen. Ich finde, man muss sich als Finanzminister auch darum kümmern, dass Steuern, die gezahlt werden müssen, auch gezahlt werden. Da wundere ich mich schon über den Unterscheid zwischen dem, was Sie in Sonntagsreden sagen, und wie Sie nachher handeln. Das Land Hamburg hat in Ihrer Zeit als Bürgermeister beim Cum/Ex-Skandal 47 Millionen Euro von der Warburg-Bank nicht zurückgefordert. Ich meine, wer im Hohen Haus will denn glauben, dass Sie mit Herrn Olearius von der Warburg-Bank nur nett Kaffee trinken? Wer im Hohen Haus glaubt denn wirklich, dass eine Steuerfachangestellte in so einem Fall, wo die Staatsanwaltschaft ermittelt, wo alle Länder und der Bund eine andere Rechtsauffassung haben, ohne politische Rückversicherung eine so weitreichende Entscheidung fällt? Wen wollen Sie eigentlich für dumm verkaufen? Das kann doch nicht wahr sein! Sie müssen in dieser Frage endlich alle Karten auf den Tisch legen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Vielen Dank, Sven-Christian Kindler. – Der nächste Redner: der Bundesminister Olaf Scholz für die Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)