Rede von Sven-Christian Kindler Haushalt 2023: Allgemeine Finanzdebatte (einschl. Epl. 08, 20, 32, 60)

Foto von Sven-Christian Kindler MdB
06.09.2022

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin jetzt seit 2009 Mitglied im Haushaltsausschuss. Ich glaube, alle Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss wissen: Es werden die schwersten Haushaltsberatungen seit Jahrzehnten.

Das liegt einfach daran, dass wir in verschiedenen Krisen gleichzeitig stecken: Wir haben den brutalen, schrecklichen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit der massiven Inflation, die bei Gas und auch bei Öl daraus folgt. Wir sehen, dass es international schwere Verwerfungen zur Folge hat und Putin Hunger als Waffe einsetzt. Gleichzeitig haben wir immer noch eine Gesundheitskrise durch die Coronapandemie, und wir haben den vierten Hitzesommer in fünf Jahren erlebt, die schlimmste Dürre in Europa seit 50 Jahren.

All das hat massive Auswirkungen auf die Gesellschaft, auf die Wirtschaft und auch auf diesen Haushalt. Für uns in der Koalition ist in diesen parlamentarischen Haushaltverhandlungen klar: Wir stellen uns diesen Krisen entschlossen, wir ducken uns nicht weg, sondern wir gehen die Probleme entschlossen an.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Deswegen ist es richtig und gut, dass der Koalitionsausschuss am Wochenende ein großes Paket beschlossen hat. Trotz aller politischen Unterschiede, die in einer Demokratie auch normal sind, hat diese Koalition am Wochenende gezeigt, dass sie gemeinsam handlungsfähig ist und mit 65 Milliarden Euro Großes bewegen kann. Und das zählt am Ende in der Demokratie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Damit helfen wir vielen: Wir helfen kleinen und mittleren Unternehmen,

(Widerspruch bei der AfD)

wir helfen Familien mit dem Kinderzuschlag und dem Kindergeld. Wir weiten den Wohngeldanspruch aus, wir entlasten Rentnerinnen und Rentner, Studierende, Fachschülerinnen und Fachschüler. Wir führen bundesweit ein dauerhaftes günstiges Ticket für den öffentlichen Nahverkehr ein, und es wird die größte Erhöhung der ALG-II-Regelsätze seit Bestehen des Systems geben. Dieses Paket kann sich sehen lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Natürlich gibt es auch Punkte, die wir anders entschieden hätten. Ich nenne hier den CO2-Preis. Wir hätten uns ein höheres Bürgergeld vorstellen können. Ich nenne auch das Thema „kalte Progression“. Aber das ist natürlich das Wesen von Kompromissen, dass man sich am Ende einigen muss. Und das ist ein guter Kompromiss, weil er in die richtige Richtung geht: Die Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen leiden am stärksten unter der fossil getriebenen Inflation. Guckt man sich die Zahlen an, so stellt man fest: Sie entlasten wir am meisten.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Und gleichzeitig – darauf hat Kollege Rohde hingewiesen – schöpfen wir Zufallsgewinne im Strommarkt von Unternehmen ab, die es nicht brauchen, und finanzieren einen Teil dieses Pakets. Das ist richtig und gerecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Die gäbe es gar nicht, wenn Sie die Kernkraftwerke weiterlaufen lassen würden!)

Die Bewältigung der schweren Krisen ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Der Bund ist bereit, seinen Teil dafür zu tun. Um es noch einmal klar zu sagen: Die Länder haben inzwischen höhere Steuereinnahmen als der Bund. 2021 und 2022 planen sie im Gegensatz zum Bund trotzdem mit extrem wenig Notkrediten. Und ich finde, die Länder – egal welche Farbe übrigens –, die jetzt unisono große Entlastungspakete gefordert haben, sollen dann auch ihren fairen Beitrag zur Finanzierung dieser Entlastungspakete leisten. Das ist nur gerecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Ich will noch einmal auf die Kritik der Union an den Entlastungspaketen eingehen. Warum brauchen wir überhaupt so umfangreiche Entlastungspakete? Weil wir eine so hohe fossil getriebene Inflation haben,

(Zuruf von der AfD: Fossil getrieben?)

vor allen Dingen bei Gas und bei Öl. Das ist die Wahrheit, warum wir jetzt in einer so massive Krise stecken. Wer hat denn 16 Jahre lang regiert? Wer hat denn die Energiewende blockiert? Wer hat denn Wind- und Solarenergie sabotiert, wo es nur ging? Wer hat die Gebäudesanierung verschlafen, die Wärmewende nicht vorangetrieben? Wer hat uns abhängig von Putins Gas gemacht? Das waren 16 Jahre Regierungspolitik der Union. Sie haben uns einen energiepolitischen Scherbenhaufen hinterlassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wir ändern das jetzt im Rekordtempo mit zehn Gesetzen zu erneuerbaren Energien und zur Energiesicherheit, die wir noch vor dem Sommer beschlossen haben. Herr Middelberg, ich empfehle Ihnen ernsthaft, sich den Stresstest einmal genau durchzulesen. Wenn man es sich genau anguckt – –

(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das habe ich gemacht!)

– Nein, das haben Sie nicht gemacht. Das können Sie sich angucken.

(Zuruf des Abg. Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU])

– Ich erkläre es Ihnen gern, Herr Middelberg. Ein Streckbetrieb von AKW hätte einen Effekt von weniger als 0,1 Prozent in Bezug auf den Gasverbrauch gebracht, also de facto gar nichts.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Neue Brennstäbe!)

Führende Energiemarktexperten haben sehr klar berechnet, dass es auch keine signifikanten Effekte auf den Preis gäbe, weil nämlich im jetzigen System die Kraftwerke mit den höchsten Preisen

(Zuruf des Abg. Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU])

per Merit-Order-Effekt den Preis bestimmen, nicht die Atomkraftwerke.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Unsinn! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das wollen Sie doch ändern! – Zuruf von der AfD: Das ist unsäglich!)

Der Stresstest hat sehr klar ergeben, dass wir keinen Streckbetrieb und keine Laufzeitverlängerung brauchen.

(Zuruf des Abg. Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU])

Jetzt geht es darum, dass wir uns im Rekordtempo von Putins Gas unabhängig machen. Sie versuchen, mit Ihren Atomdebatten davon abzulenken, welchen Scherbenhaufen Sie uns hinterlassen haben. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die CDU/CSU gewandt: Einfach mal den Stresstest lesen! – Zurufe von der CDU/CSU)

– Im Gegenteil! Sie wollen ja, dass wir weiter von Putins Gas abhängig sind. Sie klagen ja gerade auch in Karlsruhe gegen den Transformations- und Klimafonds, der uns durch mehr Energieeffizienz unabhängig macht, der uns unabhängig macht

(Zuruf der Abg. Dr. Silke Launert [CDU/CSU])

durch den klimaneutralen Umbau der Industrie. Hingegen würde Ihre Politik dahin führen, dass wir weiter von Putins Öl und Gas abhängig sind, und das werden wir nicht zulassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU])

Die letzten Wochen und Monate haben es gezeigt: Wir müssen bei diesen Haushaltsberatungen mit Blick auf den schweren Herbst und Winter, die uns bevorstehen, ein Stück weit auch auf Sicht fahren, weil wir noch nicht alle Auswirkungen kennen; Kollege Rohde hat darauf hingewiesen.

Wir wissen noch nicht, wie sich die Coronapandemie und dieser schreckliche Krieg auf unsere Gesellschaft, auf die Wirtschaft, auf unsere öffentlichen Haushalte auswirken. Auch in internationaler Hinsicht sehen wir, dass wir noch deutlichen Nachsteuerungsbedarf beim Thema Welternährung, beim Thema „zivile Krisenprävention und humanitäre Hilfe“ haben, insbesondere wenn ich mir den Etatentwurf für den Einzelplan 23 angucke.

Die aktuellen Zahlen deuten eher auf eine schwierige Entwicklung hin: Das Konsumklima sinkt, der ifo-Geschäftsklimaindex ist auf dem niedrigsten Stand seit zwei Jahren. Und natürlich ist klar: In solch einer Situation braucht man eine aktive, gestaltende Fiskalpolitik. Darauf werden wir in diesen Verhandlungen im Parlament achten. Wir werden uns als Koalition mit diesem Haushalt und auch den nächsten Haushalten nicht in Krisen hineinsparen.

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Wir werden das Notwendige, das Richtige, was wir brauchen, auch finanzieren und werden niemanden in der Gesellschaft in dieser schweren Krise im Stich lassen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Ich erteile das Wort Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)