Rede von Corinna Rüffer Inklusive Arbeitswelt

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12.05.2022

Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich danke. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Demokratinnen und Demokraten! Sehr häufig haben Abgeordnete und auch Regierungsvertreter von dieser Stelle aus betont, dass die oberste Prämisse, würde ich sagen, der UN‑Behindertenrechtskonvention „Nichts über uns ohne uns!“ in diesem Land gilt. Gleichzeitig haben wir sehr häufig erlebt, dass die Praxis des Regierungshandelns dem nicht entsprach. Fristen für die Abgabe von Stellungnahmen zu komplexen Gesetzentwürfen lagen manchmal bei wenigen Tagen. Das ist für alle Verbände und für alle, die zur Stellungnahme aufgerufen sind, natürlich eine Zumutung. Aber kleine Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen, die in der Regel wesentlich auf ehrenamtliches Engagement angewiesen sind, haben unter diesen Bedingungen kaum eine Chance, ihre Expertise ernsthaft einzubringen.

Wie gravierend das sein kann, sehen wir gerade im aktuellen Drama um die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Gesetzgebung zur sogenannten Triage, für den Fall also, dass zum Beispiel pandemiebedingt die überlebensnotwendigen intensivmedizinischen Ressourcen nicht mehr für alle ausreichen und entschieden werden muss – ich bitte um Aufmerksamkeit! –, wer überleben darf und wer sterben muss.

Ich glaube nicht, dass irgendein Minister oder irgendeine Ministerin dieses Kabinetts ernsthaft auf die Idee einer Ex-post-Triage gekommen wäre; das heißt, jederzeit könnte jemandem der Stecker gezogen werden, wenn einer anderer kommt, dessen Überlebenswahrscheinlichkeit besser eingeschätzt wird. Totschlag per Gesetz, könnte man sagen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand diese Erwägung ernsthaft angestellt hätte,

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Sagen Sie das Herrn Lauterbach!)

wenn man die Beschwerdeführer/-innen und ihre Selbstvertretungen von Anfang an in einen ernsthaften Beteiligungsprozess miteinbezogen hätte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN und des Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU])

Stattdessen hat man diese gesellschaftlich so unglaublich relevante Debatte von Anfang an gesundheitspolitisch verengt und sie wesentlich von denjenigen steuern lassen, die die Verfassungsbeschwerde ursprünglich verursacht haben: privaten medizinischen Fachgesellschaften nämlich.

Sie erahnen: Wir finden das Anliegen der Fraktion Die Linke absolut richtig. Ihre Forderungen sind aber im Wesentlichen im Koalitionsvertrag verankert, und wir hoffen, dass wir zusammen an einer wirklichen Partizipation behinderter Menschen im Gesetzgebungsverfahren und darüber hinaus arbeiten werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Und jetzt zum Antrag der Union. Ich halte echt gar nichts davon, irgendwie darüber zu lamentieren, ob Sie in 16 Jahren Regierungszeit nicht ausreichend Zeit gehabt hätten, all das umzusetzen, was Sie heute und auch beim letzten Mal an guten Dingen vorgelegt haben. Und darauf kommt es ja an: dass die Dinge, die in so einem Antrag stehen, gute Dinge sind. Wenn wir die inklusive Gesellschaft voranbringen wollen – und ich lese Ihren Antrag so –, brauchen wir alle Kräfte in diesem Land; denn es ist eine Mammutaufgabe, die wir vor uns haben. Da können wir auch auf die Unionsfraktion nicht verzichten. Deswegen herzlichen Dank an Hubert Hüppe, Herrn Oellers und alle anderen für diesen Antrag.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

In den letzten Jahren jagte eine akute Krise die nächste: die Klimakrise, die Pandemie, der Angriffskrieg auf die Ukraine. Und wir werden diese großen Herausforderungen unserer Zeit auf Dauer nur dann meistern können, wenn wir alle Menschen mitnehmen und nicht zulassen, dass Gruppen gegeneinander in Stellung gebracht werden.

Die Entwicklung eines inklusiven Arbeitsmarktes, auch und gerade angesichts des demografischen Wandels, ist dabei enorm bedeutsam; denn es geht darum, unsere Arbeitswelt so zu gestalten, dass immer mehr älter werdende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesund bleiben. Wir können und wollen auf sie nicht verzichten. Deshalb ist es notwendig, das betriebliche Eingliederungsmanagement, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, verbindlicher zu regeln, Prävention, Rehabilitation und Teilhabeleistungen viel stärker auf den Arbeitsmarkt auszurichten. Und es ist notwendig, die Schwerbehindertenvertretung als ganz wichtige Ressource in den Betrieben endlich zu stärken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN)

Sie sehen: Unser Thema reicht weit über den Antrag der Union hinaus. In der ersten Beratung zu Ihrem Antrag habe ich ausgeführt, dass entgegen den gesetzlich bindenden Vorgaben der Behindertenrechtskonvention immer mehr Menschen auf Sonderwelten wie Werkstätten für behinderte Menschen verwiesen werden. Viele von ihnen wünschen sich das nicht; sie wünschen sich etwas anderes. Neulich, irgendwo in Deutschland, berichtete mir eine Mutter – ich zitiere –:

Meine Tochter arbeitet bereits seit über 20 Jahren in einer Behindertenwerkstatt. Ich zwischenzeitlich auch – aufgrund einer psychischen Erkrankung. Sie sagt, sie möchte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt sein. Aber sie weiß, sie kann es nicht.

Und die nächste Rednerin:

Natürlich möchte ich außerhalb der Werkstatt arbeiten. Aber bin ich denn einem Arbeitgeber zuzumuten?

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie das hören, dass ein Mensch befürchtet, anderen Menschen nicht zuzumuten zu sein. Ich finde, das muss uns alle wütend machen. Wir müssen dieser Person zurufen: Du musst so nicht empfinden! Du hast ein Recht auf inklusive Arbeit! – Das muss dieses Parlament all diesen betroffenen Personen zurufen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)

Wir haben alle Möglichkeiten, Regelungen zu finden, nicht Maßnahmen von der Stange anzubieten, wegzukommen von der Ausschreiberitis hin zu Personenzentrierung, uns an den guten Beispielen der Inklusionsbetriebe zu orientieren, die es landauf, landab gibt, und es einfach zu machen. Das wäre die Aufgabe dieser Zeit, eine wichtige Aufgabe, einen inklusiven Arbeitsmarkt, eine inklusive Gesellschaft voranzutreiben.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Für die AfD-Fraktion folgt der Abgeordnete René Springer.

(Beifall bei der AfD)