Schahina Gambir MdB
02.03.2023

Schahina Gambir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mindestens 62 Menschen sind am vergangenen Wochenende im Mittelmeer ertrunken, darunter viele Kinder. Dutzende Leichen wurden durch italienische Rettungskräfte geborgen. Erst Mitte Februar wurden 18 tote Menschen in einem Laster in Bulgarien entdeckt. Parallel tauchen immer mehr Leichen im polnisch-belarussischen Grenzgebiet auf, erfroren, erstickt oder ertrunken. Das ist die Realität für Menschen auf der Flucht, jeden Tag.

Parallel greift Russland die Ukraine unvermindert brutal an. Die Kommunen leisten Unvorstellbares bei der Aufnahme ukrainischer Frauen, Männer und Kinder, die vor dem Krieg fliehen.

Dass Deutschland eben keinen Sonderweg geht, haben wir gesehen, als Putin seinen hinterhältigen Angriffskrieg begonnen hat und Hunderttausende in die EU fliehen mussten. Die Bundesregierung hat die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie auf den Weg gebracht, die es uns ermöglicht, schnell und unbürokratisch ukrainischen Menschen Schutz zu gewähren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE])

Gemeinsam mit europäischen Partnern haben wir besonders betroffene Staaten wie Moldawien humanitär und finanziell bei der Unterbringung und Versorgung Geflüchteter aus der Ukraine unterstützt. Ich bin unserer Außenministerin Annalena Baerbock besonders dankbar, dass sie damals schnell reagiert hat und gemeinsam mit Innenministerin Nancy Faeser ein gut koordiniertes europäisches Handeln ermöglicht hat. Viele Tausende haben deshalb auch ein Zuhause in Deutschland gefunden.

Nun arbeiten wir mit Hochdruck im Austausch mit Kommunen und Ländern daran, die Kommunen besser bei der Unterbringung und Versorgung Geflüchteter zu unterstützen. Und da frage ich mich doch, worin die Union einen Sonderweg erkennen möchte. Ich sehe Humanität und Solidarität gegenüber Flüchtenden und unseren europäischen Partnern.

Was mir aber tatsächlich Sorge bereitet, ist der Sonderweg des Manfred Weber.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD und des Abg. Stephan Thomae [FDP])

Der Vorsitzende der EVP-Fraktion pendelt geradezu zwischen Rom und Brüssel und hofierte rechte Kandidaten im italienischen Wahlkampf. Ob in Thüringen oder Rom: Die Brandmauer nach rechts scheint in der Union nur noch ein kleines Feuerchen zu sein.

(Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)

Doch um EU-Politik scheint es gar nicht zu gehen. Blicken wir in den Antrag: Als vermeintlichen europäischen Sonderweg bezeichnet die Union dort die Gesetzespakete, die wir in der Koalition gerade auf den Weg bringen. Argumentiert wird hier einmal mehr mit Fantasietheorien aus den 60er-Jahren. Es ist keine Überraschung, dass die Partei die ukrainischen Kriegsgeflüchteten als „Asyltouristen“ und Deutsche als „kleine Paschas“ beleidigt und mit der längst überholten Pull-Faktoren-Theorie aufwartet. Die von uns geplanten Verbesserungen der Gesetzeslage identifiziert die Union fleißig als Anreiz für Migranten, nach Deutschland zu kommen, ganz im Tenor von Herrn Merz, der in aller Öffentlichkeit darüber fantasiert, ob unsere Sozialsysteme Ukrainerinnen und Ukrainer dazu verleiten, zu fliehen.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: So ein Blödsinn! Das hat überhaupt niemand gesagt! Meine Güte!)

Diese vage Theorie, dass Anreize, sogenannte Pull-Faktoren, Menschen zur Flucht verleiten, geistert seit Jahrzehnten durch den migrationspolitischen Diskurs. Diese erdachte Theorie gilt in der Migrationsforschung als längst überholt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das ist doch Unsinn! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung sagt, dass die Realität viel komplexer ist, als diese Modelle von Push- und Pull-Faktoren es zulassen.

(Lamya Kaddor [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Komplex“ ist ein Fremdwort für die CDU/CSU!)

Doch Komplexität passt nicht in das politische Konzept der Union.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wenn wir dafür sorgen, dass Flüchtende hier angemessen und würdevoll untergebracht und versorgt sind, dann heißt das nichts anderes, als dass wir die Würde der Menschen respektieren.

(Abg. Alexander Hoffmann [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollegin Gambir.

Schahina Gambir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Das ist eben kein Anreiz für Menschen in der Ukraine, in Syrien oder Afghanistan, nach Deutschland zu fliehen. – Ich komme zum Ende.

Vizepräsidentin Petra Pau:

Nein, Sie müssen nicht zum Ende kommen. Ich habe gerade die Uhr angehalten mit der Frage, ob Sie eine Frage oder Bemerkung aus der Unionsfraktion zulassen.

Schahina Gambir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein, danke.

(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Ja, natürlich nicht! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Ich hoffe sehr, dass Sie in der Union sich einmal ernsthaft mit der aktuellen Forschung in dem Bereich auseinandersetzen. Das würde uns nicht nur eine niveauvollere Debatte ermöglichen, frei von rassistischen Ressentiments, sondern Betroffenen helfen, die unter Ihrer Diffamierung leiden müssen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Was für eine schwache Rede! – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das ist der Diskurs der Grünen!)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bernd Baumann für die AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)