Rede von Sven-Christian Kindler Nachtragshaushalt 2021

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15.04.2021

Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist nun der dritte Nachtragshaushalt innerhalb eines Jahres, den wir hier diskutieren. Ich sage klar: Es ist in dieser schweren Notlage, in dieser Pandemie richtig, dass die Bundesregierung die Kreditaufnahme erhöht. Es ist richtig, die Laufzeit der Wirtschaftshilfen zu verlängern. Und es ist auch richtig, mit diesem Nachtragshaushalt jetzt Impfstoffe zu finanzieren. Das ist richtig. Das stellen wir auch nicht infrage, und das unterstützen wir in diesen konkreten Punkten auch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber, Herr Scholz, man muss an dieser Stelle auch festhalten – Sie haben die Coronapolitik der Bundesregierung angesprochen –, dass die extrem gefährliche Situation, in der sich Deutschland jetzt befindet – mit so hohen Inzidenzzahlen, mit vollen Intensivstationen –, doch damit zusammenhängt, dass die Bundesregierung keine konsequente Strategie bei der Coronapolitik verfolgt. Das hängt damit zusammen, dass wir seit Oktober in einem nicht wirksamen Halb-Lockdown sind und die Bundesregierung keine Strategie hat – genauso wie die MPK. Man ist immer hinter der Welle, anstatt die Welle frühzeitig und konsequent zu brechen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Diese Strategie nach dem Motto „Too little, too late“ – immer zu wenig und zu spät –, die kann so nicht weiter funktionieren. Sie haben den Gesetzentwurf für die Bundesnotbremse angesprochen, Herr Scholz. Aber wir wissen doch alle hier im Haus, dass das nicht ausreichen wird, um die Inzidenzzahlen zu senken, und zwar schnell. Und das ist notwendig. Der Kollege Rehberg hat hier sehr genau ausgeführt, was mit den Intensivstationen passiert, wenn wir die Inzidenzzahlen jetzt nicht schnell senken.

Deswegen fordere ich Sie auf: Wir im Bundestag müssen beim Infektionsschutzgesetz deutlich bessere, deutlich wirksamere Maßnahmen beschließen, gerade im Bereich der Arbeitswelt, gerade im Bereich der Wirtschaft; der darf nicht weiter ausgespart werden. Wir müssen jetzt handeln, und zwar schnell!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Konkret zum Nachtragshaushalt. Was Sie hier vorgelegt haben, Herr Scholz, ist wirklich nur das Allernötigste. Im Grunde sind es viele technische Anpassungen, die Sie hier vornehmen. Aber es ist kein Wille zum Gestalten mit diesem Nachtragshaushalt wirklich erkennbar. ALG-II-Empfänger/-innen werden bei diesem Nachtragshaushalt wieder leer ausgehen. Es gibt weiterhin keine wirksame, richtige Absicherung für Soloselbstständige.

Und vor allen Dingen fehlt eine Perspektive: Was passiert nach dem Sommer mit Deutschland? Wie geht es dann weiter? Denn die Bundesregierung sagt ja selber: Dann werden wir hoffentlich aus dem Gröbsten heraus sein. – Aber dann muss man, finde ich, auch einen Plan vorlegen: Wie funktioniert die wirtschaftliche Erholung? Wie funktioniert der Wiederaufbau? Das muss man dann im Haushalt konkret absichern. Dann brauchen wir eben zusätzliche Investitionen, dann brauchen wir neue Innovationen, neue Impulse. Das muss man im Haushalt absichern. Aber das sehen wir nicht in diesem Nachtragshaushalt. Das ist viel zu wenig, was Sie hier vorgelegt haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Otto Fricke [FDP])

Konkret fehlt es an Investitionen in Klimaschutz, in Bildung, in Digitalisierung. Damit vergibt die Bundesregierung hier auch eine Chance, einen ambitionierten Wiederaufbauplan vorzulegen. Ich frage mich schon: Wie soll die Bundesrepublik Deutschland nach dieser Pandemie mit diesem ewigen Weiter-so, mit diesem ewigen Verwalten des Status quo international wieder den Anschluss gewinnen? Wir sehen doch, wie viel in die Zukunft investiert wird in China, aber auch in den USA.

Die neue Administration von Joe Biden hat jetzt einen ambitionierten Plan vorgelegt für Klimaschutz, für die Energiewende, für Forschung, für Digitalisierung, für ein großes Investitionsprogramm und für gute neue Arbeitsplätze. Da ist nichts verdruckst; da ist richtig Power hinter. Ich wünsche mir, dass wir in Deutschland eine Bundesregierung bekommen, die wie die Biden-Administration wirklich anpackt, die wirklich vorangeht. Das brauchen wir nach der nächsten Bundestagswahl!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben gesagt, Herr Scholz, man braucht hohe Investitionen nach Corona. Aber die Investitionsstrategie dafür fehlt. Ein Blick in Ihren Haushalt zeigt: Der Nachtragshaushalt, aber auch die Eckwerte für den Haushalt 2022 und die Finanzplanung sehen vor, dass die Investitionen erst sinken und dann eingefroren werden. Das ist aus meiner Sicht Arbeitsverweigerung.

Dass wir mehr Investitionen nach der Pandemie brauchen, das sagen nicht nur wir; das sagen übrigens auch Arbeitgeber und Gewerkschaften, und zwar im Gleichklang. Erst diese Woche hat das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft eine neue Studie vorgelegt. Arbeitgeber und Gewerkschaften sagen gemeinsam: Wir brauchen mehr Investitionen, und dafür müssen wir auch die Möglichkeit nutzen, das über neue Kredite zu finanzieren. – Sie sagen gleichzeitig: Wir müssen die Schuldenbremse reformieren, und wir müssen dafür sorgen, dass wir keine harten, zu kurzen Tilgungsfristen haben, damit sich Deutschland nach Corona eben nicht kaputtspart. – Ich finde, es wird Zeit, dass man auch auf die Stimmen aus der Wirtschaft hört. Wir brauchen endlich eine investitionsfreundliche Haushaltspolitik; das ist auch wirtschaftsfreundlich. Wir dürfen nicht weiter an alten Dogmen festhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Aber was für eine Investition ist das?)

Dafür brauchen wir auch eine Reform unserer Schuldenregeln.

(Otto Fricke [FDP]: Ja!)

Ich sage: keine Abschaffung, eine Reform – keine Abschaffung, wie es die Linkspartei will, aber auch kein starres Festhalten, wie es die Unionsfraktion will.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Klar wollen Sie die abschaffen!)

Vielmehr brauchen wir eine Reform unserer Schuldenregeln. Denn es geht darum, dass wir Investitionen, die neues Vermögen schaffen, finanzieren und dafür auch neue Kredite aufnehmen. Die Ablehnung dessen, gerade aus der Unionsfraktion, lässt sich aus meiner Sicht inzwischen nur noch ideologisch begründen; denn mit makroökonomischer Expertise hat das wenig zu tun. Aber auch mit mikroökonomischer Expertise, also mit einzelwirtschaftlichem Sachverstand, hat das wenig zu tun.

Es ist doch absurd, bei dauerhaft niedrigen Zinsen auf neue Kredite zu verzichten, wenn man gleichzeitig einen so hohen Investitionsstau hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Boehringer [AfD]: Total absurd! Das ist grünes Wirtschaftsverständnis!)

Welche Unternehmerin würde denn, wenn es extrem niedrige Zinsen gibt und sie gleichzeitig veraltete Maschinen hat, nicht sagen:

(Zurufe von der FDP sowie des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/CSU])

„Ich nutze diese Chance; ich investiere jetzt in neue, effizientere Maschinen, erneuere meinen Investitionsstock“? Das würde man doch machen. Man wäre doch mit dem Klammerbeutel gepudert, diese große Chance jetzt nicht zu nutzen. Ich fordere Sie auf: Kommen Sie endlich in der ökonomischen Realität an, und handeln Sie endlich!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Vielleicht sollte man seine Reden mal der Lage anpassen!)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Jetzt erhält das Wort der Kollege Dennis Rohde, SPD.

(Beifall bei der SPD)