Rede von Corinna Rüffer Pflege und Rehabilitation
Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will noch mal versuchen, explizit eine behindertenpolitische Position in diese Debatte reinzubringen. Das ist, glaube ich, notwendig, um später im weiteren Gesetzgebungsprozess voranzukommen.
Ganz grundsätzlich: Corona macht an vielen Stellen Probleme deutlich, die wir vorher nicht gesehen haben. Es wirft noch mal ein Schlaglicht auf Probleme, die wir vorher nicht gesehen haben. – Ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe, das ist das Versprechen der UN-Behindertenrechtskonvention, und die ist seit nunmehr elf Jahren geltendes Recht in diesem Land. Ich muss Ihnen leider sagen: Wir sind total weit davon entfernt, dieses Versprechen in Deutschland umzusetzen, und wir erleben das in der Pandemie in ganz besonderer Weise.
Viele Menschen, gerade solche mit Behinderungen, leben seit Wochen und Monaten in absoluter Isolation. Das muss man sich mal vorstellen: Auf Kontakt zu ihren Liebsten mussten sie in den vergangenen Wochen und Monaten fast vollständig verzichten, und das in einer Situation, die ja für uns alle schwierig und belastend ist. Das ist wirklich kaum nachzuvollziehen.
Unter dem Stichwort der Triage diskutieren wir die Frage, wer im Fall einer Überforderung des intensivmedizinischen Systems die überlebenswichtige Behandlung, das letzte Atemgerät bekommt. Menschen mit Behinderungen fürchten – das ist völlig nachvollziehbar –, dass sie in diesen Situationen den Kürzeren ziehen würden.
Jetzt stehen wir ernsthaft hier und behandeln das IPReG, ein Gesetz, gegen das Menschen mit Behinderungen seit Monaten opponiert haben und die gefragt haben: Warum diskutieren wir jetzt und hier dieses Gesetz, wo wir nicht die Möglichkeit haben, unsere Stimme laut zu erheben vor diesem Reichstag, weil wir isoliert zu Hause sitzen?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ich zitiere – damit Sie nachempfinden können, worum es hier geht und woher der Widerstand gegen dieses Gesetz kommt – den Vater eines dreijährigen Kindes. Er ist beatmet. Er beschäftigt seine Pflegekräfte über ein Budget selbst. Er schreibt den Text mit einem Computer und bedient die Tastatur mit seinen Augen; über diesen Menschen reden wir hier. Er sagt:
Dass ich selbstbestimmt und in Würde bei meiner Familie leben darf, optimal gepflegt werde … ist der Boden, auf dem mein Glück steht und ohne den ich haltlos fallen würde.
Was er fürchtet, ist, dass wir als Parlament ihn haltlos fallen lassen werden; das muss ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, sagen.
Herr Dusel war heute Morgen im Gesundheitsausschuss. Herr Dusel hat eindeutig gesagt, dass der Vorschlag, über den wir hier heute diskutieren, den Voraussetzungen und Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention nicht entspricht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
und dass dieser junge Vater zu Recht darum fürchtet, dass der MDK ihn wider seinen Willen im Fall der Fälle in ein Heim abschiebt. Das ist der Punkt, über den wir hier reden.
Ich habe einzelne Töne in dieser Diskussion gehört, die darauf hindeuten, dass wir die Kuh vom Eis bekommen können. Aber bitte, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, denken wir im weiteren Gesetzgebungsprozess über die Menschen nach, die darum fürchten, dass sie nach den Vorgaben weiterhin in ihrer häuslichen Umgebung leben können. An diese Menschen zu denken, das muss die Prämisse sein; denn diese Menschen haben das Recht, in ihrer häuslichen Umgebung zu leben.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das wollen wir!)
Das spricht nicht dagegen, dass wir Missstände in diesem Bereich beheben müssen. Wir dürfen diese beiden Punkte nicht weiterhin gegeneinandersetzen.
Vizepräsidentin Claudia Roth:
Frau Kollegin.
Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)
Vizepräsidentin Claudia Roth:
Vielen herzlichen Dank, Corinna Rüffer. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Erwin Rüddel.
(Beifall bei der CDU/CSU)