Rede von Britta Haßelmann Regierungserklärung zum Jahrestag des Angriffskrieges auf die Ukraine

Die grüne Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann am Redepult des Deutschen Bundestages.
02.03.2023

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich bin nicht die Einzige, der sich nicht erschlossen hat, was die Botschaft von Friedrich Merz sein soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich glaube, dass es an diesem Tag nicht darauf ankommt, zu klären, welche Journalisten der Kanzler mit in die Staaten nimmt.

(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Offensichtlich gar keine!)

Für mich geht es auch nicht darum, daran rumzumäkeln, dass die Bundesregierung sich aufgemacht hat, eine Nationale Sicherheitsstrategie zu entwickeln; denn diese Bundesregierung tut es wenigstens.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Sie waren 16 Jahre im Amt.

(Lachen des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU] – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das hat noch nicht mal eine Minute gedauert! Das ist Rekord, Frau Haßelmann!)

Meine Damen und Herren, es geht auch nicht darum, nicht darüber zu reden, welche Fehler in Zeiten der Großen Koalition gemacht wurden im Hinblick auf völlig verfehlte geostrategische und energiepolitische Entscheidungen bei Nord Stream 2. Auch die haben Sie zu verantworten,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

genauso wie die SPD in der Großen Koalition.

Auch die Situation, die wir hier vorgefunden haben, was die Frage der Energiesicherheit, der Versorgungssicherheit angeht – leere Gasspeicher und eine Abhängigkeit von fossilen Energien –, haben Sie zu verantworten, Herr Merz. Deshalb, glaube ich, ist es unklug, Haltungsnoten in Richtung des Wirtschaftsministeriums zu verteilen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ich bin froh, dass Robert Habeck und die Leute im Wirtschaftsministerium gemeinsam in der Bundesregierung dafür gesorgt haben, dass wir so gut über den Winter gekommen sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Sie sollten daher nicht kleinteilig und aus parteipolitischen Gründen behaupten, irgendwelche Industrie- und Wirtschaftsverbände und Unternehmen würden dieser Bundesregierung nichts zutrauen. Ich rate dazu, nicht nur mit Ihren eigenen Wirtschaftsverbänden zu reden, sondern auch mal in Industrie, in Wirtschaft, in Handwerk reinzuhorchen

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Denn die wissen ganz genau, was in dieser Krisensituation bewältigt wurde, was auf den Weg gebracht wurde.

(Steffen Bilger [CDU/CSU]: Da höre ich aber anderes!)

Meine Damen und Herren, wo standen wir vor einem Jahr? Entsetzen über den Krieg in Europa, Entsetzen und Sorgen um die Ukraine, die Tatsache, dass angesichts der russischen Übermacht die Ukraine vielleicht in wenigen Tagen überrannt sein könnte. Die Botschaft in dieser schrecklichen Lage ist heute, ein Jahr später: Die Ukraine lebt, und die Ukraine wehrt sich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Herr Botschafter Oleksij Makejew, ich freue mich, dass Sie heute da sind, und ich möchte Ihnen an dieser Stelle meinen Respekt, meine Hochachtung für den Mut und den Willen der Ukraine, ihr Land, ihre Freiheit und unsere gemeinsamen Werte zu verteidigen, aussprechen. Danke, dass Sie heute hier sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Danke, dass wir unsere Gedanken, unsere Solidarität mit den Ukrainerinnen und Ukrainern mit Ihnen allen teilen können.

Aber welche Kosten dieser sinnlose, brutale, völkerrechtswidrige Angriffskrieg fordert, sehen wir jeden Tag. Wir müssen nur genau hinsehen. Das tun nicht alle hier im Haus. Man kann darüber eigentlich nicht hinwegsehen: Flucht, Vertreibung, Tod, Leid, Vergewaltigung von Frauen als Kriegswaffe, systematisch eingesetzt, die Verschleppung von Kindern. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind erschöpft – vom Krieg, vom Alltag, vom Stromausfall, vom ständigen Alarm. Jede und jeder hat irgendwen zu betrauern, weil Tod oder Flucht zu ihrem Leben gehört. Gleichzeitig ist da so viel Hoffnung, und das bewundere ich zutiefst.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Mehr als 365 Tage Ausnahmezustand für die vielen Kinder, deren Alltag nicht das Kindsein, das Unbekümmertsein in sich trägt,

(Martin Sichert [AfD]: Das hat Sie bei Corona auch nicht geschert!)

sondern die Warn-App, der Schutzkeller, die Entbehrungen, die Gefahren und das große Thema Verlust. Das ist furchtbar für diejenigen, die geblieben sind. Sie erleben das jeden Tag. Gleichzeitig ist da diese Entschlossenheit, nicht aufzugeben und für ihr Land, für Freiheit und Selbstbestimmung zu kämpfen.

Was können wir tun? Wir geben Unterstützung und damit hoffentlich ein bisschen Kraft und ein bisschen Rückhalt, und wir stehen fest an Ihrer Seite, an der Seite der Menschen in der Ukraine.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Putin ist der Aggressor. Putin kann diesen Krieg sofort beenden. Ich kann den Gegensatz, der insbesondere von Ihnen konstruiert wird, nicht mehr hören: Diplomatie oder Waffen. Nein, liebe Linke, darum geht es nicht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Die Ukraine braucht die Unterstützung, und zwar humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen. Sonst könnte sie sich nicht selbst verteidigen. Und sie hat alles Recht der Welt dazu, das zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich kann Ihnen sagen: Ich nehme die Sorgen und Ängste der Menschen im Land sehr ernst. Wer von uns wünscht sich keinen Frieden?

(Tino Chrupalla [AfD]: Sie!)

Wer hat Angst vor Krieg? Natürlich ist das eine ganz, ganz große Sorge vieler, vieler Menschen, und diese Besorgnis müssen wir ernst nehmen.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Tun Sie aber nicht!)

Aber so zu tun und den Menschen weiszumachen, es ginge um Diplomatie oder Waffen, ist falsch. Sie wissen, was Sie damit tun und welche Geister Sie rufen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wer sich am letzten Wochenende wissentlich mit den Rechten gemeingemacht hat,

(Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist eine so große Sauerei! Das sollten wir uns hier nicht sagen lassen, nicht von dir! Das ist so daneben! – Weitere Zurufe von der LINKEN)

mit den Rechten hier im Haus und mit den Rechten im Land, muss wissen: Das war ein durchschaubares, billiges Spiel. Ich finde das unverantwortlich, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist rechtes Geschwätz! Nazi-Relativierung ist das! – Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

Putin kann diesen Krieg sofort beenden. Hört Putin auf, zu kämpfen, endet dieser Krieg, und zwar sofort. Hört die Ukraine auf, zu kämpfen, endet die Ukraine.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Haben Sie gut zugehört!)

Das weiß jede und jeder. Deshalb müssen wir verantwortlich handeln,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

auch wenn es schwerfällt, auch wenn man hadert, auch man sich jeden Tag fragt, ob es genug ist, was man tut. Wir müssen entschlossen handeln, und zwar humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen

(Zuruf der Abg. Amira Mohamed Ali [DIE LINKE])

und selbstverständlich auch mit Diplomatie. Nichts anderes ist letzte Woche bei der UN-Vollversammlung passiert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

141 Staaten haben Putin aufgefordert, diesen Krieg sofort zu beenden, die Waffen zu stoppen. Warum bringen Sie es eigentlich nicht fertig, das zu tun, meine Damen und Herren?

(Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Das tun wir doch!)

Warum?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist Merz-Niveau! – Zuruf der Abg. Amira Mohamed Ali [DIE LINKE])

Diplomatie gehört genauso dazu

(Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Ja, wo ist sie denn?)

wie all die andere Unterstützung, auch die Kraftanstrengung, die mit der Zeitenwende seit einem Jahr einhergeht: das Sondervermögen, die Frage der inneren Sicherheit – Stichwort „Cybersicherheit“ –, die Frage der Stärkung des Zivilschutzes und des Bevölkerungsschutzes. Genauso notwendig ist eine Politik, die die Energiesicherheit und Versorgungssicherheit stabilisiert; da hatten Sie keine Vorsorge getroffen. Es geht auch um die Frage: Wie gehen wir mit dem Thema „Eine Welt“ um? Wie können wir die humanitäre Hilfe, die Entwicklungszusammenarbeit und die Krisen- und Konfliktpräventionen stärken?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriela Heinrich [SPD])

Auch darum geht es, und darum bemüht sich diese Regierung seit einem Jahr mit unserer Unterstützung im Parlament.

Ich bin froh, dass unsere Handlungsmaxime lautet: Verantwortungsübernahme in dieser schwierigen Zeit. Es geht um Freiheit, es geht um Selbstbestimmung, es geht um Demokratie und Menschenrechte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wir sind gefordert, da Verantwortung zu zeigen, und das tun wir an dieser Stelle.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Ganz übel! Das ist doch nicht mehr normal!)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Für die AfD-Fraktion hat das Wort Tino Chrupalla.

(Beifall bei der AfD sowie des Abg. Robert Farle [fraktionslos])