Rede von Jamila Schäfer Seenotrettung

Jamila Schäfer MdB
19.10.2023

Jamila Schäfer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir haben ein ganz konkretes Problem in der migrationspolitischen Debatte dieser Tage; das sehen wir auch an dieser Diskussion hier. Statt darüber zu sprechen, wie wir wirklich pragmatisch Handlungsfähigkeit in der Migrationspolitik erreichen, kreisen wir immer wieder um Scheindebatten und Scheinlösungen. So ist es leider auch in der Debatte um die zivile Seenotrettung. Es ist eigentlich erstaunlich, dass dieses Thema überhaupt so politisch diskutiert wird; denn es geht eigentlich um humanitäre Hilfe.

Seit 2014 sind mindestens 28 000 Menschen auf ihrer Flucht über das Mittelmeer ertrunken.

(Dr. Gottfried Curio [AfD]: Die fliehen nicht!)

Jeden Tag sterben etwa acht Menschen im Mittelmeer. Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen. Das Sterben im Mittelmeer ist die zweitgrößte humanitäre Katastrophe nach dem Krieg in der Ukraine.

Die Pflicht zur Rettung von Schiffbrüchigen, unabhängig von Hautfarbe und Herkunft, ist internationales Recht und eine Frage der Menschlichkeit. Darum bin ich sehr dankbar, dass wir im vergangenen Jahr im Deutschen Bundestag mit den Stimmen der Ampel, der Union und der Linkspartei die Unterstützung der Seenotrettung mit 2 Millionen Euro pro Jahr bis 2026 beschlossen haben. Das gilt, und das ist auch gut so.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE] – Dr. Gottfried Curio [AfD]: Verbringung nach Lampedusa ist nur Schlepperei! Und das wissen Sie!)

Denn natürlich ist es richtig, dass man bei der zweitgrößten humanitären Krise in Europa etwas gegen das Sterben unternimmt.

Und ja, bei manchen gibt es offensichtlich die Vorstellung, man könnte mit der Kriminalisierung der humanitären Hilfe im Mittelmeer dafür sorgen, dass weniger Menschen zu uns kommen. Oft wird auch bis ins konservative Lager hinein behauptet, dass die Seenotrettung ein sogenannter Pull-Faktor sei und die Zahl der Überfahrten dadurch steigen würde. Aber keine Studie, die versucht hat, das zu belegen, hat das geschafft. Hertie School, European University Institute, University of Oxford, Goldsmiths, University of London – sie alle kommen zu demselben empirischen Ergebnis: Es gibt keine Verbindung zwischen lebensrettenden Aktionen im Meer und der Zahl der Geflüchteten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE] – Sebastian Fiedler [SPD]: Das ist auf Englisch! Das haben die nicht gelesen! – Martin Hess [AfD]: Sie glauben das auch noch, oder?)

Auch die EU-Operation EUNAVFOR MED Irini, an der auch unsere Bundeswehr beteiligt ist, hat eigene Daten dazu erhoben. Und die kommt in den Berichten auch immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Die Anzahl der Abfahrten von Flüchtlingsbooten ist vor allem abhängig vom Wetter und nicht von der Seenotrettung.

(Lachen bei Abgeordneten der AfD – Martin Hess [AfD]: Also, das ist Realitätsverlust!)

Also, an die rechte Seite dieses Hauses: Wenn Sie schon Wissenschaftlern nicht glauben – und das sind wir gewohnt –, glauben Sie denn eigentlich auch nicht den Berichten unserer Bundeswehr?

Es wird immer wieder so getan, als ob die Überfahrten über das Mittelmeer gestoppt werden würden, wenn Seenotrettungsorganisationen nicht mehr aktiv seien. Aber auch das entbehrt jeder faktischen Grundlage. Die Wahrheit ist: Die Flüchtlinge gab es auch schon vor den Booten. Über 90 Prozent der Menschen, die nach Italien kommen, kommen dort unabhängig von jeglicher Rettungsmission an. Seenotrettung führt nicht zu mehr Flüchtlingen, sondern zu weniger Toten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Martin Hess [AfD]: Das ist doch lächerlich!)

Übrigens werden die Anlandungen der Seenotrettungsschiffe auch nicht von Schlepperbanden oder sonstigen Leuten koordiniert, sondern von der italienischen Seenotrettungsleitstelle in Rom. Erst diese Woche konnte man das ja in der Praxis sehen. Die italienische Seenotrettungsleitstelle wies das Schiff „Humanity 1“ an, zu einem Seenotrettungsfall auszufahren. Anschließend wird dem Schiff gemäß dem internationalen Recht vorgegeben, wo sie anlanden dürfen. Wir sollten wirklich einfach mal aufhören, diese Verschwörungserzählungen zu verbreiten,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

und uns stattdessen mal fragen, wem es eigentlich nutzt, wenn wir hier dauernd fehlgeleitete Empörungswellen reiten, statt endlich mal in der Sache voranzukommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen schauen wir uns doch mal an, was in der Migrationspolitik wirklich helfen würde.

(Moritz Oppelt [CDU/CSU]: Dann machen Sie es doch! Sie haben eine Mehrheit!)

Erstens. Wir müssen endlich für durchdachte und wirksame Fluchtursachenbekämpfung sorgen. Dazu gehören humanitäre Hilfe, wirtschaftliche Zusammenarbeit und auch zivile und militärische Krisenprävention und Stabilisierungsarbeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Cornelia Möhring [DIE LINKE] – Moritz Oppelt [CDU/CSU]: Wer regiert denn dieses Land?)

Zweitens. Wir müssen endlich eine faire Verteilung auf europäischer Ebene hinbekommen.

(Moritz Oppelt [CDU/CSU]: Warum macht ihr es denn nicht?)

Wer nicht mitmacht, der muss für die verweigerte Aufnahme eben bezahlen.

Drittens. Wir sollten unsere Kommunen hier vor Ort endlich besser und resilienter machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das bedeutet: mehr Investitionen in Kitas und Schulen, mehr Investitionen in die Sicherheitsbehörden, mehr bezahlbaren Wohnraum. Außerdem müssen wir endlich die Entbürokratisierung voranbringen. Das müssen wir übrigens alles auch ganz unabhängig von migrationspolitischen Fragen tun.

(Stephan Brandner [AfD]: Sie entfernen sich vom Thema! – Moritz Oppelt [CDU/CSU]: Dann machen Sie es doch!)

Viertens. Wir müssen an die Arbeitsverbote ran. Nur so können wir die integrative Kraft unseres Arbeitsmarktes auch nutzen und den Arbeits- und Fachkräftemangel zurückdrängen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Josef Oster [CDU/CSU]: Es geht um Begrenzung!)

Fünftens. Es braucht Migrationsabkommen, damit die, die keinen Schutzanspruch haben und auch keine Möglichkeit oder keinen Willen haben, im Arbeitsmarkt integriert zu werden, auch zurückkehren können und anderswo wieder aufgenommen werden.

Vielleicht sollten wir uns einfach mal pragmatisch diesen Lösungen widmen,

(Moritz Oppelt [CDU/CSU]: Ja, dann macht das doch mal!)

statt hier ständig neue Vorschläge für die Entrechtung und Entwürdigung von Schutzsuchenden zu machen. Dann wären wir wirklich auch in der Sache einen Schritt weiter.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Moritz Oppelt [CDU/CSU]: Schöne Oppositionsrede!)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Frau Kollegin Schäfer. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Clara Bünger, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)