Rede von Ulle Schauws Sexuelle Identität im Grundgesetz
Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch noch 70 Jahre nach Entstehung unserer Verfassung wird eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern im Grundgesetz nicht erwähnt. Das Fehlen der sexuellen Identität in Artikel 3 Absatz 3 schreibt bis heute eine Rechtsungleichheit fort. Aus diesem Grund legen wir Grünen zusammen mit FDP und Linken diesen Gesetzentwurf vor, weil endlich auch die letzte von den Nationalsozialisten verfolgte Gruppe explizit im Grundgesetz genannt werden muss. Die sexuelle Identität von Menschen unter den Schutz unserer Verfassung zu stellen, ist jetzt das Gebot der Stunde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Der gerade verstorbene, hochgeschätzte Bundesanwalt Manfred Bruns, den wir in würdevoller Erinnerung behalten werden, sagte es auf den Punkt: Die Verfassung behandelt „Homosexuelle als Bürger zweiter Klasse“. Ich sage: Damit muss nach 70 Jahren Schluss sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre bereits 1949 die sexuelle Identität im Grundgesetz verankert worden: Hätte es den Unrechtsparagrafen 175 StGB dann noch gegeben? Hätte es dann den Kampf für die Ehe für alle gegeben? Wären Regenbogenfamilien dann noch immer rechtlich schlechter gestellt? Wären die schädlichen, menschenverachtenden Konversionstherapien dann möglich gewesen? Die Antwort ist: Nein. All dies wäre mit dem Merkmal der sexuellen Identität in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz schwerlich gegangen. Vielen Menschen wäre viel Leid erspart geblieben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen haben bereits vor zehn Jahren eine Ergänzung des Grundgesetzes gefordert. Die heutige Justizministerin Lambrecht hat das damals unterstützt. Wir können sicherlich sagen, dass sich in puncto gleiche Rechte vieles verbessert hat, und Errungenschaften wurden mit Freude gefeiert. Aber in Zeiten, in denen Rechtsextreme im Bundestag beantragen, die Ehe für alle wieder abzuschaffen, in denen eine Parteivorsitzende Kramp-Karrenbauer auf Kosten von gesellschaftlichen Minderheiten Witze reißt und in denen eine Bildungsministerin Karliczek mit Vorurteilen gegen LSBTI irrlichtert, braucht es unmissverständlich auch den Schutz von Lesben, Schwulen und Bi im Grundgesetz. Es darf nie wieder geschehen, dass eine politische Stimmungslage zur Gefahr für die Freiheit und Würde Einzelner werden kann.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)
Das lehrt uns die Geschichte unseres Landes, in dem Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität menschenrechtswidrig verfolgt wurden.
Eine Erweiterung von Artikel 3 Absatz 3 bedeutet, verantwortungsvoll mit der eigenen Geschichte umzugehen – so, wie es bereits mit der Ergänzung durch die Verankerung des Merkmals „Behinderung“ 1994 passiert ist. Darum an Sie, Kolleginnen und Kollegen der Union, und insbesondere an Herrn Kollegen Frei gerichtet: Es ist nicht glaubwürdig, die wichtige Ergänzung als „Aufblähung“ zu bezeichnen. Sie alle wissen, dass ein ausdrücklicher Verfassungswortlaut eine größere Strahlkraft hat als die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Darum: Machen Sie sich ehrlich! Springen Sie hier über Ihren Schatten!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verfassung ist überdies die zentrale Grundlage, auf der wir festlegen, welche Werte wir teilen. Sie ist richtungsweisend für eine solidarische, gerechte Gemeinschaft. In Schulen oder Integrationskursen wird die Verfassung im Unterricht behandelt. Solange die sexuelle Identität im Grundgesetz fehlt, sind auch bestehende Anfeindungen unsichtbarer und werden sie so bagatellisiert.
Alle, die das Grundgesetz lesen, sollen dort sich selbst, ihre Freundinnen und Freunde und ihre Familienmitglieder wiederfinden. Nach 70 Jahren steht es dieser großartigen Verfassung gut zu Gesicht, vervollständigt zu werden. Es geht hier nicht um Symbolik, sondern es geht um den Abbau rechtlicher Nachteile. Homo- und bisexuelle Menschen sind keine Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf deswegen zu!
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)
Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)