Rede von Omid Nouripour Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage an den Außengrenzen der Europäischen Union ist dramatisch. Wir reden hier über eine massive humanitäre Krise, und es kann niemanden kaltlassen, wenn in diesen Zeiten Menschen mitten in Europa erfrieren, weil ihnen die notwendige Hilfe verweigert wird. Und ja, wir sehen, dass das eine große politische Herausforderung für die Europäische Union ist und dass wir zusammenstehen müssen. Die Verantwortung dafür liegt beim Diktator Lukaschenko und im Kreml; das muss man an dieser Stelle klar benennen und deutlich adressieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Norbert Kleinwächter [AfD]: Und bei der deutschen Bundesregierung!)
Wir müssen dort vieles hinbekommen; das ist offensichtlich. Die höchste Priorität ist natürlich, den Menschen zu helfen. Muss man in dieser Situation auch mit dem Lukaschenko-Regime sprechen? Die Antwort ist: Ja. Müssen wir derzeit mit den Taliban sprechen, um noch Menschen aus dem Land zu holen, weil es nicht passiert ist, als es regulär hätte möglich sein können? Ja. Würde irgendjemand in der Unionsfraktion auf die Idee kommen, zu sagen, Frau Merkel solle bei den Taliban anrufen? Ich glaube nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist einer der Gründe, warum es derzeit bei unseren Nachbarn und Partnern in Polen, Lettland und Litauen massive Irritationen gibt. Im Übrigen wäre es auch ein Grund zur Irritation, wenn die Union in ihrem nächsten Antrag zu diesem Thema wieder „Präsident Lukaschenko“ schreiben würde; das haben Sie in Ihrem letzten Antrag nämlich gemacht. Ich unterstelle mal, dass das ein Versehen war. Aber auf solche Dinge muss man verstärkt achten. Bitte unterlassen Sie das; denn Lukaschenko ist nicht der Präsident von Belarus; er hat die Wahl gestohlen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Nun hat Frau Merkel das Gespräch gesucht; wir haben das kritisiert. Jetzt gibt es Gespräche. Wir erwarten, dass jetzt nicht nur über die Notlage gesprochen wird, sondern dass sie, die berechtigterweise – auch im europäischen Korps – seit August letzten Jahres das Gespräch mit Lukaschenko verweigert hat, in diesen Gesprächen auch die Freilassung der politischen Häftlinge in dem Land fordert. Derzeit sind es so viele wie in den letzten Jahrzenten nicht mehr. Sehr viele wurden im letzten Sommer verhaftet. Wenn man mit den Angehörigen redet, hört man, dass es ihre Hauptsorge ist, dass sie in der jetzigen Situation vergessen werden. Dass diese Menschen nicht vergessen werden, dazu könnte die Frau Bundeskanzlerin einen großen Beitrag leisten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dass Maria Kalesnikava, Sergej Petruchkin und all die anderen endlich freigelassen werden, gehört jetzt genauso auf die Tagesordnung. Denn das Ziel von Lukaschenko ist doch, genau davon abzulenken. Damit können wir ihn nicht durchkommen lassen.
Dass Frau Merkel unseren Vorschlag von letzter Woche, dass der UNHCR jetzt die Arbeit übernehmen soll, eingebracht hat, begrüßen wir. Jetzt ist es notwendig, das zu Ende zu denken. Wenn der UNHCR jetzt die Anträge bearbeitet, den Menschen Obhut gewährt, dann wird es Menschen geben, die als Flüchtlinge anerkannt werden, die diesen Status vom UNHCR bekommen. Dann kann man doch nicht, wie Sie es gerade gemacht haben und wie es im Übrigen der Außenminister gemacht hat, von vornherein die Aufnahme von Flüchtlingen ausschließen. Das ist einfach nicht konsistent.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich bin sehr dankbar, dass Wolfgang Schäuble gestern genau dies richtigerweise und mit den richtigen Worten zum Ausdruck gebracht hat. Denn diese Art, zu helfen, gehört dazu.
Das, was die EU-Außenministerinnen und ‑minister in den letzten Tagen beschlossen haben, ist gut. Es ist richtig, dass die Sanktionen weitergehen und verschärft werden; es ist richtig, dass jetzt die Airlines angegangen werden. In diesem Zusammenhang, Kolleginnen und Kollegen von der AfD: Wenn Sie das, was Sie gesagt haben, ernst meinen würden – Sie sind diejenigen, die zweimal zu Assad gepilgert sind –, dann würden Sie auch zugeben, dass sehr viele Menschen mit Cham Wings aus Syrien nach Belarus geflogen worden sind. Der Chef von Cham Wings ist Rami Machluf; er ist der Cousin von Assad und deswegen der reichste Mann des Landes.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Das ist unsachlich, Herr Nouripour!)
Dass Sie das ausblenden, zeigt, worum es hier eigentlich geht. Die Erpressung kann nur funktionieren, wenn wir hier vor Angst in Hypnose verfallen. Genau dazu tragen Sie bei, weil Sie glauben, politisch daraus Honig saugen zu können.
Das werden wir nicht zulassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Das wird die gesamte Europäische Union nicht zulassen; denn die Europäische Union ist und bleibt eine Wertegemeinschaft, basierend auf Rechtsstaatlichkeit, Menschlichkeit und Menschenrechten, die universell verbrieft sind. Deshalb ist es notwendig, jetzt deutlich zu machen, dass wir an der Seite unserer Kolleginnen und Kollegen in unseren Partnerstaaten Polen, Lettland und Litauen stehen,
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Aber an deren Seite sind Sie ja nicht!)
dass wir ihnen helfen, dass wir solidarisch sind, aber dass wir von ihnen natürlich auch verlangen, dass sie sich an Recht und Gesetz halten, NGOs dorthin lassen, wo Hilfe notwendig ist, Journalistinnen und Journalisten dort arbeiten lassen. Das ist die Europäische Union; das macht die Wertegemeinschaft aus, für die wir alle gemeinsam stehen, wenn wir Demokratinnen und Demokraten sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Claudia Roth:
Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Linda Teuteberg.
(Beifall bei der FDP)