Rede von Luise Amtsberg Situation im Flüchtlingslage Moria
Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Stamp, wenn Sie schon auf die grüne Verantwortung in Österreich referieren, dann müssen Sie, wenn Sie hier im Deutschen Bundestag reden, auch die Presselage verfolgen und zumindest zur Kenntnis geben, dass sich die Grünen ja gerade zur Wehr setzen gegen diese Politik und dass sie mehr Verantwortung fordern. Das sei zumindest an der Stelle gesagt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir alle haben sie gesehen, die Bilder von brennenden Zelten in Moria, die Flammen, den Rauch, die vielen Tausend Menschen, Familien mit Kindern, die nun an den Straßenrändern von Lesbos ohne Obdach darauf vertrauen müssen, dass die Europäische Union handelt, und zwar schnell. Die Bilder entsetzen, sie erschüttern, sie machen traurig, und viele von uns machen sie auch sehr wütend. Denn das, was sich in Moria ereignet hat, ist – man kann es nicht anders sagen – eine Katastrophe mit Ansage.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Es war völlig vorhersehbar; denn man kann Menschen nicht jahrelang solch menschenunwürdigen Bedingungen aussetzen – ohne Perspektive und zuletzt auch noch völlig schutzlos vor dem Virus – und sich dann wundern, dass die Situation eskaliert. Es war nur eine Frage der Zeit, und wir alle hier haben das gewusst.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Dass die Menschen am dritten Tag nach dem Brand noch immer keine Zelte, keine Decken, keine medizinische Versorgung, kein Essen haben, ist einfach unfassbar!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir alle wissen doch, dass bei jeder anderen Katastrophe dieser Art alles mobilisiert worden wäre, um den Menschen sofort zu helfen. Aber hier geht es um Flüchtlinge. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, wird erst mal nach der großen Lösung gesucht, statt einfach das zu tun, was mensch in so einer Situation tun muss: helfen, versorgen und unterbringen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Ulrich Lechte [FDP])
Meine Fraktionsvorsitzende und der Europapolitiker Erik Marquardt sind gerade vor Ort. Was sie berichten, macht mich wirklich fassungslos. Das Bild auf der Insel ist geprägt von geschlossenen Geschäften, griechischem Militär mit Wasserwerfern, von NGOs, die von faschistischen Gruppen an ihrer Arbeit gehindert werden, von Bürgerwehren, die Straßen abriegeln und Menschen behindern, von einer Polizei, die die Arbeit von Hilfsorganisationen nicht ausreichend sichert, aber auch die Betroffenen nicht vor rechtsextremen Übergriffen schützen kann. Keine Koordinierung seitens des griechischen Staates. Es herrscht völliges Chaos. Ich frage mich wirklich, Herr Seehofer: Ist das alles, was wir tun können in dieser Situation? Wir reden hier nicht über Lösungen in fünf Monaten; wir reden über Lösungen jetzt, sofort; denn die Menschen brauchen Hilfe.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Ulrich Lechte [FDP])
Für meine Fraktion steht völlig außer Frage: Es muss jetzt notversorgt werden, und dann muss sofort – natürlich unter Wahrung des Infektionsschutzes – verteilt werden. Es gibt keine Alternative hierzu, wenn man weiteres menschliches Leid verhindern will.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das geht an die Adresse von Union und SPD, aber besonders an Sie, Herr Horst Seehofer; denn Sie sehen anscheinend die Lösung für all das in einem Wiederaufbau des Camps. Deshalb müssen wir heute und jetzt darüber sprechen, wie es überhaupt zu dieser Situation kommen konnte, damit sich die Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholen.
Es hat sich gezeigt, dass das sogenannte Gemeinsame Europäische Asylsystem nichts wirklich Gemeinsames hat. Wie auch? Es ist zutiefst unsolidarisch. Und auch wenn alle EU-Mitgliedstaaten eine Reform dieses Systems wollen, konnten sie sich bisher eigentlich nur auf zwei Dinge einigen: eine Abmachung mit der Türkei und die Schließung der sogenannten Balkanroute. Der kleinste gemeinsame Nenner lautet: Verantwortung auslagern, einige Staaten alleinlassen und wegschauen. Das ist die Wahrheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Mit dieser Politik wurde das Flüchtlingslager auf Lesbos wie auch die anderen Lager auf den griechischen Inseln zu den Orten, die sie heute sind: Freiluftgefängnisse, ausgelegt für 3 000 Menschen, zeitweise belegt mit 20 000 Menschen, Menschen, die vor den Taliban geflohen sind, vor Krieg und Verfolgung in Syrien oder im Irak.
Ich kann nicht anders, als Ihnen Tatenlosigkeit vorzuwerfen; denn auch zuletzt, angesichts der aktuellen deutschen Ratspräsidentschaft, habe ich von Ihnen abseits von Vorprüfungen an den Außengrenzen, die das gegenwärtige System sogar verschlimmern würden, nichts vernommen. Das ist ein Skandal! Meine Fraktion und ich haben ausgearbeitet, wie es anders gehen kann. Wir haben in Reaktion auf das offensichtliche Scheitern des Dublin-Systems Konzepte entwickelt und versucht, hier mit Ihnen zu diskutieren, wie europäische Verantwortungsteilung gelingen kann, und zwar fair und solidarisch mit den EU- Mitgliedsländern im Sinne des Flüchtlingsschutzes. Denn dieser gehört nun einmal zu unserer Europäischen Union, und zwar nicht nur als Gebot unseres eigenen Rechts, sondern als Fundament unserer gemeinsamen Werte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Frank Schwabe [SPD] und Ulrich Lechte [FDP])
Und auch als wir Grüne gemeinsam mit Verbänden, den Kirchen und der Zivilgesellschaft gefordert haben, dass Deutschland wenigstens mit der Aufnahme von besonders Schutzbedürftigen – unbegleiteten Kindern, Schwangeren, schwer Traumatisierten – aus den europäischen Lagern vorangehen muss, haben Sie monatelang blockiert. Wir wollten diese Aufnahme, und zwar nicht als Abkehr von einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik, im Gegenteil: Wir sind überzeugt, dass Deutschland vorangehen muss, damit andere mitziehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wie sonst – und diese Frage müssen Sie beantworten – will man einen Weg heraus aus dieser Blockade, die seit fünf Jahren andauert, finden? Wir warten seit fünf Jahren auf diese gemeinsame Lösung.
Liebe Bundesregierung, Sie haben diese Initiativen und diese Debatten immer wieder runtergedrückt, sich immer mit Verweis auf die Tatenlosigkeit anderer EU-Staaten zurückgezogen, haben sich über Jahre mit dem Umstand zufriedengegeben, dass weniger Menschen in Deutschland ankommen, während die Lage für all jene in den Hotspots immer hoffnungsloser wurde. Die bisherigen Trippelschritte der Bundesregierung zur humanitären Aufnahme aus den Hotspots waren auch schon vor dem Brand in Moria völlig ungenügend, und das allen Signalen aus den Bundesländern und Kommunen zum Trotz, die sich zum Beispiel in der Seebrücke engagieren und lautstark fordern: Wir haben Platz! Wir wollen und wir können Menschen aufnehmen. – Deshalb erwarte ich von Ihnen, Herr Innenminister, dass Sie den Ländern und Kommunen zugestehen, aufzunehmen, und das nicht weiter blockieren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
und dass Sie angesichts der jetzigen Katastrophe unbürokratisch und schnell handeln; denn wir haben wirklich schon viel zu viel Zeit verloren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thorsten Frei das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)