Rede von Katrin Göring-Eckardt Situation nach dem Brand in Moria

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18.09.2020

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Präsidentin! Als ich vergangene Woche auf dem Trümmerfeld von Moria stand, blickte ich nicht nur auf verkohlte Zeltreste, verkohltes Spielzeug und Küchenutensilien, sondern ich blickte auf die Trümmer der europäischen Flüchtlingspolitik; so klar, so eindeutig muss man das sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ist das Europa? Diese Frage stellen Joko und Klaas zu Beginn ihres wirklich schwer auszuhaltenden Videos „A Short Story Of Moria“.

(Zurufe von der AfD)

Das Video zeigt, wie die griechische Küstenwache Schlauchboote ohne Motor und Wasserversorgung aufs Meer zurückdrängt. Es zeigt Kinder unter Tränengasbeschuss auf der Insel, und es zeigt, wie sie vor den Flammen flüchten. Es zeigt die Realität, es zeigt das, was ich auch sah und hörte, es zeigt, was ich nicht akzeptieren werde, und zwar aus moralischen Gründen – ja –, aber vor allen Dingen aus politischen Gründen, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ist das Europa? Ich sah Kinder, Babys, Jugendliche und ihre vollkommen erschöpften Eltern, die nach dem Brand obdachlos und ohne ausreichend Wasser, Nahrung, medizinische Versorgung auf der Straße lebten. Ich finde, dieses Leid ist beschämend für die europäische Gemeinschaft, der Menschenrechte so wichtig sind – uns sind die Menschenrechte wichtig –, und Sabi, ein Flüchtling aus Afghanistan, sprach gestern via Sprachnachricht im Europaparlament: Wir als Flüchtlinge haben gedacht, dass Menschenrechte in Europa respektiert werden. – Ja, das denken wir doch alle, meine Damen und Herren! Und genau darum geht es.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wo bitte ist das freundliche Gesicht, von dem Angela Merkel einst sprach? Wo sind Humanität und Ordnung, von denen Herr Seehofer immer spricht? Ich sehe gerade nur Chaos und Leid, meine Damen und Herren. Und genau das ist das Problem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Menschen von Moria brauchen sofortige Hilfe, und ja, sie müssen evakuiert werden in die europäischen Länder, die dazu bereit sind, nicht nur nach Deutschland.

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung vom Kollegen Wendt?

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Bitte schön.

Marian Wendt (CDU/CSU):

Vielen Dank für die Zulassung der Zwischenfrage. – Es klingt so, als ob sich Europa abschottet, nichts macht und als ob das ganze Leid, das dort passiert ist, uns überhaupt nicht interessiert.

(Michel Brandt [DIE LINKE]: Sie organisieren das Leid! – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es soll kein zweites Moria geben!)

Aber wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass allein innerhalb der letzten Woche drei Lkw-Hilfskonvois des Technischen Hilfswerks mit 450 Zelten, 15 000 Schlafsäcken, 2 000 Matten, 2 500 Decken usw. usf. dorthin fuhren? Wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass das DRK mit vielen ehrenamtlichen Helfern genauso wie das THW dort Hilfe vor Ort leistet, um die Bedingungen menschenwürdig zu gestalten?

Finden Sie nicht, dass dieser Vorwurf, dass wir nichts tun, diese ehrenamtlichen Helfer ins Mark trifft? Und wäre es nicht zumindest ein Anerkenntnis wert, dass wir einen Ausgleich zur Humanität finden, indem wir Hilfe vor Ort leisten und von den Asylberechtigten, die Schutz brauchen, den ersten 408 Familien ihn hier in Deutschland gewähren? Wäre das nicht mal der Ehrlichkeit halber ein Wort in Ihrer Rede wert?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Franziska Gminder [AfD])

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Frau Kollegin.

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ganz herzlichen Dank für die Frage. Meine Rede war ja noch nicht zu Ende. Aber dann kann ich das jetzt schon sagen.

Ja, ich bin sehr, sehr froh, dass sehr viele Menschen ehrenamtlich helfen, und zwar Menschen, die Einheimische auf Lesbos sind, Menschen aus Griechenland, Menschen aus ganz Europa und auch aus Deutschland. Die Hilfsorganisationen, die Sie genannt haben, sind gerade in dieser Situation so zentral.

Übrigens muss man aber auch sagen, dass viele der internationalen Hilfsorganisationen am Anfang dieses Jahres gesagt haben: Wir müssen uns dort zurückziehen, weil wir die Zustände – Zustände, die damals, vor dem Brand, in Moria geherrscht haben – nicht mehr akzeptieren können. Das ist die Aussage der Hilfsorganisationen über das alte Lager.

Jetzt geht es um das neue Lager, und dieses neue Lager ist auch mitnichten eins, was so aussieht, wie wir beide wahrscheinlich es als normal und sinnvoll ansehen würden. Dort sind nämlich große Zelte aufgebaut. Unter Covid-Bedingungen sind die Leute sehr nah beieinander. Das geht gar nicht anders, weil sie, wenn sie sich zum Essen anstellen müssen, keinen Platz haben. Da ist Schotterboden, auf dem geschlafen werden muss. Ich bin froh über jedes Zelt, was da ist, froh über jede Essensversorgung, froh über jeden einzelnen Ehrenamtlichen, der sich dieser Situation aussetzt.

Es heißt aber für mich trotzdem: Europäische Flüchtlingspolitik muss doch auf rechtsstaatlichen Grundsätzen beruhen. Wir brauchen dringend einen Neuanfang. Wenn wir heute darüber reden, dann können wir auf der einen Seite darüber sprechen, wer wen aufnimmt, und auf der anderen Seite, wie wir wirklich menschenwürdige Bedingungen dort schaffen, wo sie jetzt so dringend gebraucht werden. Jeder, der dabei hilft, dem sage ich von Herzen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen will ich auch gerne auf die Aufnahmebereitschaft zurückkommen. Natürlich sind wir froh über die 1 500, die jetzt aufgenommen werden, über jeden einzelnen. Aber darüber hinaus erleben wir doch, dass Horst Seehofer hier sagt, es ginge nicht, dass Kommunen und die Länder Aufnahmebereitschaft erklärten, man könne so ein globales Problem nicht kommunal lösen. Auf Lesbos wohnen 85 000 Menschen, und da sind jetzt im Moment knapp 13 000 Geflüchtete. Das ist quasi eine Kommune, auf die wir all das im Moment abladen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen sage ich: Das geht nicht. Und deswegen sage ich: Wir brauchen diese gemeinsame europäische Lösung, und die muss damit beginnen, dass wir dort, wo die Menschen ankommen, registrieren, dass Gesundheitschecks gemacht werden und dass die Menschen, die dort ankommen, dann auch europäisch verteilt werden, und zwar in einer Koalition der Willigen; denn diese Willigen gibt es.

(Widerspruch bei der AfD)

Diese Verteilung muss so stattfinden, dass dann in den einzelnen Ländern unter rechtsstaatlichen Kriterien die Asylverfahren stattfinden –

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Kommen Sie bitte zum Ende.

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

– und dass es schnelle Asylverfahren sind.

Keine neuen geschlossenen Lager! Das halten weder die Geflüchteten aus noch die Einheimischen dort auf der Insel.

Vielleicht noch eines ganz zum Schluss:

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Kommen Sie bitte zum Schluss!

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Das sind keine Bilder. Das sind Menschen. Es sind Menschen und ihr Schicksal mitten in Europa, auf das wir eigentlich stolz sind und seit 30 Jahren noch stolzer, seit der Eiserne Vorhang weg ist. Deswegen sage ich: Übernehmen wir gemeinsam Verantwortung und #LeaveNoOneBehind.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Vielen Dank, Katrin Göring-Eckardt. – Es wurde vorhin angesprochen – ich glaube, von Ulla Jelpke –, dass das Innenministerium nicht da ist. Ich will sagen, dass Herr Seehofer für diese Debatte entschuldigt ist.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Er wird vertreten! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Vom Staatssekretär!)

– Aber Herr Seehofer ist nicht da. Und Herr Seehofer hat sich entschuldigt, und das ist korrekt. Das wollte ich sagen.

Nächster Redner: Michael Kuffer.

(Beifall bei der CDU/CSU)