Rede von Nina Stahr Startchancen-Programm

Nina Stahr
16.03.2023

Nina Stahr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Herr Staatssekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Zu viele Kinder, die am Ende der Grundschule kaum lesen, rechnen, schreiben können, zu viele, die die Schule ohne Abschluss verlassen, auf der einen Seite und zu wenig Lehrkräfte auf der anderen Seite. Sie alle kennen diese Zahlen; ich muss sie hier nicht rezitieren. Aber die Bildungsforschung liefert uns nicht nur Zahlen. Die Bildungsforschung liefert uns auch einen Lösungsansatz, und zwar gezielt dort zu unterstützen, wo Unterstützung am notwendigsten ist. Mit dem Startchancen-Programm werden wir genau das tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ja, auch wir hätten uns einen früheren Start dieses Programms gewünscht. Aber, liebe Union, was Sie hier machen, ist einfach unseriös. Sie fordern einen Start noch in diesem Jahr, wohl wissend, dass der Haushalt für 2023 schon im letzten Jahr verabschiedet worden ist. Da sind doch selbst Sie schlau genug, um zu wissen: Das ist einfach nur eine Nebelkerze.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Herr Lindner hat doch eine Bildungsmilliarde angekündigt!)

Wissen Sie was? Sie hätten ja im Haushaltsverfahren einen Änderungsantrag stellen können. Haben Sie aber nicht, lieber Herr Jarzombek. So viel zum Thema „Stunde der Wahrheit“. Das, was Sie hier machen, ist einfach nur ein Schaufensterantrag.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Es lag ja kein Konzept vor!)

Dem haben Sie heute Morgen noch die Krone aufgesetzt. Herr Merz hat sich hier im Plenum endlich mal zum Thema Bildung geäußert, aber das Einzige, was er dazu sagte, war, den Bildungsgipfel zu kritisieren,

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Zu Recht!)

während es doch die Kultusminister der Unionsländer waren, die nicht gekommen sind und den Gipfel boykottiert haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Das, liebe Union, ist nicht nur populistisch; das ist Arbeitsverweigerung.

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Liebe Frau Stahr, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen?

Nina Stahr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein, Herr Jarzombek, jetzt echt nicht. – Dieser Antrag, liebe Union, ist auch Arbeitsverweigerung. Ich nehme im Bildungsausschuss immer wieder wahr, dass Sie sich inzwischen bei Oppositionsanträgen relativ häufig mit den Linken einig sind. Deren Anträge finde ich zwar manchmal inhaltlich nicht so ganz richtig; aber die haben doch wenigstens Substanz.

(Heidi Reichinnek [DIE LINKE]: Endlich sagt es mal einer!)

Da müssen wir als Regierungsfraktion manchmal wenigstens nachdenken und argumentieren, warum wir dagegen sind. Aber bei so einem ambitionslos hingeschluderten Einseiter, liebe Union, gehen Sie doch bitte mal links rüber und lassen sich ein bisschen Nachhilfe geben, damit wir hier wenigstens eine ernsthafte Debatte führen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN – Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Das Papier ist ein Witz!)

Ich versuche jetzt trotz allem, eine ernsthafte Debatte zu führen, und komme zurück zur evidenzbasierten Bildungspolitik. Alle Expertinnen und Experten sagen uns, dass wir Ungleiches ungleich behandeln müssen, wenn wir zu mehr Bildungsgerechtigkeit kommen wollen.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: So weit, so gut!)

Wir müssen also weg von der Gießkanne, wir müssen die Ressourcen dorthin stecken, wo sie gebraucht werden, und deshalb müssen wir weg vom Königsteiner Schlüssel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Dr. Götz Frömming [AfD]: Es ist aber überall Bedarf inzwischen!)

Wie genau ein Sozialindex ausgestaltet ist, können wir diskutieren. Aber wichtig ist, dass wir beim Startchancen-Programm nicht wieder mit der Gießkanne herumrennen. Nein, das Geld muss da ankommen, wo es am nötigsten gebraucht wird. Und da, liebe Union, sprechen Sie doch bitte mal mit Markus Söder in Bayern oder mit Michael Kretschmer in Sachsen. Genau die beiden sind es doch, die den Königsteiner Schlüssel unbedingt beibehalten wollen und einen Aufbruch in eine evidenzbasierte Mittelverteilung behindern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Und ja, ich glaube sogar, dass es auch in Bayern sanierungsbedürftige Schultoiletten gibt. Aber ganz ehrlich: Markus Söder braucht für neue Schulklos doch nicht den Bund. Ich glaube, das schafft er schon ganz alleine.

Damit komme ich zur Ausgestaltung dieses Startchancen-Programms. Ja, Schulsanierung ist wichtig. Aber viel wichtiger sind die anderen beiden Säulen dieses Programms.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Sozialarbeiter!)

Gerade jetzt, nach der Hochphase der Pandemie, in der Kinder und Jugendliche so stark gelitten haben,

(Martin Reichardt [AfD]: Durch Ihre Politik stark gelitten!)

so sehr zurückstecken mussten, müssen wir doch genau in diese Bereiche Geld hineinstecken: in die Chancenbudgets und in die Schulsozialarbeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ria Schröder [FDP])

Mit den Chancenbudgets werden wir Schulen Mittel zur freien Verfügung stellen. Sportangebote, MINT-Projekte, gezielt zusätzliches Personal – die Schulen wissen doch selbst am besten, was sie vor Ort brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Darüber hinaus werden wir 4 000 Schulen mit zusätzlichen Stellen für Schulsozialarbeit ausstatten. Als Lehrerin, die früher an einer sogenannten Brennpunktschule gearbeitet hat, weiß ich: Hier brauchen wir jede zusätzliche Fachkraft, damit Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter/-innen Hand in Hand arbeiten können zum Wohl der Schüler/-innen, die die Unterstützung am nötigsten brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Götz Frömming [AfD]: Es brennt überall inzwischen! Nicht nur an Brennpunktschulen!)

Lassen Sie mich aber auch klar sagen: Das Startchancen-Programm allein wird es nicht richten können. Es ist ein wichtiger Baustein, aber es wird allein nicht reichen. Wir müssen grundsätzlich ran an unser Bildungssystem: Lehrpläne entschlacken, Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte verbessern, um individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen endlich wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ria Schröder [FDP])

Und wir brauchen auch eine Debatte über Reformen in der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Deswegen ist es so wichtig, dass jetzt, direkt nach dem Bildungsgipfel, die Arbeitsgruppe zwischen Bund, Ländern und Kommunen schnell eingesetzt wird. In den nächsten Wochen kommt es darauf an, dass sich alle Akteurinnen und Akteure auf eine sinnvolle Ausgestaltung des Startchancen-Programms einigen und sich auch die Union zu einer sinnvollen und evidenzbasierten Mittelverteilung bekennt.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Zu einer Kurzintervention erteile ich Thomas Jarzombek, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Nina Stahr [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darauf habe ich gewartet!)