Rede von Renate Künast Suizidhilfe

Renate Künast MdB
06.07.2023

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum eine Neuregelung? – Das fragen wir uns, denke ich, alle. Ich habe das Gefühl, wir haben seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, auch Jahre vorher schon, insbesondere aber seit dem letzten Sommer, fast alle um eine Position gerungen. Es gab viele Orte und Gelegenheiten, wo wir diskutieren konnten. Wir haben um die Fragen gerungen: Was dürfen wir eigentlich entscheiden? Oder was müssen wir entscheiden?

Für mich ist der allerwichtigste Punkt: Es braucht eine Neuregelung. Warum? Weil Sterbehilfe stattfindet. Sie findet statt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Aber wir haben keinen zumutbaren und gangbaren Weg geregelt, meine Damen und Herren, einen Weg, der tatsächlich nicht so hohe Hürden mit sich bringt, als dass er nicht genommen wird. Und deshalb habe ich – ich will auf Herrn Castellucci Bezug nehmen –, haben wir als Gruppe ein anderes Verständnis. Wissen Sie, der freiverantwortliche Suizid und das Recht, Dritte dabei um Hilfe zu bitten, ist Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)

ist Ausübung eines Grundrechtes. Ich weiß, dass es uns schwerfällt, wenn man für sich selber, für seine Angehörigen eine andere Vorstellung hat, trotzdem zu sagen: Diese letzte Entscheidung trifft jede und jeder für sich selbst. – Und die Menschen treffen diese übrigens auch, unabhängig davon, ob wir hier heute eine Entscheidung treffen oder nicht. Sie treffen sie im Zweifelsfalle auch so, dass sie sagen: Wenn die Beratung zu kompliziert ist, gehe ich gar nicht erst hin, meine Damen und Herren. – Und wenn das dabei herauskommt, dann hätten wir unseren Job heute nicht gut gemacht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Wir haben uns entschieden, nicht den Strafrechtsweg zu gehen, und ich sage Ihnen auch, warum: Wenn es ein Grundrecht ist, selber über das Ende des Lebens zu entscheiden und sich dabei einer Hilfe zu bedienen, können wir in das Strafgesetzbuch nicht eine Regelung aufnehmen, die besagt: Die Hilfe zu einem selbstbestimmten, freiverantwortlichen Suizid ist grundsätzlich strafbar, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Deshalb heißt es „Hilfe“ und nicht „Beihilfe“; denn Beihilfe ist strafbar. Das ist etwas anderes.

Und dann – das muss ich auch sagen – bedienen Sie sich einer schlechten juristischen Formulierung; das hat Ihnen ja auch einer der Sachverständigen gesagt. Sie haben an dieser Stelle eine Konstruktion gewählt, meine Damen und Herren, bei der der Tatbestand erst mal erfüllt ist und man dann gucken muss, ob Rechtfertigungsgründe vorliegen. Das ist juristisch völlig widersinnig geregelt: Wenn die suizidwillige Person es sich später anders überlegt oder nach Ablauf einer Frist die Tat begeht, dann ist der Tatbestand erfüllt. Und gegen alle Personen, die geholfen haben, wird ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil der Staatsanwalt handeln muss. Ich finde, das ist aus zwei Gründen juristisch widersinnig: Erstens können Sie ein Grundrecht nicht unter Strafe stellen. Und zweitens haben Sie diese Regelung noch so geschrieben, dass Sie damit zwingend die Justiz beschäftigen. Damit helfen Sie weder den Betroffenen, die ein entsprechendes Ansinnen haben, noch den Ärztinnen und Ärzten.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Vor Jahren haben wir hier viel über Druck geredet: dass Menschen frei sein sollen, nicht unter Druck gesetzt werden sollen. Es geht ja nicht nur um die Frage einer psychischen Erkrankung, einer affektiven Störung. Es geht auch um die Frage, ob andere sie unter Druck setzen, meine Damen und Herren. Aber hier haben Sie jetzt eine Konstruktion vorgelegt, wo Betroffene Angst haben, dass jemand, den sie um Hilfe bitten, sich strafbar macht und einem Ermittlungsverfahren ausgesetzt wird. Da haben Sie mit Zitronen gehandelt. Das löst das Problem nicht, das Sie vorgeben zu lösen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

In der Diskussion sagen ja viele und zu Recht: Das Leben ist wertvoll. – Wir haben in unseren Gesetzentwurf reingeschrieben, dass jedes Leben wertvoll ist und dass das auch Beratungsgrundlage ist, meine Damen und Herren. Aber der Staat hat nicht nur die Aufgabe, Leben zu schützen. Dieser Schutz hat auch eine Grenze; denn es ist ein Grundrecht, selber gehen zu können, meine Damen und Herren. Selbstschädigung ist nicht strafbar. Deshalb muss man auch bei jeder Behandlung unterschreiben, dass man behandelt werden darf. Deshalb darf ein Mensch, selbst wenn die Ärztinnen und Ärzte sagen: „Du hättest noch Chancen“, auch sagen: Nein, ich will es nicht. – und dann sind die Geräte abzuschalten, dann darf nicht behandelt werden, weil das dann strafbar wäre, meine Damen und Herren.

Genau den Bereich zwischen einer Schutzvorschrift und gleichzeitig selbstbestimmtem und freiverantwortlichem Handeln müssen wir austarieren, meine Damen und Herren. Und für uns sage ich ganz klar: Wir sagen nicht, dass der Suizid ein Normalfall ist. Wir haben die Aufgabe, Leben zu schützen. Aber wir haben als Abgeordnete auch die Aufgabe, zwischen den Fragen „Was würden wir selber, was würden wir unseren Angehörigen wünschen?“ und „Was darf der Betreffende entscheiden?“ zu trennen. Und es ist ja kein Normalfall, wenn ich zwei Termine wahrnehmen muss.

Und auch noch ein Hinweis zu denjenigen, die die Beratung durchführen, meine Damen und Herren. In meinem ersten Beruf bin ich Sozialarbeiterin mit dem Schwerpunkt Psychiatrie/Strafvollzug gewesen. Ich hatte viel mit Suizid, viel mit Menschen mit psychischen Belastungen und Erkrankungen zu tun. Sorry, aber auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Psychologinnen und Psychologen, die in solchen Bereichen arbeiten, können feststellen, ob jemand eine Störung hat, nicht freiverantwortlich handelt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Ich bitte Sie an dieser Stelle um eines: Sagen Sie Nein dazu, wieder einen gefährlichen Weg zu gehen, der uns nach Karlsruhe bringen kann, meine Damen und Herren. Schaffen Sie mit uns eine Regelung, die die Menschen am Ende tatsächlich nutzen wollen. Wir müssen eine breite Tür für Beratung haben; denn das ermöglicht Selbstbestimmung, aber auch Lebensschutz. Nur das ist der Weg, bei dem wir niemanden alleine lassen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Präsidentin Bärbel Bas:

Nächster Redner: Ansgar Heveling für die Gruppe „Dr. Castellucci und andere“.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)