Rede von Corinna Rüffer Teilhabe

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11.03.2020

Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Jetzt sage ich auch mal: Hochverehrte Frau Präsidentin! Und: Liebe Demokratinnen und Demokraten hier im Raum! Dieses Parlament ist unter anderem dafür da, die UN-Behindertenrechtskonvention in diesem Land voranzutreiben, umzusetzen. Und das Bundesteilhabegesetz, über das wir heute reden, sollte ein Beitrag zur Umsetzung sein. Aber ich sage Ihnen – das wird Sie nicht verwundern –: Es war eben nicht genug.

Ich bekomme ständig Mails von Werkstattmitarbeiterinnen und Werkstattmitarbeitern, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten wollen und dabei nicht unterstützt werden.

(Kerstin Tack [SPD]: Die würden wir gerne bekommen! Können Sie die weiterleiten?)

Noch immer berichten Menschen davon, wie sie – Frau Tack, das wissen Sie auch – um jedes bisschen Unterstützung kämpfen müssen.

Die Klagen und Beschwerden über die Bürokratie in diesem Bereich nehmen schier kein Ende. Jeder, der in dem Bereich tätig ist, weiß das auch. Und jeder weiß auch, dass das Bundesteilhabegesetz diese Probleme eben nicht löst. Es pflastert und flickt, es macht hier und da etwas, aber es löst diese Probleme nicht, und es stellt immer noch nicht den Menschen mit seinem Recht auf Selbstbestimmung in den Mittelpunkt der Politik, die wir betreiben müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Und Sie wissen: Ich bin nicht alleine mit dieser Kritik. Schon als die ersten Informationen über dieses Gesetz bekannt geworden sind, standen alle Seiten auf den Barrikaden: auf der einen Seite die Kommunen und Länder, die gesagt haben: „Das wird alles zu teuer“, auf der anderen Seite die Menschen, die von diesem Gesetz betroffen sind und vom ersten Moment an davor gewarnt haben, dass das Gesetz nicht weit genug geht, und die vor solchen Sachen wie beispielsweise der „5 aus 9“-Regelung gewarnt haben. Sie waren es auch, die das abgeräumt haben, die es verhindert haben. Das ist nicht selbsttätig hier im Parlament entstanden.

(Kerstin Tack [SPD]: Natürlich! Wir sind doch der Gesetzgeber! Wir haben das gemacht!)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollegin Rüffer, ich habe die Uhr angehalten. – Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?

Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, gerne.

(Jens Beeck [FDP]: Sauerei! Die hätte ich auch gern gehabt!)

– Kannst du nächstes Mal anfordern.

Dr. Martin Rosemann (SPD):

Frau Rüffer, ich schätze ja wirklich Ihr Engagement. Aber wenn Sie hier das Thema „Zugang von Menschen aus Werkstätten zum ersten Arbeitsmarkt“ ansprechen, dann frage ich Sie vor dem Hintergrund, dass wir das Budget für Arbeit eingeführt haben: Warum nutzt denn in Baden-Württemberg – ich komme aus Baden-Württemberg;

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Aus Württemberg!)

Sie wissen das wahrscheinlich; man hört es auch – der grüne Sozialminister nicht die Chance, über die bundesweiten Standards hinauszugehen und im Umsetzungsgesetz für Baden-Württemberg ein richtig gutes, innovatives Budget für Arbeit zu schaffen? Warum macht denn das Ihr grüner Sozialminister in Baden-Württemberg nicht? Warum nutzt er die Chancen des Bundesteilhabegesetzes nicht?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich frage Sie weiter, Frau Rüffer. Sie sagen, wir würden keine Individualisierung von Leistungen einführen. Genau das ist zum 1. Januar 2020 in Kraft getreten: dass das Geld den Menschen folgt, dass die Teilhabeleistungen individuell bestimmt werden. Ich frage Sie: Warum funktioniert genau das in Baden-Württemberg nicht?

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind doch nicht im Landtag!)

Warum gibt es in Baden-Württemberg ein Umsetzungsgesetz mit einer Übergangsregelung bis Ende 2021, wodurch quasi der jetzige Leistungstatbestand fortgeschrieben wird und weswegen sich die Leute fragen, warum es zu keiner Leistungsverbesserung, sondern zu einer Verkomplizierung kommt. Das liegt nicht in der Verantwortung des Bundes, sondern in der Verantwortung des grünen Sozialministers Manne Lucha in Baden-Württemberg.

(Beifall des Abg. Axel Müller [CDU/CSU])

Warum wird in Baden-Württemberg das Gesetz nicht so umgesetzt, wie wir es als Bundesgesetzgeber gewollt haben?

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Grünen hätten es doch in der Hand. Warum passiert das nicht?

(Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es heißt „Bundesteilhabegesetz“!)

– Ja, Sie von den Grünen schreien. Sie wissen auch, dass wir Föderalismus haben und dass wir eine gemeinsame Verantwortung bei der Umsetzung haben. Warum funktioniert es gerade dort, wo die Grünen die Verantwortung haben, in Baden-Württemberg, nicht?

Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Der hat ja mehr Redezeit als ich.

Vizepräsidentin Petra Pau:

Herr Kollege, ich glaube, die Frage ist verstanden.

Dr. Martin Rosemann (SPD):

Warum braucht Baden-Württemberg bis eine Woche vor Weihnachten, um mit Kommunen die Finanzierungsvereinbarung hinzukriegen? Und warum hat es Baden-Württemberg bis heute nicht geschafft – –

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jetzt ist aber gut!)

– Ja, Sie wollen es nicht hören – das ist ja klar –, weil Sie die Verantwortung dafür tragen.

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Warum hat es Baden-Württemberg, Ihr grüner Kollege, bis heute nicht geschafft, eine Rahmenvereinbarung, einen neuen Rahmenvertrag abzuschließen?

Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Jetzt bin ich dran. – Sehr verehrter Herr Rosemann, ich glaube, Sie haben ein Baden-Württemberg-Trauma, aber das werden wir in dieser Debatte nicht lösen können.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Ich antworte Ihnen als, soweit ich weiß, einzige Abgeordnete im diesem Haus – das gilt auch für Bundesbehörden; dort wird das Gesetz in diesem Punkt bisher kaum angewendet –, die einen Menschen im Rahmen des Budgets für Arbeit beschäftigt.

Ich komme nicht aus Baden-Württemberg, sondern aus Rheinland-Pfalz, wo dieses Budget entstanden ist, vor vielen Jahren.

(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Da regiert die SPD!)

Da hätte man lernen können. Von Rheinland-Pfalz lernen, heißt an dieser Stelle: ein Stück weit siegen lernen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben in Rheinland-Pfalz seit Jahren vernünftige Standards für das Budget für Arbeit.

(Kerstin Tack [SPD]: Zum Glück!)

Wir haben Sie von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Ausstattung des Budgets dazu führt, dass bestimmte Personengruppen keinen Zugang haben bzw. dass die Einstellung von Menschen mit Behinderungen nicht attraktiv ist. Das betrifft vor allen Dingen Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen, die, bevor sie erkrankt sind, ein erfülltes Berufsleben hatten. Für sie reicht eine Orientierung am Mindestlohn überhaupt nicht aus. Nun mussten wir als Land Rheinland-Pfalz mit einer Tradition in diesem Bereich unsere Standards brechen, weil Sie so ein schlechtes Gesetz auf Bundesebene gemacht haben; immerhin haben Sie noch einen Zugang gelassen, den alten Standard weiterverfolgen zu können.

(Kerstin Tack [SPD]: Oijoijoi!)

Warum haben Sie nicht aus den Erfahrungen über mindestens ein Jahrzehnt rund um das Budget für Arbeit gelernt? Warum haben Sie das Gesetz nicht so ausgestattet, dass wir über solche Fragen heute überhaupt nicht mehr diskutieren müssen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte Ihnen bezogen auf Baden-Württemberg noch etwas sagen: Die Vorgängerregierungen haben ein Erbe hinterlassen, mit dem die jetzige Regierung umgehen muss. Baden-Württemberg ist das Land – ich glaube, deswegen hat Jens Beeck über die besonderen Probleme bei der Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen gesprochen – mit den größten Komplexeinrichtungen in der gesamten Republik. Das ist ein Riesenproblem, und das strukturell aufzuarbeiten, muss für uns alle ein Thema sein.

(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Das hättet ihr in den letzten zwei Jahren machen können!)

Das ist auch ein Thema für den Minister in Baden-Württemberg, da bin ich mir ganz sicher.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nun liegt ein Forschungsbericht vor, der in bestimmten Fragen Klarheit schaffen sollte. Zumindest in einem Bereich gibt es Klarheit, nämlich bei der Frage der Anrechnung von Einkommen und Vermögen; das ist an anderer Stelle schon angesprochen worden. Das Bundesteilhabegesetz ermöglicht zumindest, dass die Menschen nicht mehr nur 3 600 Euro, sondern 57 000 Euro Vermögen besitzen dürfen. Für uns andere Menschen in diesem Land ist es natürlich unvorstellbar, dass einem ab dieser Summe das Geld abgenommen wird.

In dem Bericht wird festgestellt, dass es kaum Menschen gibt, die eine Behinderung haben und gleichzeitig so viel Vermögen besitzen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass der ganze Verwaltungsaufwand, den wir betreiben, total irrsinnig ist. Jetzt ist der Zeitpunkt, die Regelung so zu gestalten, dass die Menschen nicht mehr ans eigene Vermögen ran müssen. Das betrifft nicht viele, aber es ist symbolisch total wichtig. Warum ist das symbolisch wichtig? Weil die gesamte Gesellschaft dafür verantwortlich ist, dass Menschen mit Behinderungen genau wie jeder andere teilhaben können. Das darf keine Aufgabe sein, die am Portemonnaie des Einzelnen hängt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Dann können wir uns auch endlich mit den schwierigen Problemen auseinandersetzen, und zwar konzentriert; denn wir alle wissen, wie schwer es die Betroffenen haben, an Leistungen zu kommen.

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollegin Rüffer, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr verehrte Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Dann können wir uns in der Tat mit den wahren Problemen von Menschen mit Behinderungen in diesem Land auseinandersetzen und endlich eine inklusive Gesellschaft schaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat die Abgeordnete Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)