Rede von Beate Müller-Gemmeke Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose

11.10.2018

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister; ich sehe Sie gar nicht richtig da hinten! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Wir Grünen wollen einen inklusiven Arbeitsmarkt, der nicht ausschließt, sondern die Würde der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Dafür brauchen wir einen Per­spektivwechsel von einem ersten, zweiten oder gar dritten Arbeitsmarkt hin zu einem Arbeitsmarkt für alle. Zentrales Ziel ist dabei die soziale Teilhabe von langzeitarbeitslosen Menschen. Wir Grüne streiten schon lange für einen sozialen Arbeitsmarkt; denn alle Menschen brauchen Chancen und Perspektiven.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir begrüßen, dass heute das Teilhabechancengesetz eingebracht wird. Aber: Die Idee vom sozialen Arbeitsmarkt funktioniert nur, wenn die Bedingungen tatsächlich stimmen. Aber genau das ist bei diesem Gesetz nicht der Fall. Das treibt uns wirklich um; denn der soziale Arbeitsmarkt darf nicht scheitern, nur weil das Gesetz schlecht ist und die Rahmenbedingungen nicht passen. Deshalb müssen Sie unbedingt nachbessern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Fünf Punkte möchte ich ansprechen.

Erstens. Von dem Instrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ sollen nur die Menschen profitieren, die bereits sieben Jahre im Leistungsbezug sind. Warum ist es eigentlich so eng und so starr? Die Menschen sind doch unterschiedlich; sie haben unterschiedliche Voraussetzungen und Lebenslagen. Deshalb sind die einen früher und die anderen später auf einen sozialen Arbeitsmarkt angewiesen.

Und wie kommen Sie eigentlich auf sieben Jahre? Es macht doch keinen Sinn, einen 55-jährigen Mann, der bereits vier Jahre arbeitslos ist, der keinerlei Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat, nochmals drei Jahre warten zu lassen. Er braucht doch jetzt soziale Teilhabe, Chancen und Perspektiven.

(Kai Whittaker [CDU/CSU]: 16e!)

Das wird einem sozialen Arbeitsmarkt in keiner Weise gerecht. Sieben Jahre sind einfach zu lang.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Zweitens. Den Lohnkostenzuschuss gibt es nur in Höhe des Mindestlohns. Das bedeutet, dass tariftreue Betriebe die Differenz zwischen Tariflohn und Mindestlohn selber finanzieren müssen. Herr Gröhe, das ist die Förderlücke, die Sie angesprochen haben. Aber die Betriebe, die nicht tariflich bezahlen, die schlechter bezahlen, bekommen den Arbeitsplatz zu 100 Prozent gefördert. Die haben keine Förderlücke. Das ist doch absurd.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Unabhängig davon: Die Privatwirtschaft, die Kommunen und die Beschäftigungsträger sollen sich doch am sozialen Arbeitsmarkt beteiligen und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Wenn aber tarifgebundene Betriebe und Kommunen bei der Förderung benachteiligt werden, dann passiert doch genau das Gegenteil: Dann wird es eben die notwendige Zahl an Arbeitsplätzen nicht geben. Mit dieser Regelung ist das Scheitern vorprogrammiert. Und deshalb muss sich der Zuschuss an den tatsächlichen Löhnen orientieren, also auch am Tariflohn. Hier unterstützen wir Sie, Herr Minister, aus vollem Herzen; denn das ist die zentrale Voraussetzung, damit der soziale Arbeitsmarkt tatsächlich gelingen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Drittens. Der Zuschuss wird dann auch noch Schritt für Schritt auf 70 Prozent abgesenkt. Auch hier blenden Sie aus, dass die Menschen unterschiedlich sind: Die einen benötigen nach drei Jahren weniger Förderung, aber die anderen weiterhin mehr. Dieses finanzielle Risiko, das am Anfang einer Beschäftigung ja niemand abschätzen kann, gehen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einfach nicht ein. Das schaffen übrigens auch nicht die Beschäftigungsträger; denn sie erwirtschaften in der Regel entweder nur geringe oder gar keine Gewinne. Auch an dieser Stelle sind Korrekturen notwendig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viertens. Kritik haben wir auch bei der Weiterbildung. Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber können Weiterbildung ermöglichen, sie müssen es aber nicht. Und wenn sie es machen, dann bekommen sie nur 50 Prozent der Kosten erstattet. Das ist zu wenig. Natürlich brauchen Menschen, die lange arbeitslos waren, neue Qualifikationen, damit sich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen. Und deshalb müssen Weiterbildungen in vollem Umfang finanziert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Fünfter Punkt, der ist mir persönlich besonders wichtig. Die Arbeitsplätze werden fünf Jahre gefördert, Langzeitarbeitslose können nur einmal davon profitieren. Diese Regelung ist fatal, und ich frage Sie: Wie geht es für die Menschen weiter, die auch nach fünf Jahren keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben? Wollen Sie diese Menschen dann weiterhin nur alimentieren? Was ist mit den schönen Worten, dass nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit finanziert werden soll? Vor allem zeigt diese Regelung, dass Sie den sozialen Arbeitsmarkt anscheinend einfach nicht verstanden haben. Es geht in erster Linie um soziale Teilhabe;

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

denn Arbeit ist für die Menschen mehr als nur Einkommen: soziale Kontakte, Wertschätzung, Anerkennung. Arbeit bedeutet gesellschaftliche Teilhabe, und dabei geht es auch um die Würde der Menschen. Deshalb muss die geförderte Beschäftigung zu einem dauerhaften Angebot werden; denn wir dürfen niemanden alleine lassen, und wir dürfen auch niemanden aufgeben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Sehr geehrte Regierungsfraktionen, die Idee vom sozialen Arbeitsmarkt ist gut, der Gesetzentwurf ist aber schlecht. Das sagen nicht nur wir Grünen, sondern dass ist auch die Bewertung im Bundesrat, von dort kommen ja viele und vor allem auch gute Anträge. Ich appelliere an Sie: Nehmen Sie das ernst; denn der soziale Arbeitsmarkt darf nicht scheitern. Es gibt nur diese eine Chance. Korrigieren Sie die gesetzlichen Regelungen, und dann werden wir das Gesetz auch aus vollem Herzen unterstützen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)