Rede von Filiz Polat Unterbringung von Geflüchteten

Foto von Filiz Polat MdB
28.04.2023

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Antrag der Union scheint etwas geraderücken zu wollen. Sie beginnen mit einem Bekenntnis zum christlichen Menschenbild, zur Mitmenschlichkeit, zur Nächstenliebe,

(Lamya Kaddor [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lippenbekenntnisse sind das!)

als wenn Sie Zeugnis ablegen wollten – vor der spaltenden Rhetorik, die dann folgt. Uneingeschränkt für das Flüchtlingsrecht einzutreten, heißt, nicht zu trennen. Das Flüchtlingsrecht muss für alle Geflüchteten gleichermaßen gelten, Herr Hoffmann, unabhängig von der Herkunft: hier und an den Außengrenzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das habe ich doch nie anders behauptet! Was für eine böswillige Unterstellung! Wahnsinn!)

Meine Damen und Herren, ich frage die Kolleginnen und Kollegen: Ist es mitmenschlich, Aufnahmeprogramme zu beenden

(Clara Bünger [DIE LINKE]: Ihr habt es doch beendet!)

und damit vor allem den besonders Schutzbedürftigen, bedrohten Journalistinnen und Journalisten, Anwältinnen und Anwälten, Menschenrechtsaktivisten aus Afghanistan den sicheren Zugang zu uns zu verweigern? Nein, das ist nicht mitmenschlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, eine Abschottungsstrategie ist keine Lösung. Sie nimmt lebensbedrohliche Situationen von Menschen billigend in Kauf. Die Diffamierung und Stigmatisierung von Schutzbedürftigen hat nichts mit Humanität zu tun. Das ist unverantwortliche Politik, Politik, die spaltet, wo sie integrieren sollte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Dr. Silke Launert [CDU/CSU]: Sie spalten!)

Diese Koalition setzt sich deshalb für sichere Fluchtrouten und für humanitäre Aufnahmeprogramme ein, von denen vor allem die schutzbedürftigen Gruppen profitieren.

Meine Damen und Herren, wenn der Präsident der Diakonie Sachsen die Forderung nach einem Aufnahmestopp für afghanische Ortskräfte Ihres Parteifreundes und Ministerpräsidenten Kretschmer als unethisch bezeichnet, dann hat er einfach recht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Es geht doch gar nicht um die Ortskräfte! Das Ortskräfteprogramm ist doch zu Ende! Das wissen Sie doch genau!)

Meine Damen und Herren, ist es mitmenschlich, Menschen in sogenannten zentralen AnkER-Zentren teilweise über Jahre zu isolieren?

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Schnellere Verfahren, dann geht es auch schneller!)

Nein, das ist es nicht.

(Peggy Schierenbeck [SPD]: Genau!)

Mit der Rückkehr zu ihrer Forderung nach den gescheiterten AnkER-Zentren greift die Union in die flüchtlingspolitische Mottenkiste.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Sie sind doch nicht gescheitert! Ganz im Gegenteil!)

Und deshalb ist es richtig, dass diese Koalition diesen bayerischen Rohrkrepierer beendet hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, das Ziel Ihrer AnkER-Zentren, Asylverfahren zu beschleunigen und den Betroffenen schneller Gewissheit über den Flüchtlingsschutz zu ermöglichen, wurde eben nicht erreicht.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Aber Ihre Experten empfehlen das doch!)

Im Gegenteil: Für den Großteil der Geflüchteten hat sich die Verweildauer in diesen Großunterkünften deutlich verlängert.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, für die, die nicht anerkannt werden!)

Nur um einmal eine Zahl zu nennen: Im Jahr 2022 lag die Bearbeitungsdauer bis zu einer behördlichen Entscheidung in AnkER-Zentren vor allem in Bayern mit 8,2 Monaten deutlich über dem Durchschnitt aller Einrichtungen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lamya Kaddor [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Komisch! – Sebastian Hartmann [SPD]: Was? Das kann doch wohl nicht wahr sein! – Gegenruf des Abg. Thorsten Frei [CDU/CSU])

Wer die Effizienz und damit notwendigerweise die Qualität der Asylverfahren steigern möchte, sorgt dafür, dass die Menschen vorher gut informiert sind über ihre Rechte. Die kürzlich eingeführte unabhängige Asylverfahrensberatung wird hierzu sicherlich ihren Beitrag leisten, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Von Pro Asyl, oder?)

Wer bei Familienangehörigen oder Freunden unterkommen darf, wird mit diesen furchtbaren, traumatischen Ereignissen und der Trennung von Vätern, Brüdern und Partnerinnen und Partnern leichter fertig, als wenn er in einer zentralen Unterkunft ist. Dies gilt insbesondere für Kinder. Da sollten wir uns doch eigentlich alle einig sein. Deshalb sind wir für die Streichung der Wohnsitzauflage, die genau das verhindert.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das erleichtert dann das Untertauchen!)

Das wird jetzt auch durch das BMI geprüft, auf Vorschlag eines Arbeitsclusters beim Flüchtlingsgipfel. Vielen Dank dafür, Frau Ministerin!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wer einen uneingeschränkten Krankenversicherungsschutz erhält, kann auch eine psychologische Versorgung in Anspruch nehmen. Wer den Zugang zu Integrationssprachkursen von Anfang an bekommt, kann die Sprache schneller erlernen. Wer keinem Arbeitsverbot unterliegt, kann sein Leben selbstbestimmt gestalten und unserer Gesellschaft etwas zurückgeben. Meine Damen und Herren, das ist unsere Antwort, unser Auftrag und unser Anspruch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsidentin Bärbel Bas:

Frau Polat, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung vom Kollegen Hoffmann?

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein. – Mit dem Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt wurde die Notwendigkeit dieser Integrationsoffensive für Geflüchtete zwar hervorgehoben; ein gesamtstaatliches Bekenntnis, das für alle Geflüchteten gleichermaßen gilt, fehlt allerdings bisher. Im Gegenteil: Im Moment wird denjenigen Raum gegeben, die von Begrenzung und Obergrenzen sprechen, von Abschiebung statt von Perspektiven, von Missbrauch statt vom Miteinander. Deshalb bin ich den Integrationsministerinnen und ‑ministern der Länder dankbar, dass sie sowohl beim Flüchtlingsgipfel als auch bei ihrer Fachkonferenz in dieser Woche die Perspektive der Integration und der Chancen in den Mittelpunkt ihrer Beschlüsse gestellt haben.

Die Aufnahme und Versorgung von rund 1 Million Geflüchteten aus der Ukraine zusätzlich zu Schutzsuchenden aus anderen Ländern ist unbestritten eine enorme Herausforderung. Die Kommunen leisten mit Unterstützung des Haupt- und Ehrenamtes hier wirklich eine großartige Arbeit, obwohl sie mit Pandemie und anderen Herausforderungen bereits seit drei Jahren im Krisenmodus arbeiten. Nun gilt es, die Kommunen weiterhin finanziell zu unterstützen. Es bedarf daher auch eines erneuten Signals des Kanzlers vor der anstehenden Ministerpräsidentenkonferenz zur angemessenen finanziellen Unterstützung der Kommunen, mit dem Ziel einer fairen Kostenteilung zwischen dem Bund und den Bundesländern.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Zusagen aus dem letzten Jahr müssen eingelöst werden, so steht es im Übrigen auch im Koalitionsvertrag.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Sie machen die Türen auf, und die Länder sollen bezahlen!)

– Für die Unterbringung sind die Länder zuständig, Herr Kollege Hoffmann.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Das ist genau dieser Zynismus! Den habe ich gerade angesprochen!)

Das bedeutet für uns, das Angebot für Integrationskurse nicht nur weiterhin verlässlich bedarfsgerecht zu finanzieren, Frau Ministerin, sondern wir müssen die Integrationskurse und das Kurssystem auch entbürokratisieren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Stephan Thomae [FDP])

Berufsabschlüsse müssen schneller anerkannt werden. Für den Bürokratieabbau zur Entlastung der Ausländerbehörden, Frau Lindholz, hat im Übrigen der Deutsche Städtetag gute Vorschläge beim Flüchtlingsgipfel eingebracht. Diese werden schon jetzt von der Koalition in die laufenden Gesetzgebungsprozesse eingearbeitet. Das wird in jedem Fall zur Entlastung beitragen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Stephan Thomae [FDP])

Meine Damen und Herren, wir achten die Menschenrechte und nicht zuletzt auch die Verfahrensrechte. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, Abschottung und Abschreckung haben nichts mit den tatsächlichen Herausforderungen bei der Aufnahme, Versorgung und Integration von Schutzsuchenden zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

16 Jahre lang haben Sie das versucht.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Gott sei Dank sind die „16 Jahre“ noch gekommen!)

Das gilt auch für den Ruf nach mehr Abschiebungen. Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, sind aus den verschiedensten Gründen geduldet – wie oft muss ich Ihnen das noch sagen? das ist eine Rechtsänderung, die Sie mit geschaffen haben –, zum Beispiel, weil sie sich in einer Ausbildungsduldung befinden, weil sie von ihren Botschaften schlichtweg keine Pässe erhalten können – beispielsweise Eritrea –, weil es von den Bundesländern einen faktischen Stopp von Abschiebungen gibt, zum Beispiel nach Syrien, nach Afghanistan und in den Iran. Der Großteil dieser Menschen sind im Übrigen Kinder, Jugendliche und Menschen im erwerbsfähigen Alter. Diese Menschen wollen Sie abschieben? Das lehnen wir ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wir brauchen darauf eine politische Antwort, die Chancen bietet und letztendlich für uns alle Perspektiven öffnet. Das Chancen-Aufenthaltsrecht ist dafür das beste Beispiel. Wir haben jetzt bei uns in Niedersachsen, Frau Ministerin, vor allem Anträge zum Chancen-Aufenthaltsrecht von Jesidinnen, die unter Duldung leben. Die wollen wir eben nicht abschieben, so wie die Union es anscheinend tun will.

Meine Damen und Herren, weitere Reformen beim Spurwechsel werden folgen. Die Reform der Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung wird als Nächstes angepackt. Herzlichen Dank dafür, Frau Ministerin!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Viele Geflüchtete wollen arbeiten, sie dürfen es aber nicht. Deshalb werden wir auch die absurden Arbeitsverbote im Aufenthaltsrecht ohne Ausnahmen abschaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Lassen Sie uns gemeinsam den aktuellen Herausforderungen begegnen! Gemeinsam, geschlossen und entschlossen mitmachen bei einer Integrationsoffensive, die nicht nur den Geflüchteten gilt, sondern uns allen, bei einer menschenrechtsorientierten Politik, die das Grundrecht auf Asyl nicht infrage stellt, das ist Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Präsidentin Bärbel Bas:

Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Clara Bünger.

(Beifall bei der LINKEN)