15.03.2018

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tagtäglich erreichen uns die allerschrecklichsten Bilder aus der Region Afrin. Wir sehen das Leid der Menschen, wir sehen Vertreibung, wir sehen Flucht und Tod. Wir müssen dabei zuschauen, wie eine ganze Region eingekesselt wird und wie Erdogan heute erklärt, dass diese Region dauerhaft besetzt bleiben soll. Wir sehen, wie überlebensnotwendige Infrastruktur gezielt zerstört wird, wie zivile Opfer von der türkischen Armee bewusst in Kauf genommen werden. Ich frage deshalb die Bundesregierung: Was muss eigentlich noch geschehen, bis auch Sie die militärische Aggression der Türkei als das anerkennen, was sie ist: völkerrechtswidrig?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

Ja, wir erleben den Angriff eines NATO-Mitglieds ausgerechnet auf jene kurdischen Kräfte, die mit Unterstützung eines anderen NATO-Mitglieds ihr Leben im Kampf gegen Daesh aufs Spiel gesetzt haben. Ich frage deshalb die Bundesregierung erneut: Was muss eigentlich noch geschehen, bis Sie den Angriff auf Afrin auch innerhalb der NATO auf die Tagesordnung setzen, statt wie Jens Stoltenberg laut zu schweigen oder bestenfalls wachsweiche Worte zu finden?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

Oder halten Sie das Vorgehen der Türkei etwa für vereinbar mit dem so häufig beschworenen Wertekanon der NATO? Herr Frei hat das abgelehnt. Ich teile seine Meinung. Ich will es aber endlich von der Bundesregierung wissen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

Das ist kein Vorgehen, das den Kampf gegen Daesh stärkt, sondern eines, das ihn konterkariert, und das muss doch Konsequenzen haben. Wie wollen Sie eigentlich sicherstellen, dass die Beteiligung der Bundeswehr am AWACS-Einsatz nicht dazu beiträgt, dass Luftaufnahmen nordsyrischer Gebiete in die Hände des Aggressors Erdogan fallen? Wir stellen diese Fragen nicht zum ersten Mal. Auf überzeugende Antworten warten wir bislang vergebens.

(Henning Otte [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)

Gewissheit haben wir aber bei etwas ganz anderem: Wir müssen nicht nur einen türkischen Einmarsch in ein ohnehin vom Krieg zerrüttetes Land, das bislang über 350 000 Toten klagt, beobachten, sondern auch einen Angriff mit deutschen Leopard-2-Panzern. Ich frage deshalb die Bundesregierung ein letztes Mal: Was muss eigentlich noch geschehen, bis Sie Ankara endlich eine unmissverständliche Botschaft senden: „keine weiteren Rüstungsexporte, keine Aufrüstung der Leopard-2-Panzer, keine Beteiligung deutscher Rüstungskonsortien in der Türkei“?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Denn auch für NATO-Mitglieder – das sagen unsere Rüstungsexportrichtlinien – gibt es keinen rüstungspolitischen Blankoscheck und keinen menschenrechtspolitischen Rabatt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Wenn ich das sage, dann ist das übrigens nicht anti­türkisch, überhaupt nicht, sondern dann ist das eine wertebasierte, prinzipientreue Außenpolitik, die deutlich macht: Die Türkei ist nicht Erdogan, und Erdogan ist nicht die Türkei.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist eine Politik, die all diejenigen unterstützt, die sich mehr denn je für eine demokratische, für eine rechtsstaatliche, für eine proeuropäische Türkei einsetzen.

(Thomas Seitz [AfD]: Träum weiter!)

Es wäre das Ende eines Kotaus vor Präsident Erdogan, der die Repression im Innern ausweitet, der dort den Konflikt mit den Kurden schürt und diesen Konflikt jetzt auch nach Syrien exportiert und damit weiteres Öl in einen regionalen Flächenbrand gießt. Vor allem wäre es aber das klare Signal: Wir vergessen euch nicht, weder die Menschen im belagerten Afrin noch jene, die der grauenhaften humanitären Katastrophe in Ost-Ghuta ausgesetzt sind,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ost-Ghuta, das auch heute wieder unter russischem und syrischem Beschuss steht. Wir vergessen euch nicht; denn Vergessen tötet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)