Rede von Dr. Anton Hofreiter Zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Wir sind epidemiologisch weiter in einer sehr, sehr fragilen Lage. In der Lombardei, im Elsass, in New York konnte man sehen, welche schrecklichen Auswirkungen diese Pandemie haben kann. Im Vergleich dazu sind wir in Deutschland bisher sehr glimpflich davongekommen. Dafür muss man sich bei all den Menschen bedanken, die sich an die Regeln gehalten haben, bei all den Menschen, die eine wahnsinnig wertvolle Arbeit in den Gesundheitssystemen leisten, allerdings auch bei allen Kassiererinnen und Kassierern, bei all denjenigen, die unser Leben am Laufen halten. Vielen Dank!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Trotz der Tatsache, dass wir bisher so glimpflich davongekommen sind, war und bleibt es einfach richtig, mit Vorsicht und mit Besonnenheit vorzugehen. Ja, eine Debatte ist nötig, und eine Debatte ist möglich. Es bestreitet auch niemand, dass die Debatte geführt wird; aber man muss sich die Argumente anschauen. Warum gibt es eine Begrenzung, zum Beispiel bei den Geschäften? Weil man aus Infektionsschutzgründen nicht will, dass die Innenstädte wieder komplett voll sind mit Menschen, weil dann die Abstände automatisch nicht mehr eingehalten werden können.
(Dr. Marco Buschmann [FDP]: 800 Quadratmeter!)
Das ist die Begründung dafür, dass man nur einen Teil der Geschäfte aufmacht. Diese Begründung sollte Ihnen von der FDP auch zugänglich sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Sie haben doch keine Ahnung! Der großflächige Einzelhandel ist doch draußen! Das ist Unsinn! Das ist kontrafaktisch!)
Wissen Sie, man sollte schlichtweg aufhören, die eigene Freiheit zu verwechseln mit dem Recht des Stärkeren. Das ist nämlich eine vulgäre Form von Freiheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Und wer entscheidet das? Sie? Sie entscheiden, welche Freiheit gut ist und welche schlecht ist? – Christian Lindner [FDP]: Gott sei Dank sieht das Bundesverfassungsgericht das anders!)
Deshalb ist es ganz entscheidend, dass wir intensiv debattieren, aber bei Entscheidungen vorsichtig vorgehen, nicht zu schnell und nicht unüberlegt handeln. Sonst gefährden wir nämlich alles, was wir bis jetzt erreicht haben; sonst laufen wir Gefahr, dass das Gesundheitssystem überfordert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die wirtschaftlichen Kosten sind hoch, die Fließbänder stehen still, die Geschäfte sind geschlossen, Kultureinrichtungen sind zu, soziale Einrichtungen sind zu, Künstlerinnen und Künstler können nicht mehr auftreten, wirtschaftliche Existenzen sind gefährdet, Arbeitsplätze sind bedroht. Aber bei alledem dürfen wir auch keinen Moment vergessen, dass nicht nur die wirtschaftlichen Kosten hoch sind, sondern auch die sozialen Kosten bedrückend sind. Kinder drohen den Anschluss zu verlieren, weil sie nicht mehr in die Schule gehen können, Familien sind am Limit, Menschen drohen in Armut zu landen. Über all das müssen wir debattieren. Deshalb müssen bei vorsichtigen, verantwortungsvollen Schritten in Richtung Öffnung die soziale Frage und die wirtschaftliche Frage auf Augenhöhe behandelt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach allem, was wir wissenschaftlich begründet wissen, werden wir mit diesem Virus leben müssen, bis wir einen wirksamen Impfstoff haben. Deshalb ist in dieser Zeit eine der wichtigsten Fragen: Wie gelingt es uns, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Ausbreitung des Virus zielgerichteter einzudämmen? Dabei geht es – Sie haben das gesagt, Frau Bundeskanzlerin – ums Testen, Testen, Testen, nochmals Testen. Es geht um die Nachverfolgung der Infektionsketten durch die Gesundheitsämter. Es geht darum, eine App zu haben, die dabei hilft. Es geht um ausreichend Schutzausrüstungen, und es geht um Masken. Nichts davon – das muss man ehrlicherweise sagen – ist neu. Das wissen wir seit vielen Wochen. Ich habe aber leider den Eindruck, dass in Ihrer Bundesregierung nicht in allen Ministerien diese Aufgaben mit dem Einsatz, mit der Entschiedenheit und mit der Tatkraft verfolgt werden, wie das angebracht wäre.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Noch vor zwei Wochen hat uns das Wirtschaftsministerium geantwortet, dass die Koordinierung der Wirtschaft in der Pandemie in dem Ministerium keine Priorität hat. Es ist schön, dass Herr Altmaier anscheinend jetzt seine Meinung geändert hat. Aber es ist wertvolle Zeit verstrichen. Und auch bei der App hört man nichts Gutes. Deshalb erwarte ich von Ihnen, dass Sie diese Aufgaben als nationale, als europäische Kraftanstrengung betrachten und dementsprechend handeln.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der letzten Sitzungswoche in großer Gemeinsamkeit einen ganz umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Rettungsschirm aufgespannt. Vieles davon hat sich bewährt, manches korrigieren wir, und manches fehlt noch. Die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes finde ich – das sage ich ausdrücklich – richtig. Aber dass Sie weiterhin ausgerechnet den Ärmsten der Armen eine zumindest temporäre Erhöhung des Arbeitslosengeldes II verweigern, das finde ich, ehrlich gesagt, unverantwortlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])
Dass Sie sich des Weiteren weigern, ein Coronaelterngeld einzuführen, finde ich angesichts des Drucks, unter dem alle Familien und insbesondere die Alleinerziehenden stehen, unverantwortlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wissen Sie, wenn wir als Grüne – in meinen Augen völlig zu Recht – dafür streiten, dass die Lufthansa gerettet wird, erwarte ich, ehrlich gesagt, dass auch die Union dafür streitet, dass wenigstens temporär die Ärmsten der Armen in unserer Gesellschaft angemessen unterstützt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Die werden angemessen unterstützt! Und das auch in normalen Zeiten!)
Wir erleben gerade einen wirklich historischen Einbruch unserer Wirtschaft. Er trifft Menschen, Unternehmen, Staaten weltweit. Für konjunkturelle Maßnahmen ist es angesichts der epidemiologischen Lage noch zu früh. Was jetzt aber klar sein muss, ist, dass es, wenn es möglich wird, ein großes Konjunkturpaket, ein großes Investitionspaket geben wird; denn die Unternehmen und die Beschäftigten brauchen Planungssicherheit, die brauchen Klarheit. Wenn wir schon den Zeitpunkt nicht festlegen können, dann muss man wenigstens deutlich machen: Es wird ein großes und umfangreiches Paket geben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Und was auch klar sein muss, ist, dass dieses Paket sich am Klimaschutz, am Green Deal orientieren muss. Die letzten Jahre waren die heißesten Jahre seit der Wetteraufzeichnung. Dieses Frühjahr ist bereits jetzt wieder deutlich zu trocken. Wir drohen in den dritten Dürresommer in Folge zu gehen. Deshalb: Wenn wir nicht wollen, dass das 21. Jahrhundert ein Zeitalter wird, in dem eine Krise die nächste überlagert, müssen wir aus dieser Krise lernen, dass man Krisen präventiv angeht. Das gilt insbesondere auch für die Klimakrise.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Und: Als Land im Herzen von Europa, als starkes Exportland, als starkes Industrieland, als Land, in dem die Autoindustrie eine unserer Leitindustrien ist, die auf funktionierende Lieferketten angewiesen ist, brauchen wir den Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union. Ich kann ja noch verstehen, dass man am Anfang der Krise, als man unsicher war, wie man damit umgeht, mit nationalstaatlichen Reflexen wie der temporären Exportbeschränkung für Medizingüter, die in Italien einen schweren Schaden psychologischer Natur angerichtet hat, reagiert hat. Wofür ich allerdings wenig Verständnis habe, ist, dass man jetzt, nach Wochen, immer noch keine vernünftigen eigenen Vorschläge präsentiert, wie man Europa finanziell und wirtschaftlich zusammenhält.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das habe ich doch gerade gesagt! Hören Sie doch mal zu! Vier Punkte!)
Dann wird immer wieder argumentiert, man müsste die Verträge ändern. Frau Merkel, das ist ein rechtlich tricky Argument. Sie wissen doch selber ganz genau, dass es den Artikel 122 AEUV gibt und dass es schon 1975 gemeinsame Anleihen gab. Und deshalb: Hören Sie auf, einen vernünftigen Recovery Fund mit einem entsprechend vernünftigen Wiederaufbaufonds und mit entsprechendem Volumen zu blockieren! Das ist das, was wir dringend brauchen, um die Europäische Union zusammenzuhalten, und zwar in unserem ureigensten Interesse.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Gute Nachricht, Herr Hofreiter: Es blockiert niemand!)
Allein VW bezieht circa 20 000 unterschiedliche Teiletypen aus Norditalien. Deshalb ist es unser ureigenstes Interesse, dass die Europäische Union zusammengehalten wird. Deshalb verschanzen Sie sich nicht hinter fadenscheinigen rechtlichen Argumenten, sondern sorgen Sie dafür, dass das getan wird, was notwendig ist. Und das ist ein starker Wiederaufbaufonds mit den nötigen Garantien; denn in Europa liegt unsere Zukunft, und dafür müssen wir es jetzt erhalten und gestärkt durch diese Krise führen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])
Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:
Nächster Redner ist der Kollege Achim Post, SPD.
(Beifall bei der SPD)