Rede von Annalena Baerbock Aktuelle Stunde „Israel und Palästinensische Gebiete“

Foto von Annalena Baerbock MdB
21.03.2024

Annalena Baerbock, Bundesministerin des Auswärtigen:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Mehr als 1 Million Frauen, Männer und Kinder sind in Gaza von katastrophalem Hunger bedroht. Das ist jeder Zweite, der dort lebt. Man kann sich das Leid – das haben viele Kolleginnen und Kollegen ausgedrückt – einer Mutter und eines Vaters kaum vorstellen, die nicht wissen, wie sie ihr Kind durch den nächsten Tag retten sollen. Ich glaube, viele von uns können sich diese Bilder kaum mehr anschauen.

In Israel warten Mütter und Väter seit mehr als fünf Monaten verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihrer Tochter, ihrem Sohn. Insgesamt sind es 134 Menschen, die die Hamas noch immer auf brutalste Art und Weise als Geiseln hält. Ich habe in Israel mit vielen dieser Angehörigen immer wieder gesprochen. Ehrlich gesagt, fehlten mir beim letzten Mal ein bisschen die Worte. Was sagt man einem gestandenen Mann, dessen zwei erwachsene Kinder, Tochter und Sohn, verschleppt wurden? Er kümmert sich jetzt um die Enkelin, die immer wieder fragt: Wann kommt Papa zurück?

Das Leid ist einfach unsäglich; deswegen weckt es so viele Emotionen, auch hier bei uns in Europa: Schmerz, Trauer, Wut, leider zum Teil Hass. Das erlebe ich auch bei all meinen Gesprächen in anderen Teilen der Welt. Dieses Leid stellt uns als Weltgemeinschaft auf eine schwere Probe, weil alle vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte auf dieses Leid schauen. Da ist das Richtig und das Falsch manchmal sehr, sehr schwer zu definieren.

Ja, auch ich tue das. Ich schaue auf diese Situation als Außenministerin eines Staates, der die historische Verantwortung für das schlimmste vorstellbare Verbrechen trägt: die Shoah, die systematische Ermordung von 6 Millionen Menschen, nur weil sie Juden waren, so wie es Eva Szepesi in der Gedenkstunde im Januar hier so eindringlich formuliert hat: nur weil ich Jüdin war.

Für Deutschland ist die Sicherheit Israels nicht verhandelbar. Das heißt für mich als deutsche Außenministerin, genau dafür überall auf der Welt immer wieder einzustehen, sich dem zu stellen, und zwar nicht nur in Sonntagsreden, sondern insbesondere immer wieder dann, wenn man den Vorwurf hört – ich zitiere –: „Bei Israel schaut ihr weg, da legt ihr andere Standards an.“

Egal ob ich mit meinen G-20-Kollegen zusammensitze oder mit einer Schulklasse hier in der Region: Staatsräson bedeutet für mich, gerade dann nicht zu schweigen, sich genau diesem Vorwurf der Doppelmoral zu stellen. Und deswegen sage ich hier, aber vor allen Dingen an all diesen anderen Orten sehr deutlich: Unser Standard ist klar. Unser Standard ist das Recht, unser Standard ist die Menschlichkeit, die uns leitet, und diese ist unteilbar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Israel hat wie jedes Land auf der Welt das Recht, sich gegen diesen Vernichtungsterror zu verteidigen, gegen einen Terror, der sich bewusst ganz gezielt hinter Zivilisten verschanzt, bewusst, um Zivilisten – Palästinenserinnen und Palästinenser – zu missbrauchen, mit dem Ziel, Israel zu vernichten, und zwar nach wie vor. Das äußern sie nach wie vor, immer wieder aufs Neue.

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Genau!)

Deswegen stehen wir zu unserer Verantwortung für die Sicherheit Israels und seiner Bürgerinnen und Bürger.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Und gleichzeitig – und es ist ein Und, kein Aber – stehen wir zum humanitären Völkerrecht. Auch das ist eine Lehre aus unserer Geschichte und den ungeheuren Verbrechen der SS und der Wehrmacht. Deswegen mache ich bei all meinen Besuchen und macht der Bundeskanzler bei seinen Besuchen gegenüber der israelischen Regierung klar, dass die Art und Weise, wie die israelische Armee, wie die israelische Regierung sich verteidigen, einen Unterschied macht, weil dies im Rahmen des humanitären Völkerrechts passieren muss, weil auch wir uns aus meiner Sicht der riesengroßen Sorge stellen müssen, wie bei einer möglichen Offensive in Rafah der Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten überhaupt ermöglicht werden kann – wissentlich, was Kollegen hier angesprochen haben: dass die Hamas sich genau dahinter verschanzt –, weil sich 1,5 Millionen Menschen nicht einfach in Luft auflösen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das Sterben, das Hungern – es muss ein Ende haben. Dafür braucht es einen humanitären Waffenstillstand, wie ihn gerade Katar stellvertretend für viele von uns versucht zu verhandeln, damit die Geiseln freikommen – das will die Hamas nicht; aber das muss passieren –

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Markus Herbrand [FDP])

und damit Hilfe nach Gaza kommt. Beides muss passieren; denn Menschlichkeit ist unteilbar.

Und ja, es wäre am einfachsten, das Leid einer Seite komplett auszublenden. Aber das lindert das Leid auf keiner Seite,

(Beifall des Abg. Max Lucks [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

und das wäre auch nicht unser Standard. Und ehrlich gesagt bin ich manchmal erschüttert in der politischen Debatte, wenn moralisch aufgeladene Forderungen, die rein ins Schwarz-Weiß verfallen, zu hören sind, offensichtlich nur mit dem Ziel, sich selbst angesichts dieses Leids besser zu fühlen – zum Beispiel, dass gar keine Hilfe mehr nach Gaza reinkommen könne, weil das nur Terrorunterstützung wäre, oder dass wir alle Kanäle mit Israel abbrechen müssten, weil ein Völkermord begangen werde.

Aber uns darf es doch nicht darum gehen, dass wir uns irgendwie moralisch besser fühlen, sondern uns muss es darum gehen, dass dieses Drama für beide Seiten endlich vorbei ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Ganz zu Beginn dieses furchtbaren Konfliktes hat mir ein Elternteil einer Geisel gesagt: Wissen Sie was – eigentlich hat sie es geflüstert –, mein geliebtes Kind – ein erwachsenes Kind – wird nicht dadurch zurückkommen, dass in Gaza eine andere Mutter ihr Kind verliert. – Es ist diese Menschlichkeit, die uns leitet.

Deswegen arbeite ich ohne Unterlass – und ich bin dankbar, dass das hier so deutlich hervorgehoben wurde – mit unseren Partnern stellvertretend für Sie alle, Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag, an jedem kleinen Schritt, den wir gemeinsam mit den USA und Großbritannien und den vielen arabischen Ländern jetzt konkret für jeden einzelnen Menschen erreichen können.

Seit dem 7. Oktober war ich sechsmal in der Region, und – einige haben es gesagt – ich werde am Sonntag erneut dorthin fliegen, um zu sehen, wie wir alle Hebel in Bewegung setzen können, so schwer und aussichtslos das gerade scheint.

Deswegen beteiligen wir uns an den Airdrops und unterstützen den Seekorridor über Zypern, wissentlich, dass eigentlich die Hilfe übers Land kommen müsste. Deswegen haben wir alles dafür getan, das SOS-Kinderdorf zu evakuieren, was Monate gedauert hat. Deswegen arbeiten wir insbesondere mit Katar, Ägypten und den USA daran, dass jede Geisel freikommt.

Denn, wie auch einige Kollegen gesagt haben, es geht darum, dass nicht nur der Krieg endet, sondern auch dieser jahrzehntelange Konflikt. Das leitet unsere, das leitet meine Bemühungen in der stetigen Pendeldiplomatie: zu überlegen, wie ein politischer Horizont aussehen kann, welche Garantien Israel braucht, damit ein 7. Oktober nie wieder passieren kann, wie wir dazu kommen, dass die Hamas ihre Waffen niederlegt, wie wir Sicherheitsgarantien für Israel geben können für all die Fragen, die hier aufgerufen wurden.

Und das Gute ist: Wir arbeiten da mit den arabischen Ländern zusammen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

wie ein Wiederaufbau, eine neue politische, administrative und Sicherheitsordnung in Gaza aussehen kann, weil auch die Menschen in Gaza unter der Hamas leiden.

Wir wissen alle: Die Widerstände gegen eine Zweistaatenlösung sind enorm. Wir wissen aber auch: Ohne eine Perspektive auf eine Zweistaatenlösung wird es keinen Frieden geben,

(Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: Genau!)

weil es nur Frieden geben kann, wenn es ihn für alle gibt.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)