Trainingslager: Der alte Mann und der Ball

17.05.2019

Trainingslager der Grünen Tulpe in Kienbaum – das bedeutet Schmerz, Erschöpfung, Verletzungen. Gnadenlos brennt die Sonne Brandenburgs auf das saftig grüne Geviert. Schatten unter den umstehenden Linden lockt die Tulpen. Nur wenige Meter sind es bis zum Schutz des Laubdaches, unter der nahen Bank glitzern die Wasserflaschen und etwas weiter hinter den Bäumen verspricht der See ein wenig Abkühlung. Aber Coach Toffi erlaubt noch keine Trinkpause. Die Tulpen haben ihre Laufwege im Spielaufbau noch immer nicht genügend internalisiert.

Warum tut sich das ein rationaler, intelligenter Mensch an? Nun, zunächst stellt sich an dieser Stelle angesichts der Lerngeschwindigkeit der Tulpen, ihre Lauf- und Passwege abzuspulen, die Frage, ob wir es mit rationalen, intelligenten Menschen zu tun haben. Aber viel schwerwiegender an dieser Frage ist der Teil der Frage, der nicht ausgesprochen wird: Warum tut sich das ein rationaler, intelligenter Mensch in diesem Alter an? (Anmerk. der Redaktion: Der Autor ist Ü40)

Erster Tag - Hoffnung

Er (die Tulpinnen entzogen sich auch in diesem Jahr wieder der Einladung zur Teilnahme am Trainingslager – vermutlich sind sie die rationalen und intelligenten Menschen) machte diesen Freitag früher Schluss und begab sich zum Bahnhof Friedrichstraße. Denn dort, wusste er, würde er den anderen alten Kämpen begegnen. Freunden und Mitspielern, Leidens- und Altersgenossen, Fußballverrückten. Solche, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, und den liebgewonnenen Montagsspielern. Er sehnte sich nach filigranem Fußball auf englischem Rasen, Fußball wie er früher einmal war, eleganten Dribblings und perfekt getimten Zuspielen.

Kaum in Kienbaum angekommen, nachdem die Zimmer verteilt und traditionelle Zimmerpartner ihre Doppelzimmer mit dem besonderen Geist von Kienbaum – der allemal mit dem von Malente mithalten kann – bezogen sind, stand er auf dem Platz zur ersten Trainingseinheit. Und nun begann – objektiv betrachtet – seine Leidenszeit.

Er genießt das Spiel. Sein Team gewinnt oder verliert, aber diese eine Szene, in der er seinen (bestimmt deutlich jüngeren) Gegenspieler elegant umkurvte und den Ball dann ins lange Eck schlenzte, diese Szene war schon das ganze Wochenende wert. Es geht eben doch noch!

Und immer wieder läuft er los, will den Angriff unterstützen oder den Konter abfangen, diesen großartigen (fast noch) Studenten, also quasi Jugendlichen, am entscheidenden Torschuss hindern. Die Beine werden schwerer, der Antritt braucht immer etwas länger als früher, Bauch und Rücken bremsen, wo er sie früher gar nicht bemerkte. Aber es fühlt sich gut an, seinen Körper mal wieder ganz zu spüren.

Morgen kommen zwei weitere Einheiten. Abends haben sich alle für zwei statt drei Einheiten entschieden – damit alle noch Bundesliga schauen können.

Zweiter Tag - Glaube

Am nächsten Morgen macht er seine ersten Schritte auf den Rasen etwas beschwerlicher. Die Matratze ist wirklich gut, aber beim Aufstehen merkt er schon, dass er seine Übungen wieder öfter machen sollte. Aber er wird sich nicht schonen. Er wird jeden Moment auf dem Platz spielen, wie wenn es der letzte sei. Und ja wirklich, es lohnt sich, manches wird besser, sein Körper beginnt sich alte automatisierte Bewegungsabläufe zu erinnern.

Wenn da nur nicht seine alte Verletzung wäre. Die stört ihn, aber allein schon sein Stolz verbietet ihm, sich etwas anmerken zu lassen. So läuft er zunehmender Erschöpfung entgegen, ignoriert den Schmerz, der seinen Körper mehr und mehr beherrscht.

Seine Füße sind längst eine Nummer größer als die Schuhe. Das ganze (Über-)Gewicht drückt den Fußbogen mit jedem weiteren Schritt in die Länge und Breite.

Seinen Miniskus im Knie hat er schon lange nur noch nominell, aber das neue Band hält gut. Dennoch hat er früher Müdigkeit nur im Kopf gespürt, gegen Ende der zweiten Einheit scheinen diverse Körperteile dringend zu verlangen, endlich in die Waagerechte zu dürfen.

Sein Rücken war morgens steif, wurde dann beweglicher, aber meldet inzwischen bei jedem Gedanken an einen Sprint Bedenken an und verlangt die zusätzlichen Meter genau abzuwägen. Vielleicht kann man den Ball viel besser weiter hinten abfangen, oder noch besser, der Mitspieler gewinnt ihn.

An Fersen, unter dem Fuß und den Zehen scheint sich eine Blase gebildet zu haben. So richtig rund sieht die Laufbewegung nicht mehr aus.

Aber was viel mehr weh tut: Seine alte Eleganz, die gestern und heute morgen noch hoffnungsvoll andeutete, wiederzukehren, verlässt ihn im entscheidenden Moment. Das leere Tor war einfach in der Überzahl!

Was seine Füße weiterträgt ist der Glaube, einzig und allein der unerschütterliche Glaube, dass alles wiederkommen wird.

Dritter Tag - Liebe

Morgens: Schon kurz vor dem Aufwachen spürt er den Schmerz. Am ersten Tag war es noch diese Stelle, das Gelenk, die Hautabschürfung. Am dritten Tag spürt er einfach nur noch den Schmerz. Aber so lange er den noch spürt, weiß er, dass er noch lebendig ist.

Den Vorgang des Aufstehens zerlegt er in mehrere Etappen, über die Seite rollt er sich zunächst auf die Bettkante, vorsichtig senkt er seine Beine auf den Boden. Das erfordert aber eine nahezu übermenschliche Anstrengung für die Rumpfmuskulatur, die nur noch übertroffen wird durch die Kraft, die er anschließend aufwendet, um sich mit den Armen von der Matratze in die Senkrechte hochzustemmen. Nun presst er alle Energie in Bauch und Rücken, um sich in aufrechtem Gang zum Fenster zu schieben und die Rufe des seit 5:30 Uhr ununterbrochenen Kuckucks auszuschließen. (Der alte Mann liebt die Natur, aber erst ab 8:30 Uhr.)

Beim Anziehen der Socken scheinen seine Füße fast unerreichbar weit entfernt. In die Sporthose kann er unmöglich hineinsteigen, also angelt er mit den Füßen in die zwei Hosenbeine und zieht sie im Sitzen hoch.

Doch als seine Füße schließlich wieder in seine Fußballschuhe passen und diese den Rasen des Platzes berühren, geschieht das Wunder. Er läuft, sein müder Körper vergisst die Schmerzen und auch von der Abschlusseinheit lässt er keine Minute aus.

Der Trick ist, dass es ihm eben nicht darum geht, sich wieder jung zu fühlen. Er tut einfach so, als wäre er noch jung.

Jenseits der Ziele, die er erreicht hat oder nicht, und jenseits seiner Familie, gibt es noch etwas im Leben, für das er bereit ist zu kämpfen. Und ohne das alles andere sinnlos würde. Das ist nicht Motor oder Treibstoff für Erfolg, darum geht es ihm hierbei gar nicht. Das ist was Bill Shankly meinte, als er sagte: „Es gibt Leute, die denken Fußball ist eine Frage von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist.“

Trainingslager – das ist ein Blinzeln der Unsterblichkeit!

Früher kämpfte der Mensch noch gegen Naturgewalten, und dabei zogen dem alten Mann noch einmal all seine Erfolge, Triumphe und Tragödien vor seinem inneren Auge vorbei. Heute, in unserer urbanen, industriellen, zunehmend virtuellen Welt begegnen uns die Naturgewalten allenfalls, wenn der Klimawandel uns wieder vor Augen führt, dass wir doch nur auf diesem einen Planeten leben und keine zweite Welt im Keller haben. Aber den Moment des ‚Warum‘, nicht den des schnöden ‚Wofür‘, muss der alte Mann heute anderswo suchen.

Schön war es. Nächstes Jahr gibt es wieder ein Trainingslager.