Rede von Claudia Roth 175 Jahre Paulskirchenversammlung

Foto von Claudia Roth MdB
11.05.2023

Claudia Roth, Staatsministerin beim Bundeskanzler:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Anfang meiner Amtszeit habe ich gesagt: Ich möchte die Staatsministerin für die Kultur der Demokratie sein. Deshalb liegt mir der 18. Mai 1848 so sehr am Herzen. Deshalb liegt mir die Paulskirche als Ort am Herzen, als Ort des Beginns der deutschen Demokratiegeschichte.

Was feiern wir, wenn wir an den 18. Mai 1848 erinnern? Und warum war dieses Datum so lange vergessen und kein selbstverständlicher Teil unserer Erinnerungskultur? Einheit und Freiheit – die beiden großen Themen der Revolution von 1848/49 –, beides zusammenzubringen, das war der Auftrag, mit dem die Abgeordneten der Nationalversammlung in die Frankfurter Paulskirche einzogen, mit dem klaren Ziel, die erste Verfassung zu erkämpfen – für das Recht, für die Selbstbestimmung, für die Demokratie. Tatsächlich ist das der Auftrag, der sich seither jeder Generation von Demokratinnen und Demokraten stellt, auch meiner: Einheit und Freiheit zu fassen zu bekommen, nicht als abstrakte Grundsätze, die wir nur immer wieder aufrufen, um uns nicht weiter erklären zu müssen, sondern ganz konkret.

Was heißt Einheit und Freiheit heute? Einheit in einer modernen Einwanderungsgesellschaft, die Bürger/-innen unterschiedlicher Herkunft, Kulturen, Religionen, Erfahrungen und Biografien einbinden will, heißt Vielfalt, heißt Vielfalt gewährleisten und demokratische Teilhabe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Für mein Amt heißt das, einem Kulturbegriff zu folgen, der nicht hierarchisch unterteilt zwischen Hochkultur und Popkultur, nicht in Metropole und Provinz, sondern Kultur breit und in der Fläche unterstützt. Gelingt das, bleibt auch die Einheit gewahrt – eine Einheit in Vielfalt und Freiheit, eine Einheit, die heute mehr Menschen einschließt als vor 175 Jahren, und eine Freiheit, die vielen gilt: die Freiheit des Wortes, der Presse, die Freiheit der Kunst, die Freiheit von Minderheiten, die Freiheit von sexuellen Identitäten,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der AfD)

ein Freiheitsbegriff, der auch die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen einschließt, wenn wir die Freiheit künftiger Generationen wirklich wahren wollen. Für beides, die Einheit und die Freiheit, gab es nie zuvor in der deutschen Geschichte bessere Voraussetzungen als heute, in unserer parlamentarischen Demokratie.

Als Gustav Heinemann sich als erster sozialdemokratischer Bundespräsident so vehement dafür einsetzte, die Erinnerung an 1848 wachzuhalten, traf er damals, 1974, noch nicht auf allzu offene Ohren. Für ein besseres Verständnis der eigenen Geschichte wäre es schlauer gewesen, ihm zuzuhören. Sein Großvater, so erzählte er einmal, hatte ihm noch den Refrain des berühmten Heckerliedes vorgesungen:

Er hängt an keinem Baume Er hängt an keinem Strick! Er hängt nur an dem Traume Der deutschen Republik.

Das war das Lied der Demokraten gegen die absolutistischen Herrscher, gegen den Kampfaufruf von König Friedrich Wilhelm IV. – ich zitiere –: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“. Tatsächlich war der Traum von Freiheit nie ausgeträumt. Er war auch im Revolutionsjahr 1848 nicht nur ein deutscher, er war ein europäischer Traum.

Der Traum von Freiheit wird niemals ausgeträumt sein. Er gehört wie die Demokratie zur DNA Europas, und er ist nicht etwa nur ein Kapitel europäischer Geschichte, er ist Gegenwart.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Natalie Pawlik [SPD] und Dr. Gero Clemens Hocker [FDP])

Die Losung der polnischen Freiheitskämpfer „Für unsere und eure Freiheit“ ist heute in Kiew zu hören. Eure Freiheit ist unsere Freiheit, und unsere Freiheit ist die Eure – das ist die Idee der Europäischen Union, des einzigen Versuchs eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenschlusses von Nationalstaaten. Mit allen Haken und Ösen, die dieser Versuch mit sich bringt, ist er die beste Idee, die Europa jemals hatte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Das wissen auch die Gegner Europas ganz genau, allen voran Wladimir Putin. Gegen sie gilt es den Traum von Freiheit zu verteidigen und die Ukraine zu unterstützen – für ihre und auch für unsere Freiheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Doch was heißt das für den Ort, für die Frankfurter Paulskirche? Es heißt, den Ort lebendig zu halten, diesen Ort zum Sprechen zu bringen. Es heißt, die Paulskirche nicht nur zu sanieren, sondern aus der Erfahrung des historischen Ortes Neues entstehen zu lassen, neue Räume der Diskussion, des Dialogs, Räume, die Demokratie erlebbar machen. Sie sind wichtig für unsere vielstimmige Gesellschaft, und sie werden in Zukunft noch wichtiger werden.

Deutschland ist diverser, ist vielfältiger, ist bunter geworden. Eine sich wandelnde Gesellschaft stellt neue Fragen an die Geschichte. Erinnerung in einer globalisierten Welt heißt Vielgestaltigkeit und heißt auch Kraft und Mut für Perspektivwechsel. Die Demokratie antwortet darauf. Sie will die Kontroverse, und sie braucht den Kompromiss. So wird sie erlebbar, so wird sie erfahrbar. So und nur so können wir sie als Gesellschaft lebendig halten, sie erneuern und jeden Tag mit aller Kraft, mit Mut und mit Überzeugung gegen ihre Feinde verteidigen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsidentin Bärbel Bas:

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Götz Frömming.

(Beifall bei der AfD)